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Max Winter

Die Katastrophe in Brüx

Teil 1: Arbeiter-Zeitung Nr. 200 vom 24. 7. 1895

Wien, 23. Juli.

Ein großes Unglück hält die Welt in Athem. Die Erde setzt sich in Bewegung, der Boden erzittert, und was fest und unverwüstlich schien, stürzt zusammen. Die Häuser schwanken in ihren Grundfesten und sinken bis zum Giebel im Erdreich ein, Menschen werden obdachlos, und Noth und Elend zieht dort ein, wo sonst betriebsamer Eifer geherrscht hat. Das große Unglück in Brüx beruht auf Umständen, welche die Wissenschaft schon längst erforscht hat. In einem Schachte der Brüxer Bergbaugesellschaft sind die Erdschichten oberhalb einer am Freitag abgebauten Stelle ins Rutschen gerathen, und in die durch Lostrennung entstandene Öffnung strömte der in der Gegend häufig vorkommende Schwimmsand ein. Durch diese eine Stelle geriethen die Sandschichten in der Umgebung in Bewegung, der Untergrund der nächsten Straße gerieth ins Wanken, es bildeten sich große Erdeinrisse, welche den Einsturz von Häusern bewirkten, indem sie die Tragfähigkeit des Bodens unterhöhlten. Immer stärker wurde die Strömung des tückischen Elements unter der Erde; der Boden worauf die Häuser stehen, wurde völlig unterwaschen und stürzte ein, die Häuser mit sich reißend. Die Katastrophe in Brüx ist nicht die erste; bereits im Jahre 1890 war durch Bewegung des Schwimmsandes – ein außerordentlich feiner Sand, der, mit Wasser erfüllt, die Konsistenz des Breies oder Honigs hat – ein freilich kleineres Unglück geschehen. Der Schwimmsand ist überall als einer der gefährlichsten Feinde der Bergarbeiter bekannt. Ergießt sich die breiige Masse, vielleicht durch ein Bohrloch für den Stollenvertrieb, in die freien Hohlräume, so wird die darüberliegende Schichte ihrer Stütze beraubt und sinkt langsam nach. Selbst ein Bohrloch von oben, von der Erdoberfläche, kann das Ausströmen des Schwimmsandes bewirken; eine Folge dieser Art war das bekannte Unglück in Schneidemühl. Es ist deshalb klar, welche große Vorsicht gerade in schwimmsandreichen Gegenden wie Brüx beim Bergbau nothwendig ist.

Die Katastrophe in Brüx steht in unmittelbarem Zusammenhange mit dem Bergbau im dortigen Becken. Nicht die Natur hat diese Verwüstung am Gewissen, es ist kein Unglück wie das Erdbeben in Laibach, wo die inneren, unerforschten Erdkräfte aller Menschenkraft spotteten. Die Unterwühlung des Bodens geschieht bewußt, planmäßig, denn es gilt, den Reichthum, welchen die Erde in ihrem Dunkel einschließt, ans Licht des Tages zu fördern. Der Bergmann fährt in die Grube mit täglicher, stündlicher Bedrohung seines Lebens ein, und die Arbeit, die er mit Todesgefahr verrichtet, erhöht noch die Gefahr für das Gemeinwesen; er bricht die Kohle und schafft sie empor, damit die freien Hohlräume mehrend, in die sich dann der Schwimmsand ergießt. Das geltende Recht beschränkt die Steigerung des Kohlenbetriebes in gar keiner Beziehung. Man kann ganze bewohnte Orte unterhöhlen, ihnen das Erdreich förmlich abgraben, den Abbau ins Ungemessene ausdehnen, die Gefahr eminent steigern: der Staat duldet das, denn die Produktion der Kohlen darf nicht gehemmt werden. Wie der Staat dem Besitzer der Grube nicht wehrt, den Arbeiter auszubeuten bis zur Erschöpfung, ihn nicht verpflichtet, das Leben der Arbeiter zu schützen, so stört der Staat den Grubenbesitzer auch nicht, wie weit er mit der Gefährdung der Sicherheit für die sein Produktionsgebiet umgebenden Orte gehen will. Die Grube und die Kohlenproduktion gehen allem voran; das Leben der Bergarbeiter und die Sicherheit ob der Erde müssen weit zurückstehen, wenn der Profit des Kohlenwerkes in Frage tritt. Der Bergbau muß ja lohnend sein, und der Staat muß alle Erwägungen zurückstellen, deren Verwirklichung etwa die Rentabilität der Grube mindern würde. So bewirkt diese Ordnung eine der grausamsten Ironien: der Bergarbeiter gefährdet sein Leben, wenn er in die Grube einfährt, und mit seiner Arbeit gefährdet er die karge Habe, die er oberhalb der Grube sein eigen nennt.

In das Gefühl trauriger Theilnahme, das man jedem großen Unglück entgegenbringt, mengt sich diesmal das brennende Gefühl der Schuld. Die Stadt Brüx ist förmlich auf Schwimmsand gebaut, und wie gefährlich diese Lage ist, hat eine frühere Katastrophe erwiesen. Trotzdem ist der Betrieb der Brüxer Bergbaugesellschaft nicht eingeschränkt, sondern dem leidenschaftlichen Spiele in diesen Aktien zuliebe unaufhörlich ausgedehnt worden. Der Staat läßt den Raubbau ruhig gewähren; wie er schweigend duldet, daß die Arbeiter im Schachte von allen Gefahren umzingelt werden, so duldet er auch, daß die Gefahr des Bergbaues für den Ort stetig zunehme. Die traurigen Lehren von Karwin und Ostrau blieben vergebens; trotz der letzten zwei schrecklichen Katastrophen ist nicht das geringste geschehen, um die Sicherheitsvorkehrungen zu verbessern und die Unternehmer zu ihrer Beachtung zu zwingen. Im böhmischen Landtag ist im Jänner vorigen Jahres der Antrag gestellt worden, beim Betriebe derartige Einrichtungen durchzuführen, daß nicht nur die persönliche Sicherheit geschützt werde, sondern daß auch Schutz gewährt werde den Wohnungen, Bauten, Wegen, Brunnen, Wasserflüssen, Quellen, kurz, daß nicht die Grube die Herrscherin über alle Einrichtungen werde. Natürlich ist aus dem Antrag ebensowenig geworden wie aus allen Anträgen, welche in ihren letzten Wirkungen den Profit der Bergwerksbesitzer schmälern könnten. Hier handelt es sich gar nicht um eine Sperrung der Schächte, sondern nur um eine Verminderung des Abbaues. Die Gewinnung der Kohle geschieht heute auf die irrationellste Weise; die Kohlenlager werden förmlich gebrandschatzt, um ja nur schnell große Profite aus den Gruben zu schlagen, gleichgiltig ob nicht dieser Raubbau, der die minderwerthige Kohle verwittern läßt, gerade die sachliche Ertragfähigkeit der Gruben mindert. Wenn man jetzt den schuldigen Theil, die Ausbeuter der Brüxer Bergbaugesellschaft, zur Ersatzpflicht heranzieht, daß sie das gutmache, was sie verschuldet, so ist das nur ein schwacher Trost.

Das Unglück in Brüx ist nur das Spiegelbild der trügerischen Ordnung, die unsere Zeit regiert. Der Kohlenreichthum der Erde ist für die Menschheit eine Wohlthat von unermeßlicher Bedeutung, aber zu welcher Plage verzerrt sie sich in der kapitalistischen Gesellschaft? Die Bergarbeiter, ohne deren Muth und Kraft kein Stück der schwarzen Diamanten verbraucht werden könnte, leben in Noth und Elend; sie sind allen Schrecken des Daseins und allen Gefahren des Todes ausgesetzt. Der rücksichtslosen Ausbeutung der Menschen reiht sich der Raubbau im Bergwerk an; die Gier des Profits peitscht den Unternehmer vorwärts, ohne Rücksicht auf die Sicherheit über der Erde, und bereitet Katastrophen vor, wie die letzte in Brüx war. Selbst der sachliche Besitz wird gefährdet; an Stelle einer rationellen, den Reichthum wohl ausnützenden Produktion tritt die kohlenverschwendende Plünderung des Erdreichs, die es vor der Zeit erschöpfen wird. So werden die Gaben der Natur zu Flüchen; was bestimmt ist, der Menschheit zu dienen, verdirbt sie. Wo die einzige Triebfeder der Egoismus ist, die bestimmende Ursache der Profit, ist eine weise, allen Gliedern der Gesellschaft nützende Arbeit unmöglich. Die Katastrophe in Brüx legt wieder einmal bloß, wie der Gewinn alle Rücksichten schlägt und bewältigt. Der Staat, berufen, hier kraftvoll einzugreifen, bleibt ruhig beiseite und läßt die Ausbeutung der Menschen und Gruben willig geschehen. Das Abgeordnetenhaus hat seine Session geschlossen, ohne auch nur Eines von den Versprechen, die ihm die letzte Katastrophe in Karwin erpreßt hatten, eingelöst zu haben. Das traurige Unglück in Brüx beleuchtet noch einmal die Größe seiner Schuld.

Teil 2: Arbeiter-Zeitung Nr. 201 vom 25. 7. 1895

Brüx, 23. Juli.

Elementarereigniß oder menschliches Verschulden: das ist die große Frage, die jetzt die Gemüther bewegt, nachdem der erste Schreck einer ruhigeren Auffassung der Dinge, die sich nun nicht mehr ändern lassen, gewichen ist. Das Volk, die Behörden und deren Organe sprechen von menschlichem Verschulden, die Brüxer Bergwerksdirektion leugnet es beharrlich und spricht von einem Elementarereigniß, und ihre Beamten wettern auf der Unglücksstätte herum, als wollten sie jedem den Zutritt verwehren, damit er das Geheimniß der gähnenden Schlünde nicht erfahre. Wer wird's ergründen? Vielleicht gar die Untersuchungskommission, die mit österreichischer Schnelligkeit heute, also nach dreieinhalb Tagen, daran gehen wird, die Ursachen zu erforschen. Es wird nicht viel herauskommen, und wer die Wahrheit über die Katastrophe ergründen will, wird guthtun, mit Bergleuten zu reden. Die haben das «Elementarereigniß» seit Jahren vorausgesehen; vor zehn Jahren schon haben diese simplen Arbeiter gewußt, daß sie ihre Wohnstätten untergraben und nun ist die Katastrophe eingetreten. Es ist eine merkwürdige Fügung, daß jene, die trotz ihres Berufes die Gefahr nicht kommen sahen, die dieser Gefahr nicht vorbeugten, nun sehr hart mitgenommen sind. Aber der größte Jammer ist auch hier nicht unter den reichen «Obdachlosen», sondern unter den Armen, den Bergleuten und den Fabriksarbeitern, welche die Gasgasse und die Johnsdorferstraße bewohnten, bei denen, die für den offiziellen Telegraphen gar nicht existiren. Nicht das Dutzend Reiche, die ihr Vermögen einbüßten, nein, die zweieinhalbtausend Armen, denen in der Schreckensnacht vom 19. auf den 20. d. alles geraubt wurde, was sie sich schwer und sauer genug erworben hatten, sind in erster und stärkster Hinsicht bedauernswerth. Ihnen muß rasche Hilfe gebracht werden, denn sie haben keine reichen Anverwandten und Freunde, die ihnen im Unglück beistehen, sie sind auf die öffentliche Hilfe angewiesen.

Der erste Eindruck.

Brandgeruch weht Einem entgegen, wenn man vom Bahnhof kommend der Stadt zuschreitet. Man kommt kaum zehn Schritte weit, und schon ist man mitten drin in dem Bilde der Verwüstung. Zur Rechten des Auffahrtsplatzes vor dem Bahnhofe mündet die Bahnhofstraße, die Straße der Vornehmen ein. Hier also war die reiche Welt von Brüx zu Hause? Trümmer zur Rechten, Ruinen zur Linken, Haufen von Ziegeln und Balken, die wie aus der Erde gewachsen an Stelle eines Palastes stehen – das ist alles. Die Straße ist abgesperrt, und gestrenge Veteranen mit aufgepflanztem Bajonnett auf einem alten Gewehr halten Wacht, daß keines Unberufenen Fuß diese Stätte betrete. Im Interesse der öffentlichen Sicherheit! Weitere Einsturzgefahr droht, meinen die Leute, aber es ist mehr die Furcht vor Dieben, die sie veranlaßt, so strenge Wacht zu halten; Dort wo die Häuser der armen Leute stehen, können wir passieren, und ein städtischer Telephonarbeiter bietet sich freiwillig als Führer an. Die Gasgasse zeigt er uns zuerst. Sie läuft parallel mit dem Bahnkörper und der Bahnhofstraße. Sie ist fürchterlich zugerichtet. Gleich zur Linken ist das Haus des Schmiedes Siegel. Die Fassade ist vornüber in einen tiefen Erdspalt gestürzt, das ganze Haus von links nach rechts verschoben, und man sieht in den beiden Stockwerken die Proletarierwohnungen bloßgelegt: aufgeschlagene Betten, wie sich's die Leute Freitag Abends eben zurecht gerichtet hatten, ein rothgeblumtes Tischtuch auf dem Holztisch, ein schwarzledernes Sofa, Kästen, kurz alles, was sonst in einer Proletarierwohnung zu finden ist. Schräg gegenüber, gegen die Johnsdorferstraße zu, ist ein tiefes Erdloch und daneben ein eingestürztes Haus, das ganz in sich zerfallen ist. Daneben wieder eines und gegenüber eins an der Ecke der Bahnhofstraße und der Gasgasse das Haus des Dr. Richter aus Prag, ein prächtiges einstöckiges Gebäude: es versank als erstes am Abend des Freitag vor den Augen der entsetzten Zuschauer in den Erdboden. Ein Dachaufsatz als Bodenluke ruht unversehrt auf dem Trümmerhaufen, zehn Meter tiefer ein Fauteuil mit grünem Plüsch überzogen, als Zeuge, daß auch in diesem Hause Wohlleben und Eleganz geherrscht. Unser Führer war Zeuge des Einsturzes. Auf die ersten Nachrichten hin, daß hier und dort Erdrisse sich zeigten, eilten die Feuerwehrleute und Polizeimänner in die gefährdeten Häuser, um die schlafenden Bewohner zu warnen. Aber schneller als die Warnung kam das Unglück heran. Nur nothdürftig bekleidet, stürzten die Leute aus den Häusern. Vor dem Richter'schen Hause stand eine große Menschenmenge, die allgemein den Einsturz des etwa dreißig Meter weit entfernten Hauses der Bergdirektors Fitz in der Bahnhofstraße erwartete. Der hintere Trakt dieses Hauses war nämlich schon vorher niedergegangen. Da durchzitterte plötzlich ein Krachen und Tosen die Luft, die Menge wich scheu zurück, und im nächsten Moment schlug eine dichte Staubwolke hoch empor, jeden Ausblick verhindernd. Als sich der Staub verflüchtigte, war das Richter'sche Eckhaus, das im Moment vorher noch tadellos war, vom Erdboden verschwunden. Entsetzt sahen die Leute dieses Zerstörungswerk einer Minute. Jetzt erinnerten sie sich, knapp vorher am Fenster im ersten Stockwerk eine Frau mit einem Kind am Arm gesehen zu haben, ein anderer wollte einen Feuerwehrmann auf dem Dache gesehen haben, nun war von den drei Personen keine Spur! Das waren aber nur Phantasiegebilde! Es ist vom Hause Richter und von der Brüxer Feuerwehr niemand abgängig. In der Schreckensnacht gab es freilich viele Vermißte, jeder stürmte, ans eigene Leben denkend, aus dem Bereich der Katastrophe hinaus auf die Felder, auf die Plätze der Stadt, aber am nächsten Morgen fanden sich die meisten wieder. Nur eine Matrone und ein Dienstmädchen sind noch abgängig. Den Leichnam eines Lehrjungen grub man gestern Früh gräßlich verstümmelt und ganz plattgedrückt aus den Trümmern. Er bewohnte bei den Eltern seines Meisters, des Schlossers Doleschal, mit anderen sieben Personen eine aus Zimmer und Küche bestehende Wohnung neben dem Hause des Direktors Fitz. Der arme Junge war übermüdet und bereits im festen Schlafe, als die Polizeileute die Bewohner alarmirten. Die sieben anderen Insassen hatten eben das Haus verlassen, als es zusammenbrach, den im Bette ruhenden Lehrjungen unter den Trümmern begrabend.

Die Ecke der Bahnhofstraße und der Johnsdorferstraße nimmt der Siegl'sche Gebäudekomplex ein. Das Hotel – in Pacht des Herrn Ruschka – ist total eingestürzt. Den Mann trifft großer Schaden. Am Samstag hätte eine «große Hochzeit» sein sollen, und er hatte um 1200 fl. Weine und Speisen auf Bestellung vorbereitet, in der Kasse hatte er sein Baarvermögen, dann sein Inventar, kurz alles, was er besaß, versank. Nur das nackte Leben rettete er. So ging es auch dem Spediteur Siegl, der nur einen ganz kleinen Theil seines Vermögens rettete. Das andere ruht tief unten in der Erde.

Gegenüber dieser Stelle führt zum Kreuzordenskonvikt die Hufeisengasse hinunter. Hier sind die Häuser des Weinhändlers Vogel, des Hopfenhändlers Fischer und des Oswald Schmid eingestürzt. Von der St. Wenzel-Volksschule steht die Fassade, im Innern ist das Gebäude zusammengebrochen, sonst sind alle Häuser in der Gasse schwer beschädigt, nur das Haus der Zentralbruderlade für Nordwestböhmen blieb bisher intakt. In einer der eisernen Kassen befinden sich noch Geld und Werthpapiere, sie können nicht herausgeholt werden, da die Kasse dreifache Sperre hat und die drei Schlüsselbesitzer sich in dem allgemeinen Wirrwarr nicht finden können.

In der Johnsdorferstraße sind noch die Häuser des Bäckers Seidel, des Wirthes «zum goldenen Kreuz», des Kaufmanns Krehann, des Kaufherrn Dissing und in der Verbindungsstraße zur Teplitzergasse die Häuser der Bergwerksdirektion und der nebenan Wohnenden zum Theil oder ganz zerstört.

Der Weg über die Unglücksstätten führt fortwährend neben tiefen Schlünden und Rissen, über eingesunkenes Pflaster, Ziegelhaufen, Balken und Möbelstücke. Ein Chaos, wie es ärger nicht gedacht werden kann. Aus dem Sieglschen Besitz steigen Gase auf, hier hat es fürchterlich gebrannt, und man konnte dem Element nicht bei. Es glimmt im Innern heute noch fort.

Die Obdachlosen? Sie sind recht und schlecht in öffentlichen Gebäuden, in Schulen, im Kloster und bei Privaten untergebracht. Unter Tags umschleichen sie mit betrübter Miene ihren Wohnsitz, aber ein gestrenger Herr Schreiber von der Bergwerksdirektion läßt mit Poltern und Schelten die Leute wegjagen von den Ruinen ihres Besitzes, und eine schneidige Kavallerie reitet ganz so wie anderswo in die Menge.

Nun noch kurz eine Liste der eingestürzten Häuser:

Johnsdorferstraße: ein Haus, Stratol; zwei Häuser, Waschirowsky (dieser besaß auch ein zweistöckiges Gebäude, das bis zum Dachstuhl in den Boden versunken ist. Hier befand sich auch die Restauration «zur Eisenbahn»); ein Haus, Hopfenhändler Fischer; ein Haus Oswald Schmid; ein Haus, Weinhändler Vogel; ein Haus, Bäcker Seidel, Gasthof «zum Kreuz» (in der Mitte geborsten, zum größten Theil versunken).

Gasgasse: ein Haus, Direktion der Brüxer Bergbauggesellschaft; ein Haus, Schmied Siegel; ein Haus, auf der linken Seite total versunken.

Bahnhofstraße; zwei Häuser, Hotelier Siegl; drei Häuser, Hiecke (zwei Hofgebäude und das Vordergebäude); ein Haus Dr. Richter; ein Haus, Bergdirektor Fitz (rückwärtiger Theil).

Außerdem sind schwer beschädigt, wie zum Theil geschildert: alle sieben Häuser «Am Taschenberg», wo nur Arbeiter wohnen, fünf Häuser in der Gasgasse, acht Häuser in der Hufeisengasse, fünf Häuser in der Bahnhofstraße; endlich der Bahndamm, der in der Strecke Brüx-Komotau zum Theil eingestürzt ist.

Das ist die Bilanz der Brüxer Katastrophe, die hervorgerufen ist einzig und allein durch die Profitwuth der Unternehmer. Welcher Schaden aus dieser Katastrophe der unterminierten Stadt Brüx für alle Zukunft noch erwachsen wird, ist heute unberechenbar, und nur in einem Wunsche treffen sich die Gedanken aller: Es möge des Unglücks nun genug sein.

***

Brüx, 24. Juli.

Wenngleich eine gewisse Beruhigung platzgegriffen hat ist doch der Jammer noch immer ein großer. Verschüchtert von Noth und Elend, wagen sich viele der um das bischen Hab und Guth gekommenen Proletarier gar nicht auf die Gasse. Sie sitzen dumpf brütend in den nothdürftigen Unterschlupfen; die sie bei anderen Familien gefunden haben. Sechs, acht und selbst zehn Personen theilen oft einen Raum, der kaum für drei genügt. Die Wohnungsnoth ist eine allgemeine, mußten doch über Nacht neben tausenden von Fremden, die aus allen Richtungen der Windrose herbeigeströmt waren, 2285 Obdachlose untergebracht werden. So hoch ist nämlich die nun genau festgestellte Anzahl der Opfer.

Seit Vormittag gibt das Hilfscomité, das seinen Sitz im Rathause hat, Passagierscheine für die abgesperrte Unglücksstätte zum Preise von je einem Gulden aus. Die Scheine gehen reißend ab.

Ich habe mit einem erfahrenen Bergmanne, der zwanzig Jahre seines Lebens in der Tiefe zugebracht hat, die Unglücksstätte besichtigt, um seine Meinung darüber zu hören, was er als praktischer Fachmann für die Ursache halte. An den Konturen der Verbrüche erkannte er, daß es durchwegs «Pläne» waren, die niedergegangen sind, und zwar Pläne, von deren Existenz die Vermessungsingenieure keine Ahnung hatten, oder von denen sie nichts wissen wollten, um die Bevölkerung nicht zu «beunruhigen». Aber noch immer wäre das Unglück ein viel kleineres gewesen, wenn nicht durch den Bruch der Wasserleitung der Schlemmsand in Bewegung gerathen wäre und sich einen Durchbruch verschafft hätte, angesichts der zahlreichen Verbrüche an Stellen, die von den Ingenieuren als nicht gefahrdrohend angesehen wurden, während andere abgesteckte «Pläne» nicht zusammenstürzten. Wohl aber brach das Erdreich hart am Rand eines solchen «Plans» zusammen und sank 20 Meter tief.

Das Verschulden trifft also unter solchen Umständen die Brüxer Bergwerksdirektion. Aber selbst wenn das nicht der Fall wäre, wäre die Bergwerksdirektion nach einer allgemeinen juristischen Auffassung ersatzpflichtig, denn der Einsturz ist auf jeden Fall eine Folge des Betriebes und keine Vis major, wie die Leute von der Bergwerksdirektion glauben machen wollen.

Teil 3: Arbeiter-Zeitung Nr. 202 vom 26. 7. 1895

Brüx, 24. Juli, Mittags.

Die große Kommission hat gesprochen und hat, wie der offizielle Telegraph Ihnen bereits meldete, eine sehr bezeichnende Anordnung getroffen. Oberbergrath Zechner, der Leiter der Untersuchung, telegraphierte an das Ackerbauministerium wörtlich: « Da unter den Einwohnern der Stadt Gerüchte zirkulieren, daß Strecken und Abbaue unter die Stadt getrieben seien, hat Oberbergrath Zechner die Anordnung getroffen, daß durch eine Schachtabteufung und durch Untersuchung der Strecke genau konstatirt werde, wie weit der Streckenbetrieb und der Abbau an den Sicherheitspfeiler heranreichen, der bei der Verleihung des Grubenfeldes behördlich festgesetzt worden ist.» Dadurch ist schon von Haus aus ausgesprochen, daß die Kommission annimmt, die Abbaue seien nicht bis unter die Stadt selbst getrieben. Der Sicherheitspfeiler, von dem in dem Telegramm die Rede ist, ist außerhalb der Stadt, 40 Meter weit vom Bahnkörper entfernt, markiert, und nur bis dorthin hätte abgebaut werden sollen. Wie nun die Bergleute versichern, diejenigen, die jahraus jahrein in der Grube zubringen, ist dieser Sicherheitspfeiler schon längst überschritten, und es sind direkt unter der Stadt «Pläne» (Abbaue). Diese sind nun niedergegangen. Daß «Pläne» dem «Landdruck» weichen und niedergehen, ist eine sehr häufige Erscheinung, die immer dann eintritt, wenn die 4 Meter dicken Stützpfeiler, die zwischen den einzelnen Plänen stehen bleiben, im Laufe der Zeit sich abbröckeln und schließlich den Druck des Erdreiches nicht aushalten und zusammenfallen. Außerhalb Brüx, auf dem freien Felde, das sich gegen Tschausch zu ausdehnt, ist ein eingegangener Plan neben dem anderen, und heute stellen sich alle diese, die zum Karolyschacht gehören, als Mulden dar, die mit Wasser gefüllt sind. Und solche «Pläne» sind auch unter der Stadt gewesen und nun niedergegangen. Dies behaupten, wie ich Ihnen bereits geschrieben habe, Bergleute, die die Unglücksstätte besichtigten und sie stützen ihre Ansicht darauf, daß nicht die ganze von der Katastrophe betroffene Partie der Stadt verbrochen ist, sondern, daß «Pfeiler» stehen geblieben sind. Dies ist auch sehr glaubhaft. Es zeigt sich bei Besichtigung der Unglücksstätte de facto, daß ein Haus zum Beispiel im rückwärtigen Theil zur Hälfte einstürzte, daß mithin drei Viertel des Hauses stehen geblieben sind. Diese «drei Viertel» standen offenbar auf einem intakt gebliebenen Pfeiler, während das letzte niedergegangene Viertel auf einem «Plan» ruhte. Daneben aber sieht man wieder große Partien, wie der hart an der Bahn gelegene Komplex des Steinmetzmeisters Waschirowsky, dessen zwei Häuser vollständig in die Erde versanken, oder die Partie der Siegel'schen Häuser, wo die Vermuthung gerechtfertigt ist, daß mehrere «Pläne» neben einander niedergegangen sind. Aus diesen Beobachtungen geht hervor, daß einzelne Theile des Katastrophenviertels auf fester Grundlage gestanden sind, also auf Pfeilern, während andere wieder direkt über einem Hohlraum, der durch den Abbau entsteht, standen. Diese letzteren sind nun eingegangen, während die Partien, wo die Stützpfeiler intakt sind, stehen blieben.

Viel weniger glaubhaft dagegen klingt die Annahme der Kommission, daß durch den Einsturz des einen Planes hart an dem Sicherheitspfeiler außer der Stadt der unter der Stadt in einer Mulde ruhende Schlemmsand in Bewegung gerieth und dadurch der Einsturz erfolgte. Wäre dies wirklich der Fall, so hätte ja die ganze von der Katastrophe betroffene Partie der Stadt niedergehen müssen, da ja auf dem Hohlraum, der durch den Abfluß des Schlemmsandes entstanden wäre, der gleiche «Landdruck» gelegen wäre. Dennoch ist es richtig, daß Schlemmsand in Bewegung gerathen ist, denn sonst wäre ja der Schacht nicht verschlemmt worden. Wir sehen also zwei Erscheinungen neben einander, die sich als Ursache und Wirkung darstellen. Der kurz aufeinanderfolgende Einsturz mehrerer Abbaue ist die Ursache, aus der sich die Bewegung des Schlemmsandes erklärt. Die Folge dieser Bewegung ist aber nicht der Einsturz der Häuser, sondern dieser ist lediglich eine Folge des Niedergehens der «Pläne». Der Abfluß des Schlemmsandes stellt sich also nur als eine durch das Niedergehen der «Pläne» erwirkte Begleiterscheinung dar und nicht als direkte Ursache des Einsturzes.

Wir wollen also im Gegensatze zur Kommission festhalten daß sich unter der Stadt «Pläne» befinden, wir wollen den Bergleuten glauben, die Tag für Tag in die Tiefe steigen müssen und die Strecke ablaufen bis an ihr Ende, und nicht den Vermessungsingenieuren, die sich ihre Arbeit sehr leicht machen, die die Bergleute auslachen, wenn diese ihnen sagen, sie hören die Wagen der Stadt über ihrem Arbeitsort, sie hören das Orgelspiel der Kirche unten in der Tiefe und die aus diesen Erscheinungen deduziren, daß sie unter der Stadt arbeiten. Den Bergleuten wollen wir glauben, die zwar keinen Kompaß und keine Vermessungsinstrumente haben, wohl aber durch die jahrelange Arbeit jeden Gang im Bergwerk kennen, sich nach allen Richtungen hin orientieren und die ihr «Schrittmaß» haben, so daß sie die Entfernungen nach allen Richtungen hin genau zu schätzen wissen. Wir wollen den Bergleuten glauben, weil diese Tag für Tag seit vielen Jahren viele Stunden unter Tag zubringen, während die Ingenieure nur wenige Stunden im Werke zubringen, und diese natürlich nicht an einem eng begrenzten Orte, mithin sie nie so intim so kleine Stellen beobachten können. Endlich ist den Bergleuten schon darum mehr zu glauben, weil sie schon seit zehn Jahren behaupten, die Stadt sei unterminirt und sie werde eines Tages einstürzen. Diese von einfachen Arbeitern vorhergesehene Katastrophe ist nun eingetreten, und sie konnte diese nicht überraschen, wohl aber waren die Herren Ingenieure und die Brüxer Bergbaugesellschaft sowie die Bergbehörden von der Katastrophe überrascht und schlagen nun rathlos die Hände über dem Kopf zusammen. Darum glauben wir den einfachen Bergleuten, weil alle ihre Voraussetzungen eingetroffen sind, während die «maßgebenden» Faktoren heute noch nicht an ihre eigene Sorglosigkeit und an die bösen Folgen dieser glauben. Die Arbeiter haben etwas vorher gewußt, die «Maßgebenden» und die «Verantwortlichen» nichts. Und da liegt der Hund begraben.

Diese Erkenntniß scheint nun den Behörden endlich auch aufzudämmern, denn sonst hätten sie auf die «Gerüchte» hin, die in der Stadt zirkuliren, daß Strecken und Abbaue unter die Stadt getrieben seien, sonst hätten sie auf diese Gerüchte hin nicht die Anordnung getroffen, daß durch eine Schachtabteufung und durch Untersuchung der Strecke genau konstatirt werde, wie weit der Streckenbetrieb und der Abbau an den Sicherheitspfeiler heranreichen. Das ist eine sehr kostspielige Sache, umsomehr, als durch den entstandenen Schaden, den sie voll zu decken hat, die Brüxer Gesellschaft ohnehin schon zu zahlen hat, daß sie schwarz wird. Hätten die Leute schon vor zehn Jahren den Arbeitern geglaubt, hätten sie damals eine ehrliche Vermessung der Strecken und Abbaue vornehmen lassen, und hätten sie damals schon den Behörden ehrlich einbekannt, daß sie ihr Grubenfeld überschritten haben, die Mehrzahl der fast durchwegs neuen Häuser, die nun zusammengestürzt sind, wäre gar nicht gebaut worden. Aber nein! Wer wird denn einem so simplen Arbeiter glauben, der versteht nur zu robotten, von etwas anderem hat er keinen blauen Dunst; das wissen die Ingenieure im kleinen Finger besser, auch dann, wenn sie in der Vermessung saumselig sind. Und die Brüxer Bergwerksdirektion? Die war ebenso unverantwortlich vertrauensselig gegen die Ingenieure wie die Behörden, was schon daraus hervorgeht, daß die Direktion dieser Gesellschaft ihr Haus selbst auf den unterminirten Grund gebaut hat, daß der Bergwerksdirektor Fitz mitten im eingestürzten Gebiete sein Haus hatte. Bergarbeiter behaupten, daß die gesetzlich vorgeschriebenen Nachmessungen der Bergbaupläne durch Ingenieure des Bergamtes fast gar nicht erfolgen, und daß sich staatliche Bergbau-Ingenieure überhaupt nur dann in den Gruben blicken lassen, wenn ein Unglück geschehen ist. Würde das Bergamt seine Aufgaben mit dem Ernst auffassen, der der Sache entsprechend ist, so wären seine Beamten gewiß nicht auf so freundschaftlichem Fuße mit den Vertretern des Kapitals, das Bergbau treibt, als dies faktisch der Fall ist. Die Brüxer Bergwerksgesellschaft und das Brüxer Revierbergamt sind gar gute Freunde. Die thun sich einander kein Leid an. So und nur so ist es möglich, daß die Arbeiter seit Jahren tauben Ohren predigten, daß man sie Dummköpfe schalt wenn sie Beobachtungen mittheilten, die sie unten in der Tiefe gemacht hatten, wenn sie vor Gefahren warnten.

Wie wird unterstützt?

Und wer wird das Bad ausgießen? Nur wieder diese Dummköpfe; sagte doch eine «vornehme» Dame der Stadt Brüx, die Frau des Chefarztes der Zentralbruderlade für Nordwestböhmen, Dr. Kraus, heute Morgens zu ihrem Dienstmädchen: «Die arme Bagage, die ist leicht betheilt, 20.000 fl. reichen zu; aber die, welche Häuser, Möbel, und Geld drin ließen, sind zu bedauern.» Die «arme Bagage», freilich, das weiß man ja, daß die Leute so denken, und sie handeln ja auch schon gegenwärtig danach – der «armen Bagage» fordert man einen Arbeitsnachweis ab bei Unterstützungen, der armen Bagage droht man mit dem Schub zu allem Unglück das sie schon betroffen hat, kurz, diese arme Bagage behandelt man so, als würden sie aus ihrem Unglück ein Geschäft machen. Die Prager «Politik» schrieb hiezu: «Die verunglückten Einwohner böhmischer Nationalität, die meist in der hiesigen Volksschule der «Ustredni Matice skolska» untergebracht sind, haben sich an das bereits zusammengetretene Hilfscomité um Unterstützungen gewendet. Ihr Ansuchen wurde jedoch seitens des Comités mit der schroffen Bemerkung abgewiesen, sie mögen sich durch Arbeit die nöthigen Geldmittel zu verschaffen suchen. Dieses Vorgehen des Comités hat in den hiesigen böhmischen Kreisen große Erbitterung hervorgerufen, und die in den letzten zwei Tagen massenhaft hier angelangten Böhmen haben sofort Geldsammlungen unter sich veranstaltet und zur Milderung der Nothlage, in der sich die unglücklichen Landsleute befinden, reichlich beigetragen. Es möge dies unserer Bevölkerung zum Anlaß dienen, das Vorgehen des hiesigen Hilfscomités zu paralysiren». – Das ist der zahme Ton, den die bürgerliche «Politik» anschlägt, angefacht von nationalem Eifer, und dies empört noch die nationale Kläfferin «Brüxer Zeitung» so sehr, daß sie von der «Politik» als von einem «Saublatt» und von dem Reporter als von einem «Schandbuben» in einem Antwortartikel spricht. Dennoch läßt sich nicht leugnen, daß das Hilfscomité seine Pflicht in vieler Beziehung nicht erfüllt. So wurde heute eine uns bekannte Frau, Witwe, Mutter von sechs Kindern, von einem alten Comitéherrn mit den Worten weggeschickt: «Sie sind eine Tschechin, kommen Sie morgen.» Eine zweite Tschechin bekam gleichfalls nichts. Unter solchen Umständen ist es nicht zu verwundern, wenn die Leute gegen das Comité verbittert sind.

Die Ersatzfrage.

Die großen bürgerlichen Blätter haben sich beeilt, so viel ich heute lese, in der unverschämtesten Weise dem Publikum plausibel zu machen, daß eine Schadenersatzpflicht für die Brüxer Kohlenbergbaugesellschaft nicht vorliegt. Das «Prager Tagblatt» hat sich darin besonders hervorgethan, was in der Bevölkerung des Brüxer Kohlenbeckens begreiflicherweise höchste Entrüstung hervorrief. Ein Gutes hat diese schnöde Haltung der feilen Presse aber, weil auf diese Weise, der sonst so viel umworbene Mittelstand, der ja zum Theil mitbetroffen ist von der Katastrophe, einmal am eigenen Leibe die Segnungen des Kapitalismus und seiner Presse spürt. Ich habe mich sofort mit einem Juristen in Verbindung gesetzt, der viel in bergrechtlichen Angelegenheiten zu thun hat, und dieser gab mir über die Ersatzfrage folgende Aufschlüsse, die geeignet erscheinen, beruhigend auf die 2462 Delogirten zu wirken.

«Beruhigend,» führte mein Gewährsmann aus, «muß ja schon der Umstand auf die Leute einwirken, daß diese Presse von ihrem Herrn selbst bereits desavouirt wurde. So ließ der Bergdirektor Biehl in der am 22. d. hier abgehaltenen Beschwichtigungsversammlung erklären, daß die Gesellschaft das Möglichste zur Gutmachung des Schadens thun werde. Daß aber der Verwaltungsrath der Brüxer Gesellschaft nicht aus reiner Liberalität zwei Millionen Gulden hergeben wird, liegt wohl auf der Hand. Er ist sich vielmehr offenbar gleichfalls dessen bewußt, daß er hiezu gesetzlich verpflichtet ist. Auf diese Auffassung ist auch der Rückgang der Börsenkurse (ich glaube um zirka 100 fl.) zurückzuführen, da der Schaden, der die Gesellschaft an ihren Objekten getroffen hat, ein sehr geringer ist.»

Die Anschauung, daß der Bergbauunternehmer zum Ersatz des Schadens verpflichtet ist, der durch den Bergbau verursacht wurde, ist im Gesetze wohlbegründet. Von der Judikatur und in der Theorie allenthalben anerkannt, wurde diese Schadenersatzpflicht eine Folge des Rechtsgrundsatzes: «Alterum non laedere.» Wiewohl der Verwaltungsgerichtshof in einem Urtheil vom 17. Juli 1886 sich ausgesprochen hat, daß dem Unternehmer der Bergbaubetrieb dort sogar untersagt werden kann, wo eine Gefährdung des Eigenthums vorhanden ist, so geht im Gegensatze hiezu die Berg- ebenso wie die Gerichtsbehörde davon aus, daß man den Bergbau nicht soweit einschränke, weil dieser vielfach sonst unmöglich wäre, nachdem beim Bergbau, zumal beim Abbau der Braunkohle, nothwendig die Grundstücke zum Theil zu Bruch gehen müssen. Es herrscht mit anderen Worten die im Gesetze nicht begründete und auch nicht zu rechtfertigende Anschauung, daß der Unternehmer das Recht habe, den Grundeigenthümer durch den Betrieb zu beschädigen. Es ist klar, daß eine solche Begünstigung die größten Ausschreitungen veranlaßt und in dem Unternehmer die Meinung hervorrufen muß, er könne ad libitum beschädigen, wenn er nur ersetzt.

Dem angemaßten Schadenszufügungsrechte gegenüber steht die Pflicht, den entstandenen Schaden zu ersetzen, gleichgiltig, ob den Unternehmer ein Verschulden trifft oder nicht. Es genügt die bloße Verursachung des Schadens durch den Bergbaubetrieb. Von Seite der Unternehmer wird häufig der vergebliche Versuch gemacht, die Beschädigung auf «Elementarereignisse» dann zurückzuführen, wenn die durch den Betrieb entfesselten Naturkräfte mit elementarer Gewalt zur Geltung kamen. Es genügt wohl zur Widerlegung der Beweis, daß diese sogenannten «Elementarereignisse» eben heraufbeschworen wurden, während bei der «vis major» dieses Moment nicht vorhanden sein darf.

Die oben angeführte Begünstigung des Bergbaues, fremdes Eigenthum beschädigen zu dürfen, ist eine singuläre. Die Haftpflicht hingegen ist keine ausnahmsweise, sondern gilt allgemein. «Es gibt eben eine Anzahl von Haftfällen, in denen jemand sich durch die Ausübung seines Rechtes verantwortlich macht. Wer auf seinem Grund gräbt, übt sicherlich sein Eigentumsrecht aus, wenn aber dadurch das Nachbarhaus seine Grundvesten verliert, so wird er schadloshaltungspflichtig.» (Krainz, Seite 343.) Diese Schadloshaltung ist überhaupt nur ein Gebot der Gerechtigkeit, denn sonst sind die Grundeigenthümer den Exzessen der Bergbau-Eigenthümer schutzlos preisgegeben.

Nach dem Referentenentwurf vom Jahre 1876, der der letzte Reformversuch war, sollte der Machtkreis der Unternehmer einigermaßen eingeschränkt werden, allein man zauderte bisher, die Sache ernstlich in die Hand zu nehmen aus naheliegenden Gründen: den Grubenbaronen will man eben nicht wehethun.

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Brüx, 25. Juli

Wie das Hilfscomité, das bis nun 160.000 fl. baar erhalten oder in sichere Aussicht gestellt erhalten hat, die obdachlosen Proletarier unterstützt, lehren einige Beispiele. Der Arbeiter Rubes, der um seine ganze Habe gekommen ist, bittet wegen Hunger um eine Unterstützung. Die Herren vom Comité zucken aber nach seiner Anhörung die Achseln und meinten: «Das geht nicht mehr! Sie müssen selbst für Ihren Unterhalt sorgen, sonst gibt's den Schub.» Der Mann ist nämlich zum Ueberfluß auch nicht nach Brüx zuständig.

Ein zweites Beispiel: Ledige Arbeiter, die in Folge der Katastrophe gleichfalls obdachlos geworden sind und die ihre Arbeit verloren haben, erhalten keine Unterstützung. Motivierung: «Gehen Sie wo anders hin in Kost!» Wohin? Das wissen die hochweisen Herren vom Comité offenbar selber nicht.

Ein drittes Beispiel: In den Schulen, wo Leute bequartiert sind, ging ein Wachmann herum und «rieth» den Proletariern, sie möchten trachten, Arbeit zu bekommen, sonst würden sie auf den Schub geschickt werden.

Einen weiteren Proletarier frugen gestern die vertheilenden Hilfscomiteterer: Ja, haben Sie denn heute keine Arbeit, daß Sie betteln kommen? Und als der Mann meinte, er müsse doch zunächst beachten, auf kurzem Wege sich Brot zu verschaffen, da er ohne Essen nicht arbeiten könne, verweigerten ihm die Herren vom Comité jede Unterstützung und meinten: «Am morgigen Tage bekommen Sie erst recht keine Unterstützung, wenn Sie nicht arbeiten.»

Solche Fälle sind nicht vereinzelt, und es ist unter solchen Umständen kein Wunder, daß die Leute ungemein verbittert sind und dieser Verbitterung auch hier und dort lauten Ausdruck geben. Leider ist hier die Arbeiterbewegung durch nationale Reibereien zerklüftet und ein einiges Vorgehen nicht zu erzielen. Nicht einmal der gemeinsame Aufruf ist von Seite der tschechischen Fraktion (zum Theil Unabhängige) akzeptiert worden. Diese sandte gestern auf eigene Faust Sammelbogen aus, die schon die Bewilligung des Bezirkshauptmannes tragen. Die Zuströmung von Fremden ist noch immer eine große.

Teil 4: Arbeiter-Zeitung Nr. 203 vom 27. 7. 1895

Brüx, 25. Juli

Noch immer sind die Gemüther in großer Erregung, wie sich dies in kleinen Vorfällen zeigt. So hieß es heute Mittags in der Stadt, in der Teplitzerstraße seien behördliche Delogirungen vorgenommen worden, da die Einsturzgefahr eine drohende sei. Glücklicherweise war dieses Gerücht eben nur ein Gerücht. Schaarenweis strömten die Einwohner und Fremden nach der Teplitzerstraße, um Zeuge zu sein bei einem eventuellen neuen Unglück, aber für die Schaulust gab es nichts. Einige überängstigte Proletarierfamilien hatten, als sie einen kleinen, kaum 2 Millimeter breiten und 2 Meter langen Sprung im Verputz einer Mauer bemerkten, in der Sorge um ihre Habe diese sofort auf die Straße geräumt. Aber diese Vorsicht war übereilt, da noch während der improvisirten Selbstdelogirung ein Baumeister konstatirte, daß dieser Sprung nicht die Wand selbst, sondern nur die über den Ziegeln lagernde Mörtelschicht berühre. Die Sprungstelle ist an der oberen Kante einer Thürvermauerung, dort wo der Thürstock in die Mauer eingefügt ist. Trotzdem erhielt sich dieses Gerücht auch noch am Nachmittag, und die Leute hielten daran fest, daß der Teplitzerstraße neue Gefahr drohe.

Diese scheint nunmehr überhaupt beseitigt, obwohl auf dem Einsturzgebiete der Stadt noch weitere Einstürze und Senkungen erfolgen dürften, wie mir ein Ingenieur erklärte, mit dem ich heute Abends Gelegenheit hatte, zu sprechen. Dieser war einer der ersten auf dem Platze, als die Katastrophe hereinbrach, und seinem Eingreifen ist es zum Theil zu danken, daß so wenige Menschenleben der Katastrophe zum Opfer fielen. Zwar dachte der Ingenieur zunächst an ein Erdbeben, aber bald erkannte er, daß andere Ursachen vorliegen, deren weitere Folgen von furchtbarer Wirkung sein mußten. Darum war es sein Erstes, die Bruchstelle zu untersuchen. Er kroch auf dem Bauche zu den gefährdeten Stellen, damit er im Fall eines plötzlichen Einsturzes nicht allzu harten Schaden an seinem Körper nehme, und untersuchte in der Eile das Terrain. Ehe er an einen Rückzug denken konnte, stürzte hinter ihm die Rückfront eines Gebäudes ein, und nun suchte er über die Trümmer hinweg einen Rückzug. Dieser Ingenieur ist gleichwie die Kommission der Ansicht, daß die Strecken des Anna-Schachtes nicht bis über die behördlich fixirte Grenze getrieben sind, welche Ansicht er allerdings nur aus den Plänen schöpft, die der Bergbaugesellschaft vorliegen. Aus eigener Anschauung kennt er die Strecken und Abbaue des Anna-Schachtes, insoweit sie weiter vorgeschoben sind, nicht, und auch er hält, wie alle seine Kollegen, die Ansicht der Bergleute für Schwätzerei. Ich habe in den Mittags gesandten Zeilen bereits die Ursachen von beiden Gesichtspunkten aus beleuchtet. Der Ingenieur verficht den Standpunkt, daß nur durch die Bewegung des Schlemmsandes Hohlräume entstanden, wodurch der Einsturz erfolgte, da das ganze Gebiet, auf dem die eingestürzten Häuser stehen, auf Sand gebaut ist. Die Bruchwirkungen mußten rapid erfolgen, wegen der lockeren Beschaffenheit des Sandes, sie mußten auch ohne jedes Geräusch erfolgen, da der Sand keine feste Masse bildet. Die indirekte Ursache war jedenfalls der Abbau, die direkte Ursache der in Folge des Bruches eines Planes in Fluß gerathene Schlemmsand, der die Entstehung der Hohlräume bewirkte und in letzter Folge den Einsturz des Gebietes. Gegen diese Auffassung spricht allerdings der bereits näher ausgeführte Einwand der Bergleute, daß in diesem Falle ja die ganze Strecke hätte einbrechen müssen, und daß in der Bruchlinie liegende Partien sonst nicht intakt geblieben wären. Eine weitere Ausdehnung der Katastrophe hält der Ingenieur für ausgeschlossen, wohl aber meint auch er, daß sich neue Einstürze und Senkungen auf dem bereits betroffenen Gebiet noch ereignen werden. Mit den von Seite der Kommission vorgeschriebenen Untersuchungsmethoden (Anbohrungen und Abteufung eines Schachtes, Treibung von Strecken, um die Ausdehnung der alten Strecken zu konstatiren) erklärt auch er sich einverstanden, und in einer Anwandlung von besonderer Liberalität meinte er sogar, es wäre gut, wenn oppositionelle Zeitungen strenge die Durchführung dieser Maßregeln fordern würden, damit im Interesse der Stadt die genaueste Untersuchung des Terrains unter und ober Tag vorgenommen werde. Der Mann scheint also auch nicht sehr viel von dem Ernst der Behörden im Moment einer Katastrophe zu halten. Vielleicht meint auch er, es wird nichts so heiß gegessen, als es gekocht wird, und es ist bei dem freundschaftlichen Verhältniß zwischen der Brüxer Gesellschaft und den Bergbehörden auch sehr zu fürchten, daß eine Krähe der anderen nicht die Augen aushackt. Wir glauben, daß es sich unbedingt empfehlen wird, andere Beamte zur Überwachung der Durchführung dieser Vorschriften zu bestellen, denn das freundschaftliche Verhältniß muß korrumpirend selbst auf den von den redlichsten Absichten beseelten Beamten wirken. Ist es den Bergbehörden wirklich Ernst damit, eine weitere Gefahr von der Stadt Brüx bei Zeiten abzuwenden, dann müssen sie rasch und mit anderen Kräften als den bisherigen arbeiten.

Zur Unterstützungsfrage der Obdachlosen wäre noch nachzutragen, daß in die Redaktion unseres Brüxer Bergarbeiterblattes «Na zdar» tagsüber viele delogirte Bergleute kommen, mit der Bitte, man möge ihnen einen Anzug verschaffen, damit sie in die Gruben wieder einfahren können. Viele können gar nicht selber kommen, und sie schicken ihre Weiber oder Kinder, die sich schon einige Fetzen erbettelt haben. Das löbliche Hilfscomité in allen Ehren, aber denken denn diese Herren nicht selbst, daß es auch eine Hauptnothwendigkeit ist, den Leuten zunächst Geld auf Kleider und Möbel zu geben, da sonst den Arbeitern die Arbeitsmöglichkeit und damit der Verdienst abgeschnitten ist? Damit, daß sie die Bergleute auf ihre respektiven Werke mit Anweisungen auf Vorschuß, nicht auf Unterstützung, schicken, ist wohl nichts gethan. Dies werden die Herren vom Hilfscomité hoffentlich doch einsehen. Viele Proletarier geben es überhaupt schon auf, ihre Ansprüche anzumelden, in dem festen Glauben, daß sie ohnehin nichts bekommen. Aber verzagt sind die Leute natürlich, verzagt und verbittert, und dies ist nur der Sachlage entsprechend.

Es wird noch viel Wasser die Elbe hinunter rinnen müssen, bis in Brüx die Folgen dieser Katastrophe, wenigstens soweit es die momentane Wirkung betrifft, überwunden sein werden. – Ganz wird Brüx nicht mehr das Odium losbringen, daß es eine unterminirte Stadt ist.

 

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