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Max Winter

Wandertage im Königreich Schwarzenberg

Arbeiter-Zeitung Nr. 250 vom 12. 9. 1895

Schattawa, September.

«Wir am heutigen Tage hier versammelten Katholiken der Prager Erzdiözese beschließen in Erkenntniß der hochwichtigen Stellung des Bauernstandes und geleitet von der Überzeugung, daß durch die moralische und materielle Erstarkung dieses Standes das Wohl der übrigen Schichten der menschlichen Gesellschaft bedingt ist – was die Geschichte, Entwicklung und das Aufblühen aller Völker nachweist –, daß wir durch Wort und That unter allen Verhältnissen, mit ganzer Kraft für die Hebung und Erstarkung des Bauernstandes sowohl auf dem geistigen als auch auf dem materiellen Gebiete einstehen werden.»

Resolution zu dem Vortrage des Prinzen Friedrich Schwarzenberg auf dem Katholikentage zu Przibram: «Ueber den Bauernstand.»

Wer kennt dich, armseliges Holzknechtdorf Schattawa? Viele wohl; alle, die als Touristen durch den Böhmerwald kommen, und doch kennt dich kaum Einer so recht. Nicht gastlich lädst du zum Verweilen ein den Touristen, der deinen Boden betritt. In schmutzige Häuser tritt man nicht gern, und hinter den speckigen Fenstern der Gaststube «zum Urwald» mag’s auch nicht freundlich sein. Dein «Hauptplatz» mit dem Brunnen ist Gänseweide, und Kühe werden darüber getrieben, grasen wohl auch; holprig und steinig ist die Straße, die bergan durchführt. Die Kinder sind wie die Straße: holprig und ungehobelt, schmierig. Scheu sind sie. Von weitem schon drücken sie sich, kommt ein Fremder durch, und trifft er sie unvermuthet spielend an einer Wegkrümmung, dann ducken sie sich zusammen, als wollte eins das andere schützen vor dem Fremden. Die kleinen Hunde kläffen und belfern den Fremden an – und der schaut, daß er weiterkommt beizeiten, und marschiert die Straße hinauf, die zum «Urwald» führt.

Nicht alle freilich fliehen das Elend, das sich auch dem gedankenlosen Weltbummler hier aufdrängt. Auch ich verweilte. Es war spät am Vormittag, als ich die Straße gegen Schattawa hinanstieg. Ein Reiter im Jagdkostüm war eben bei mir vorbeigekommen. Die Feldarbeiter hielten inne bei der Arbeit und grüßten gar ehrerbietig den jungen Menschen, der die Kunst, arrogant zu danken oder auch gar nicht zu danken, meisterlich beherrschte. Ich trat zu einer Gruppe. «Grüß Gott! Wohin geht’s denn! Zum Urwald?» Wir waren bald im Gespräch. Und der Mann in seiner blauen Hose aus grobem Gewebe war recht redselig. All das, was man als Tourist über den böhmischen Urwald in jeder Station zu hören bekommt, erzählte der Mann. Ihn interessirt’s nicht. Aber die Herren kommen von gar weit her, um den Wald anzustaunen. «Werd’s viel Hirschen sehn’n, wann’s da nei’ kimmt’s.» – «So, gibt’s viel Hochwild da?» – «O in die Tausend! Da schaut’s her!» – Der Mann führte mich zum Feld und zeigte mir die Spur der Hirsche. Die Kornähren waren abgefressen, anderes Korn war gar nicht so weit gekommen, und in den Krautfeldern hatten die Hirsche abgefressen, was der «Wurm» – die Weißlingraupe – noch nicht aufgezehrt hatte.

«Das is inser Elend, d’Hirsch’n!» Keinen Wildschadenersatz, kein Schußrecht, und die Hirsche werden immer mehr und mehr, der Ernte-Ertrag immer weniger.

Heute steht er auf einem Viertel von früher. «Ja dann – zusammenschließen sollten sich die Bauern, geeinigt gegen diese Verhältnisse zu Felde ziehen.» – «Ja mei! Der Fürscht hat uns ja ganz in der Hand!» Und nun erzählt der Mann. Von Haus und Hof kann der Fürst sie wegtreiben. In Schattawa gibt es keine freien Bauern. Das sind Holzknechte, die der Fürst dort ansiedelte, damit seine Hirsche ein Nachtmahl haben. Das ganze Dorf gehört dem Fürsten, wie es liegt und steht. Jeder Stein, jeder Halm ist sein, und für 25 Strich Feld zahlt der Holzknecht sechzig Gulden Jahrespacht. Baut er alles mit Korn an und hat er die beste Ernte, so ist der Ertrag für den Strich 3 fl. 50 kr., für 25 Strich also etwa achtzig Gulden, und sechzig Gulden ist sein Pacht. Wie aber wenn die Hirsche recht hungrig sind? Wenn ihnen der Forst das nicht bietet, was sie zur Erhaltung brauchen, wenn sie Abend für Abend auf die Felder von Schattawa äsen kommen? Wenn sie drei Viertel wegfressen, dann arbeitet der Holzknecht schon im Defizit, dann zahlt er sechzig Gulden Pacht für zwanzig Gulden Ernte-Ertrag. Und so ist’s Jahr für Jahr. Im Winter muß er ins Holz gehen, in fürstlichen Taglohn, sonst könnte er den Pacht und seine Milchsuppe, seine Erdäpfel nicht erschwingen. Speck (Selchfleisch) kommt fast so nie auf seinen Tisch. – Aber einmal haben sie sich doch besprochen und wollten energisch Wildschadenersatz verlangen. Schneller ritten die Boten des «Herrn Oberförsters», der im einzigen wohnlichen Haus in Schattawa «residirt». Und eh’ die Knechte noch mit ihren Forderungen kamen, hatte der «gnädige Herr Förster» den Pacht erhöht. Dennoch (!!) forderten die Knechte ihr gutes Recht – zaghaft freilich, und der «gnädige Herr Förster» hatte leichtes Spiel. Er hörte wohl kaum die Klagen. Er sieht ja das Bild der Verwüstung täglich vor sich, aber dann wetterte er sie an: «Wohin denn in der Welt? Wildschadenersatz! O ihr sündiges, undankbares Volk! Haus und Hof schenkt euch der gnädigste Herr, unsere arme Durchlaucht, und ihr wollt’s ihm noch Geld erpressen? Himmelkreuzsakrabombenelement...!» Den Bart strich er dabei, und polternd ging er in seinem Amtslokal auf und ab. Zitternd standen die armen Knechte vor «dem Zorn des Herrn». Dann aber wurde er wieder der gnädige Vater und ließ seine Kinder wieder zum Handkuß zu. Wenn sie nie mehr wieder mit einem so sündigen Wunsch kommen wollten, möchte er ihnen diesen Fehltritt nochmals verzeihen und auch den Pacht für diesmal beim Alten lassen.

Sie rückten verlegen die Hüte in den Händen, als sie wieder draußen standen auf der Gasse. So arm wie früher, aber viel gedrückter noch – die fürstlich-försterliche Gnade – lastete auf ihnen. Sie fühlten es, daß sie eben von neuem betrogen worden waren, daß sie von neuem sich dem fürstlichen Ausbeuter, dem König des Böhmerwaldes, unterworfen auf Gnad’ und Ungnad’, daß sie nun werden weiterhungern müssen.

Abends gingen sie wieder hundemüde von der Tagesarbeit hinaus auf ihr Feld zur Hirschwacht. Steine hatten sie im Sack, die Faust ballten sie, und als das äsende Wild in ihren Bereich kam, da flogen die Steine mit Wucht gegen die unschuldigen Räuber, die vom Walde in Rudeln kamen, nur um ihren Hunger zu stillen. Der fürstliche Jagdherr sorgt für sie nur im Winter. Wie die wilde Jagd stoben sie auseinander und über Zaun und Hecke weiter. Heute waren die Bauern wild. Der ganze Ingrimm richtete sich gegen die unschuldigen Thiere – den Sack schlägt man, den Esel meint man. Auf die Hirsche werfen sie die Steine...meinen sie den Fürsten?

Das alles und noch manch anderes erzählt der Mann in den blauen Hosen, und wie ich ihm sage, daß ich die Geschichte schreiben werde, da drückt er mir warm die Hand. Wir schieden als Freunde.

Arbeiter-Zeitung Nr. 265 vom 27. 9. 1895

Schattawa, im September 1895.

Dem Urwald zu! Durch stämmigen Hochwald hinauf kriecht die Straße zu den Höhen des Kubani. Von links bald, bald von rechts springen Quellen aus dem Fels. Farrenkräuter wuchern auf moosigem Grund, Eichhörnchen huschen behende auf den Riesenstämmen zur Höhe. Von Ast zu Ast, von Zweig zu Zweig treiben sie’s lustig weiter. Hoch steht die Sonne. Sie brennt ganz tüchtig nieder, und erst weiter drinnen kann sie das schattige Walddach nicht mehr durchdringen. Hier gibt sich die Natur in ihrer ganzen Ueppigkeit - dank der Großmuth des Fürsten. Ja, so weit reicht die Macht des Fürsten. Ein Federzug von ihm, und in Jahresfrist ist der Urwald gerodet. Jetzt kündet er sich schon an. Gefallene Waldgrößen modern im Moos; Stämme von zwanzig und dreißig Meter Länge und oft mehr als zwei Meter Dicke knickte der Sturm. Sie werden immer häufiger. Jetzt kommt ein Waldhaus – ein Zufluchtsort für Jäger, sonst ein Hirschfuttermagazin. Auf der anderen Seite der Straße steht eine der vielen Futterkrippen, an denen im Winter, wenn auf den Feldern der Holzknechte nichts zu holen ist, der Fürst seine Hirsche füttern läßt. Der Heger bläst dann ins Horn, und nun kommen sie von allen Seiten heran, die Hirsche und Thiere, und fressen sich an der stets vollen Krippe satt für einen Tag. Kommt wohl auch vor, daß bei solchen Fütterungen irgendeine «fürstliche Gnaden" im Hinterhalt zu lauern, sich einen Kapitalhirsch auszusuchen und mitten beim Fressen niederzupfeffern geruhen. O, das ist eine große Lust, wenn sich so ein Prachtkerl im Blute wälzt, wenn er ächzt und stöhnt in Todeszuckungen, bis sein Blick bricht. Dann wird ihm das Geweih ausgehauen, und die «fürstliche Gnaden» haben eine «Jagdtrophäe» mehr...

Doch weiter zum Urwald. Ein kurz Stück Weg noch, und schon thürmt sich Stamm auf Stamm, der Kreuz und der Quere, moosverwachsen, überwuchert von Schwämmen, fünf, sechs Waldriesen übereinandergestürzt, dazwischen ein kräftiger junger Stamm, der zum Himmel strebt, zwei- und dreijährige Tannen und Fichten, die in dem Moder der gestürzten Riesen Wurzel fassen, ein Chaos, das den ewigen Werdeprozeß so recht deutlich und gewaltig darstellt. «Neues Leben sprießt aus den Ruinen.» Die Farrne setzen helle Töne in das tiefe Waldesdunkel. Gar, wenn ein Sonnenstrahl draufblitzt – dann zuckt es in hellem Grün durch den schwarzen Forst...das Urwaldwunder.

Daß reines Genießen dem Menschen so schwer wird! Gleich fällt Einem wieder der Holzdieb ein. Um Weihnacht war’s, da stieg, auf der Schulter die Axt, Hansjörg zum Wald hinauf. Ein Bäumlein, kaum zwei Meter hoch, fällte er und trug’s heim. Mußt’ ihn grad der Heger erwischen. Selbst ein armer Teufel – nahm er dem andern das Symbol seiner kindischen Freude, das, womit er seinem Fleisch und Blut einen Freudenabend bereiten wollt’, den Baum nahm er ihm weg und verhängte über ihn noch eine Willkürstrafe wegen Waldfrevels von zwanzig oder dreißig Kreuzer. Hansjörg hatte eine trübe «heilige» Nacht. Der Gedanke wollte ihm nicht aus dem Kopf: «Da draußen im Urwald vermodern tausend und tausend Meter Holz – da kommt der Fürst nicht zu Schaden, und wenn du, armer Christenmensch, ein ganz klein’s Bäumerl dir zur Christnacht heimtragst, dann ist der Fürst im Schaden.»

Darüber kam er nicht hinaus, der Proletarier des Waldes. Wär’ er nur zur selbigen Nacht in so einem Fürstenschloß gewesen. Was es da für Weihnachtsbäume gab, wie da die Kinder jubelten, wie da Champagner floß und ein lustiges Spielchen in ebenso intimem, als «durchlauchtigstem» Kreis den schönen Abend beschloß. Die Augen wären ihm übergegangen vor all dem Glanz, den er da geschaut hätte.

Indes es blieb bei finsterer Weihnacht in der Hütte des Holzdiebes. Der andere ist gewiß kein Dieb, er ist ja Fürst, König des Böhmerwaldes und nährt sich redlich vom Schweiße seine Bauern und Knechte.

* * *

Pfaffenschlag, im September 1895.

Pfaffenschlag liegt in der Einschicht, ziemlich weitab von den Bezirks- und Landstraßen, und wer es sehen will, muß querfeldein ziehen. In einem Winkel an der niederösterreichischen Grenze ist es hingebaut inmitten reicher Oekonomien und lieblicher Forste, die noch nicht allzu alt sind. Kaum je kommt außer einem durchziehenden Händler ein Fremder in diese wirtshauslose Einschicht. Nur die Rottenmenschen, die +++ Sozialdemokraten, haben’s einmal entdeckt. Muß einer durchgekommen sein durch dieses Nest, und bald darauf geschah ein Unerhörtes hier. Man denke nur ... in Pfaffenschlag wurde eine Versammlung abgehalten, in der Einer die Bauern über ihr Los aufklärte. An dem bestimmten Tage kamen sie zusammen, die Bauern von hier und etliche von Reith und anderen Orten, und wollten den Redner hören. Die Herrenstube eines Bauernhauses war das Versammlungslokal. Als es aber ernst wurde, verweigerte der Bauer sein Haus, und die «Sozi» hätten wieder abziehen sollen. Da fand sich aber dennoch ein radikaler Grundeigner und erbot sein Haus zur Abhaltung der Versammlung, aber unter einer Bedingung: Seine Gastfreundschaft müsse damit erschöpft sein. Er lege sich zu Bett, ziehe die Federn über die Ohren und wolle nichts hören von den Reden. Lachend willigten die Veranstalter der Versammlung in diese Bedingung. Die Versammlung begann. Unter einem Berg von Federbetten lag der gastfreundliche Bauer vergraben. Nun erzählte der Agitator, wie’s wo anders in der Welt aussieht, von dem großen Ringen der Menschheit nach wirtschaftlicher und politischer Befreiung, er erzählte von den Arbeitern und dann von den Bauern, die selbst dann, wenn sie über verhältnismäßig große Wirtschaften verfügen, auf keinen grünen Zweig kommen können, wie der Ertrag all ihrer harten Mühe gleich Null ist. Er rechnete ihnen vor, wie hoch ihre Steuern, wie gering die Einkünfte, wie sie – außerhalb der Welt stehend – sich ruhig die Haut über die Ohren ziehen lassen, indes der Fürst ein gar sorgloses und heiteres Leben führt...Das radikale Bäuerlein hatte im Bette gehorcht, jetzt schob er den Kopf heraus und hörte offen dem Redner zu... und als dieser weitersprach, da setzte er sich im Bette auf, nun wagte er gar schon ein zustimmendes Kopfnicken, und bei der nächsten Kunstpause des Redners stieg er aus dem Bette mit den Worten: «Ah, wann’s Ihr nix anders redt’s, da kann i ja ruhig dabei sei» ...und er blieb ein aufmerksamer Zuhörer bis zum Schluß. Die «Bomben» waren ausgeblieben. Seither ist der Bauer ein warmer Freund der «Sozi».

Es war schon finster, als ich den Ort erreichte. Aus einem vergitterten Fenster fiel ein schwacher Lichtschimmer in die Nacht. Ich stolperte dahin zu. Drinnen stand eine Dirn in einer engen schmutzigen Kammer und wusch Faßgeschirr. «Wohnt da der Bauer F.?» Ein kleiner Kläffer gab von innen zuerst Antwort. Er alarmirte mit seinem Gebell die p. t. Nachbarhunde. – «Kinnt scho so sei! ... Was willst denn?» fragte jetzt die Magd. – «I sollt’ an’ schön’ Gruß vermelden dein’ Bauern vom M. aus Reith; ob er mi herbergen möchte’?» ... Die Magd schloß das Thor auf, wehrte den Hund ab und ließ mich ein. In der großen Stube war’s schon Nacht. Bauer und Bäuerin lagen bereits im Bett, und nur ein Bub saß schläfrig auf der Ofenbank, neben sich einen Krug Wasser, aus dem er in kurzen Pausen trank.

Ich vermeldete beim Eintreten wieder den «schön’ Gruß»; der Bauer war schon aus dem Bette, nur die Frau des Hauses ließ sich Zeit. «Habts Euren Ausweis?» fragte der Bauer nach einer peinlichen Pause, während der er den Touristen musterte. Der wies aus, daß er sozusagen doch auch ein «ordentlicher Christenmensch»; er konnte nun seine «Dokamenter» wieder einstecken, und die Bäuerin bereitete ihm sein Abendbrot. «Fleisch hab’n m’r kan’s im Haus, a Milchsuppen kinnt’s hab’n.» Was thut man nicht alles, wenn man als müder und hungriger Tourist in die Einschicht verschlagen wird! Löffel um Löffel schöpfte ich aus der großen Schüssel mit saurer Milch, in die ich mir einen «Reanken» Brot geschnitten hatte. Die Bäuerin hatte einen Span angezündet, der beim Ofen lustig flackerte, auf dem Tisch stand ein Oelleuchter. Es war also «große Beleuchtung».

Das Fleisch ging mir gewaltig ab, und ich sprach davon. «Ihr seid’s do der größte Bauer im Ort und habt’s ka Fleisch z’ Haus?» – «Nur Speck ... den hab’n m’r aber nur zwoamal, dreimal in der Woch’n ... die anderen Tag hab’n m’r a saure Suppen (saure Milch) und Erdäpfeln, a Kraut und Knödeln.» Damit war der Großbauer mit der Aufzählung seines Wochenmenüs fertig ... «Und Bier?» ... «Hab’n m’r am Sonntag, wir hab’n da ka Wirtshaus, da geh’n m’r nüber aufs Ort, dort gibt’s Bier ...» – «Also die ganze Woch’n trinkt’s Oes ka Bier?» – Der Bauer schüttelte verneinend den Kopf.

Am nächsten Morgen stieg ich nach einer erquickenden Nacht gerade vom Heuboden herunter, als die «Hirtbub’n» das Vieh austrieben. Es waren gegen dreißig Stück Großvieh. Das Töchterl des Bauers wies mich dann ein Stück Weges. Er hat bei hundert Joch Grund, erfuhr ich bei der Gelegenheit, ist also ein «wohlhabender» Mann, und doch hat er nicht täglich Fleisch auf seinem Tisch, die ganze Woche hindurch kein Bier, ist ausgeschlossen von allen Genüssen des Lebens, ohne Verkehr mit der Außenwelt, und da soll es dem Fürsten nicht leicht sein, das «Bauernvolk zu regieren», seinen Vorteil herauszuschlagen, wo’s nur geht, und um ein Spottgeld das Land in seinen Besitz zu bekommen? Es ist nur natürlich, daß unter solchen Verhältnissen der Bauer ökonomisch Knecht ist, auch dann, wenn er sich noch des fürstlichen Pachtes erwehren kann, wenn er mit seinem eigenen Besitz sein Drauskommen findet.

Wie leicht dem Fürsten das Erwerben gemacht wird, wissen die Mugrauer Großbauern zu erzählen. Die hatten einen Graphitbau, den sie so lange auf eigene Kosten ausbeuteten, bis der Fürst dahinterkam, daß sie Primagraphit aus den Gruben fördern. Die Bauern hatten diesen Umstand nicht ermessen. Ihr Graphit wurde ihnen stets billig abgekauft, sie gaben das Werk her und ärgern sich heute über die Großartigkeit des Betriebes, den der Fürst mit seiner Geldkraft und der Intelligenz seiner Ingenieure schuf. Sie haben das Werk um einen Pappenstiel hergegeben.

Auch beim Bau der lediglich für Zwecke des Papierfabrikanten Spiro, der es vom Hadernsammler bis zum Millionär gebracht hatte, natürlich durch, «seiner Hände ehrliche Arbeit» errichteten Industrialbahn werden die Bauern ums Ohr gehauen. Mit Hilfe des Staates löst Spiro den Grund ein, wie er will. Und die Bauern? Die lassen sich heute geduldig scheeren, und morgen werden sie aus ihrem Traum erwachen und um so viel ärmer sein. Stellt man ihnen ein nächstesmal wieder Schlingen, so tappen sie wieder hinein. ... Diese armen Bauern haben eben niemanden, der sich ehrlich ihrer annimmt, der ihre Interessen vertritt. Sie lassen sich durch den Fürsten und dessen Marionetten oder durch, «deutsche Männer» die, im liberalen Sumpf steckend, nach Staatspensionen angeln, im Reichsrathe vertreten. Daß den Bauer ein Bauer vertreten soll, wissen sie in ihrer ökonomischen und daher politischen Abhängigkeit vom Fürsten nicht, und wenn sie’s wissen, haben sie nicht den Muth, es zu sagen. Der Fürst hat seine Spione überall.

Im Geheimen sagen sich’s freilich viele, wenn sie ihre Rechnung gemacht haben und den Gewinn ihrer Mühen vor Augen sehen, wenn sie sehen, daß der Nutzen, den der Fürst aus ihnen zieht, ein bedeutend höherer ist als ihr eigener. Es gibt schon Bauern, die Buch führen. Bei einem solchen kam ich vorbei. Er ist Bauer, Handwerker und Geschäftsmann zugleich. Seine Oekonomie ist klein: zehn Stück Vieh und fünfzehn Joch Grund. Davon kann man nicht leben, der Boden bringt kaum genug für die eigene Wirtschaft hervor. Der Bauer vergrößert seinen Besitzstand. Elf Joch fürstlichen Grund nimmt er in Pacht. Dafür zahlt er 62 Gulden Pacht. Wieder reicht der Ertrag nicht hin, und darum müssen andere Dinge helfen. Er hat eine Hammerschmiede und ein Sägewerk, ist sein eigener Köhler, und seine Frau ist seine Gehilfin. Sie schwingt in der Schmiede den zweiten Hammer, sie arbeitet auf der Brettsäge mit, sie geht mit aufs Feld und ist dort fest dahinter. Und der Ertrag? Er ist gleich Null. Die ganze Liegenschaft repräsentirt einen Werth von zirka 17.000 fl., was einem vierperzentigen Zinsenertrage von zirka 700 fl. entspricht. Der Mann hat eine Totaleinnahme, die kaum größer ist: 500 bis 600 fl. verwendet er für sein Haus –, Frau, drei Kinder, Mutter, Knecht, Dirn und Hirtbub –, 120 fl. zahlt er Pacht und Steuern, die gleiche Summe seinen Arbeitsleuten, und hundert Gulden ist sein jährlicher Reinertrag, das ist der Lohn, den seine Arbeitskraft und die seiner Frau erhält.

Dies allerdings nur dann, wenn er Glück in seiner Wirtschaft hatte, wenn ins Korn nicht der Wurm kam, wenn ihm keine Kuh umstand, wenn ihn nicht sonst ein Schaden traf. Trifft ihn Unglück, so geht der Reinertrag drauf; trifft’s ihn einige Jahre hintereinander, so ist er schon in Wucherhänden und kann sich kaum je mehr aus diesen Händen befreien. Er verarmt immer mehr, er verelendet, und dann kauft ihn der Fürst um einen Pfifferling auf. Der Fürst ist wieder reicher und er hat einen Knecht mehr.

Wie schnell der Bauer diesen Weg gehen würde, wenn er nicht nur dreimal in der Woche Fleisch essen würde, wenn er nicht nur am Sonntag sich einen Krug Bier vergönnen würde, kann jeder ermessen. Es ist selbst unter bäuerlichen Verhältnissen schwer, neun Mägen ein ganzes Jahr lang um 500 bis 600 fl. zu füllen und dabei die Kleidung zu beschaffen und was sonst in einem Haushalt nothtut. Nur durch die allergrößte Sparsamkeit kann sich dieser Oekonomiebesitzer und Geschäftsmann schuldenfrei erhalten.

Das ist auch ein Bild aus dem Königreich Schwarzenberg.

Arbeiter-Zeitung Nr. 286 vom 18. 10. 1895

Spitzenberg, im September.

Es war in der Nähe von Höritz. Mit einem rüstigen Achtziger marschierte ich gegen Abend auf der Straße dahin. Zur Linken die Felder und Wiesengründe waren belebt. Die Bauern waren im «Krumat» – die zweite Heuernte -, und ein Bild ländlichen Fleißes entrollte sich vor dem Auge. Hart an der Straße weideten zwei Kühe, eine «g’scheckerte» und eine «schwarze», ein Kalben sprang muthwillig um sie herum, und unweit davon im Grase lag ein Mann mit grauschwarz glänzendem Gesicht, eine Pfeife im Munde, eine schmierige Kappe auf dem Kopfe. «Ein Bergarbeiter?» frug ich meinen Begleiter. Noch hatte der nicht geantwortet, als der Mann im Grase zurückrief: «Ja, ein Bergmann!» – «Wohin aus?» setzte er fragend hinzu. Wir waren stehen geblieben, und der andere kam zu uns.

«In welchem Werk?» begann ich zu fragen. – «O glei’ da aus!» Er zeigte mit seiner Hand ins herrliche Waldgebirge, das unseren Horizont begrenzte. «In Schwarzbach, im fürstlichen Graphitwerk.» – «So, so, ist dort ein Graphitwerk? Und groß?» – «Ja freili’, oans von die größten.» – «Und wie viel Arbeiter sind denn dort beschäftigt?» – «So sieben-, achthundert.» – «Wie schaut’s mit der Zahlung aus?» – «Ja, das is nit gleich, neunzig Kreuzer, ein Guld’n im Tag, weniger auch» – «Noch weniger?» – «Wie’s halt geht. Einmal mehr, dann weniger; ich verdien’ so dreiundzwanzig bis fünfundzwanzig Gulden.» «Monatlich?» – «Ja.» – «Haben Sie Familie?» – «O mei, a Frau und fünf Kinder.» – «Wie können Sie denn da leben?» – «’s muß halt sei’, lieber Herr, ich hab’ m’r’s ausg’rech’nt, kommen grad’ zehn Kreuzer auf oans im Tag» – «Sag’n S’ mir noch, da verdienen Sie ja eigentlich nur achtzig Kreuzer im Tag?» - Mit die Abzüg’ nit amol so viel.» – «Sie haben Abzüge?» – «Wohl! Krankengeld, Unfall Bruderlad’, und dann noch Musikfond.» – «Musikfond?» – «Ja für unser Kapelln!» – «Wie viel macht das aus?» – «Vierzig Kreuzer im Monat» - «Und das andere?» – «Glei’ werd’n m’r’s hab’n. Bruderlad’ fünf Kreuzer, Krankengeld vierundzwanzig und Unfallsgeld achtunddreißig Kreuzer.» – «Da zahl’n Sie ja monatlich also über einen Gulden, einen Gulden und sieben Kreuzer für diese Fonds. So viel als Sie nach Ihrer Durchschnittsrechnung für elf Tage für sich zum Leben brauchen dürfen? Das ist ja schrecklich! Und wie lange müßt ihr dafür arbeiten?» – «Zwölf Stund’ und acht Stund’; Obertag zwölfi, Untertag acht Stund’» – «Wie kommt die Ungleichheit im Lohn?» – «Das ist Akkord.» – «Und könnt ihr unter solchen Verhältnissen arbeiten? Habt ihr denn die Kraft zur Arbeit? Lest ihr keine Zeitungen, wie’s anderswo geht? Schließt euch zusammen, sonst werdet ihr noch in tieferes Elend kommen!» – «Herr, das gibt’s bei uns nicht. Haben eh Zeitungen g’habt. Das ist uns aber eing’stellt worden. Wir dürfen nicht. Der Herr Direktor erlaubt’s nicht. Unsereiner ist nur zur Arbeit da...»

Dieses Gespräch kam mir in den Sinn, als ich tagsdarauf nach einer erquickenden Morgenwanderung Schwarzbach vor mir liegen sah. Von Neustift war ich herübergekommen. Zur Linken ein großer Bau, das Schwarzbacher Brauhaus – natürlich fürstlich –, daneben ein freundliches Gasthaus, reinlich und nett wie die junge Wirthin, die mir Willkommen bot. Weiter der Ort und drüben über den Feldern, hohe Schornsteine – die Wahrzeichen des Graphitwerkes.

Eine Stunde später stand ich vor dem Obersteiger, der mich mit allerhöchster Erlaubniß des Herrn Direktors im Obertag herumführte und mich einweihte in die Geheimnisse der Graphitgewinnung und Präparirung. Er war ein freundlicher Alter und redselig, der dem «Schulmoaster aus Wien» – als solcher hatte ich mich vorsichtshalber eingeführt – nichts vorenthielt, was dieser zu wünschen wußte.

Im linken Hauptgebäude begannen wir den Rundgang. Ueber eine Treppe ging’s in die Kinderstube. Achtzig helle Kinderstimmen begrüßten uns mit einem «Glück auf!» Das klingt so poetisch, das «Glück auf!», wie überhaupt die Bergmannsbräuche so etwas Eigenes, Anheimelndes haben für den Städter. «Glück auf!» das rufen sich die Knappen zu, wenn sie zur Grube fahren. «Glück auf!», denn «da unten ist’s fürchterlich». «Glück auf !» rufen sie dem zu, den sie «zur letzten Schicht» führen, dem Bergmann, der da unten in der Grube verunglückte, den das «Glück auf!» nicht schützte. Und nun die hellen Kinderstimmen. «Glück auf!» rufen die schmierigen Knirpse und erheben sich von ihren Plätzen. Es ist wie in der Schule. Da sitzen sie acht oder zehn um Tische herum, die halbwüchsigen Proletarierkinder, die zehn-, zwölf- und vierzehnjährigen. In der Mitte des Tisches liegt ein Haufen schmutzigen Lehms – der Graphit, wie er gefördert wird. Den sortiren sie. Sie zerbröckeln die einzelnen Klumpen mit ihren kleinen Händen und schichten drei Häuflein auf vor sich: Prima, Sekunda und Tertia! Eine körperlich und geistig anstrengende Arbeit. Sie müssen fleißig sein, denn umsonst zahlt der Fürst sie nicht. Und er zahlt gut. So ein Büblein von zwölf Jahren verdient sich dreißig Kreuzer im Tag. Man bedenke nur: Noch nicht der Schule entwachsen, klein und schwächlich, und schon verdient es täglich dreißig Kreuzer. Wie spielend dazu. Unter ihresgleichen sitzen sie unter Aufsicht eines älteren Arbeiters bei einer leichten und anregenden Arbeit, plauschen dazwischen, unterhalten sich und werden dadurch zwölf Stunden im Tag abgehalten, allerlei Allotria zu treiben. Man weiß ja, was so Buben im Stande sind; die laufen in den freien Stunden in den Wald Holz stehlen, nehmen Nester aus, jagen auf Eichhörnchen und verkommen moralisch bei so zwanglosem Leben. Lasset die Kleinen zu mir kommen... ich will sie hüten und pflegen, erziehen zu ordentlichen Menschen, zu braven Arbeitern, und will sie obendrein noch zahlen ... zweieinhalb Kreuzer per Stunde. Das wird doch schön sein!... Damit ist allerdings die sozialpolitische Weisheit des großen Wohlthäters Schwarzenberg noch lange nicht erschöpft. Ein verzopftes, von falschen liberalen Prinzipien durchwehtes Volksschulgesetz will die armen Kinder bis zum 14. Lebensjahre mit Schulweisheit plagen. Selbst ist der Mann, das Leben sei euer Lehrmeister! Was Schulweisheit und Bücherkram, das verdirbt die Volksseele, vergiftet sie! Darum weg mit diesen Schädlingen der modernen Zeit! Zu Hause leidet ihr Hunger, weil Vater und Mutter zu wenig verdienen können, und die Kinder werden, anstatt daß sie durch praktische Arbeit ihr Theil beitragen zu dem gemeinsamen Haushalt, in die Schule geschickt. Darum weg damit! Und der gute Fürst hat recht. Weg damit, wozu taugt’s auch!...

«Wenn der Auerhahn balzt» und «Seine durchlauchtigste Gnaden» auf die Jagd ziehen, dann beginnt auch für die Bergmannskinder eine bessere Zeit. Eine «Ausführungsverordnung» oder gar ein Gesetz bestimmt, daß die Zwölfjährigen vom Vorfrühling bis zum Spätherbst «Ferien» haben. Diese goldene Ferienzeit kommt den Kleinen zugute. Abgeschlossen von der sündigen Welt sitzen sie da durch sieben oder gar acht Monate im Jahr in der «Kinderstube» des Graphitwerkes und robotten, robotten und robotten Tag für Tag. Wenn’s die Schneeverhältnisse erlauben, können sie ja im Winter weiter lernen. Im Frühling, Sommer und Herbst aber werden sie der ungesunden Bergluft entzogen, da ist’s viel besser in dem schmutzstarrenden Saale, das weitet die Brust, und der Gedanke, daß sie arbeiten, daß sie verdienen, hebt die Kleinen in höhere, lichtere Sphären, sie lernen es früher als vieltausend andere Kinder, die, zum Nichtsthun erzogen, Menschen mit verschrobenen Ansichten werden, daß Arbeit des Lebens eigentliche Würze ist.

Arme Kinder! Was soll aus euch werden? Der «fürstlichen Gnaden» seid ihr verfallen, und der König des Böhmerwaldes weiß dies zu würdigen.

«Glück auf!» riefen sie wieder, als wir den Saal verließen. «Glück Auf!» Nun war’s mir, als hörte ich Hohn klingen aus diesem Gruß, bitteren Hohn.

Die Poesie war beim Teufel, sie blieb’s auch, als wir im Weiterschreiten all die schwarzglänzenden Sklaven sahen, hier in Gluthitze arbeitend, halbnackt, dort watend im Graphitschlamm überall stark angestrengt, überall das gleiche Elend und überall das gleiche «Glück auf!»

«Glück auf!» sagte auch der alte Steiger, der mich geführt, «Glück auf!» der Thorhüter, der Unberufenen den Eintritt wehrt, und «Glück auf!» riefen einige Bergleute dem Herrn Direktor zu, als dieser wenige Minuten später in seiner Equipage zum Dejeuner fuhr. In einem zweiten Wagen fuhren einige Gäste des Herrn Direktors, auch ihnen riefen die hungernden Bergleute ein «Glück auf!» zur Mahlzeit zu.

* * *

Abends saßen wir in der «Stahlschmiede» zu Spitzenberg beisammen. Ein blutjunger Forstadjunkt zu meiner Linken, ein bärtiger Heger rechts von mir und um den Tisch herum Bauern. Es war die Rede von der Ausbeutungskunst der Besitzenden. Der Herr Adjunkt war nervös, denn für bäuerliche Ohren schien ihm das nicht zu passen. Ein gemüthliches: «Hör’n S’ mir auf, Herr Adjunkt, Ihr guter Herr Fürst ist eine der größten Ausbeuter, die’s gibt!» brachte den jungen Beamten ganz aus dem Häusl. Er schlug mit der Hand auf den Tisch und meinte warnend zu mir: «Sie, so etwas sagt man im Böhmerwald nicht ungestraft. Die Bauern lassen über ihren gnädigen Herrn nichts kommen. Da gibt’s Bauernfäust’.» Als Antwort zahlte ich und erklärte spazierengehen zu wollen. Dies hörten die Bauern, und ihrer zwei kamen mir auch wirklich nach. Draußen war starker Nebel, auf zwanzig Schritt wie undurchdringlich. Kaum außer Gehörweite, hatten die Bauern mit mir Freundschaft geschlossen, indem sie ihre «Bauernfäuste» treuherzig auf meine Schulter legten und meinten: «So war’s ganz richti’! Der größte Schinder ist der Fürst.»

Wir plauderten noch eine Stunde lang bei Nacht und Nebel weiter. Ob sich der Herr Adjunkt dies wohl träumen ließ?

Arbeiter-Zeitung Nr. 309 vom 10. 11. 1895

Böhmisch-Röhren, im September.

Ein Falke kreiste hoch über mir im Sonnenlicht. Von Zeit zu Zeit stieß er einen heiseren Ruf aus, kurz und häßlich. Sonst war’s ringsum still. Beerenpflückend stieg ich die breite, schöne Straße hinan bis dorthin, wo der Weg zum Blöckensteinsee abzweigt, wo tiefdunkler Wald den Wanderer aufnimmt. Die Kühle that so wohl. Es war ein heißer Morgen, und der Rucksack hing schwer an den Schultern.

Seit einer Stunde war ich mit mir allein. Keine Menschen! Ein Finanzwachaufseher, der Grenzdienst zu versehen hat, war der letzte den ich gesehen. Er ging ein gut Stück Weges mit mir. Als junger, aufgeklärter Mann wußte er manches zu erzählen. Selbst eines Kleinbauern Sohn, fühlte er mit den Kleinbauern und nützte seine Erfahrungen, die er in der Welt gemacht, für diese. Nicht umsonst hatte er ein Stück Welt gesehen, der uniformirte «Rottenmensch». Als solcher hatte er sich bald bekannt, und dann erzählte er von den kleinen Erlebnissen, die er auf seinen Streifzügen macht. Die protzigen Fürstendiener sind’s, gegen die er den Grenzfeldzug führen muß: die Förster und deren Heger. Der Bauer schwärzt nicht oder doch so wenig, daß es kaum ins Gewicht fällt. Wohl aber die Herren Förster und deren Beamte. Die sind große Freunde von guten deutschen Zigarren und senden, so oft sie Bedarf haben, den Heger über die Grenze, auf daß er für sie schwärze. Auf diese hat’s der Mann scharf, denn dieselben Leute die heute schwärzen und den Staat um den Zoll der Reichen betrügen, sind morgen moralisch tief entrüstet, wenn sie ein armes Bauernweib beim Holzsammeln antreffen. Sie nehmen ihr das, was des Fürsten ist, ab und verhängen über sie außerdem noch eine Strafe in Geld. Darum hat der einfache Finanzwachaufseher ein so scharfes Aug’ auf die Fürstendiener. Es sind Akte ausgleichender Gerechtigkeit, die er da vollzieht.

So viel Holz modert im Wald, denkt auch er sich, und Menschen müssen frieren. Ja, da gibt’s viel Holz. Und noch anderes Nutzbares gibt es. Millionen von köstlichen Beeren. Die Himbeere, Erdbeere, Heidel- und Preißelbeere gedeihen üppig an den Hängen und an den Abholzungen, um den unergründlichen Blöckensteinsee herum und weiter oben auf dem waldigen Rücken des Blöckensteins bis hinüber zum Dreisesselberg im bayrischen Lande. Aber kein Mensch beachtet das Kapital, das hier alljährlich aus dem Boden schießt. Den Vögeln allein dienen sie zum schmackhaften Futter. Woran das liegt? An den mangelhaften Verbindungen hierzulande und wohl auch an der durch die traurigen sozialen Verhältnisse verringerten Intelligenz der Bauern. Im Königreich Schwarzenberg sehen die Bauern noch nicht das alljährlich neu erstehende und nutzlos verdorrende Kapital. Im nördlichen Böhmerwald leben ganze Dörfer von dem Handel mit Beeren. Da sind die Kinder im «Beeren»; unterm Schwarzenberg müssen sie im Bergwerk robotten.

Diese Ausbeutung jugendlicher Arbeitskraft wirkt überhaupt ansteckend im schönen Böhmerwald. Arbeitslose Kinder kennt man nicht. Was nicht im Bergwerk robottet oder auf dem Felde seine Kraft zu Markte trägt, das wird von den anderen Industrien verschlungen. Da sind die Kralik’schen Sklaven in Eleonorenhein. Abgeschieden von der großen Welt, leben sie dumpf dahin, Künstler und Arbeiter zugleich, schaffen sie in glühender Hitze, um elenden Lohn die Prunkvasen für die Salons der Reichen, die Ziergefäße für die Tische der Reichen, Champagnerkelche, an denen Blut klebt! Die glänzenden Schaustücke der Lobmeyr’schen Glashandlung in der Kärntnerstraße, all das bunte Beiwerk, das raffinirter Luxus auf die Tafel des «Vornehmen» gesetzt hat, kommt aus dem einsamen Industriedorfe Eleonorenhein, das inmitten einer herrlichen Natur gelegen, der Krone der Schöpfung, dem Menschen, zu einem Arbeitskerker geworden ist.

Tag und Nacht dampft es aus den kurzen Schloten der Bläsereien. Dreihundert Arbeiter verkürzen sich in den schmutzigen Hütten ihr Leben. Wir treten ein. Gluthitze schlägt aus dem niederen, geschwärzten Lokal. In der Mitte steht ein runder Ofen, aus dem sengende Gase aufsteigen, und ganz in der Mitte des Ofens schlägt eine Flamme auf, ringend nach Objekten, die sie verzehren könnte. Weißglühhitze! Ein gemauerter Aufbau von etwa Meterhöhe umgibt den Ofen zwei Meter breit. Hier stehen die Bläser, die Former und die Helfer. Halbnackt verrichten sie ihre fürchterliche Arbeit. Wer solche Hitze ungewohnt, dem verschlägt es auf vier Meter Entfernung den Athem, und diese armen Leute arbeiten für einen Pappenstiel in unmittelbarer Nähe sengender Gluth. Jetzt schiebt der Bläser eine Stange in den lodernden Brand. Ein «Pfeife» ist’s, an deren Ende ein Knollen Glas befestigt ist. Weich und geschmeidig hebt er es heraus, der Helfer schiebt die Form herbei, und nun bläst der Mann durch die «Pfeife» den weichen Klumpen zur Form. Die Form erhält der «Meister», und dieser versieht die glatten Gefäße mit dem Schmuck, den die Reichen nicht missen wollen, mit dem gläsernen Blumen- und Blattwerk und anderen Ornamenten. Das geht rasch. Von Hand zu Hand, und alle Hände müssen sich fleißig regen. Da gibt’s kein Zögern, kein Zaudern, kein Ruhen und Rasten, fort bis zur Erschöpfung arbeiten sie, damit der Lohn nicht gar zu schmal ausfalle. Die Zahlung gehe nach dem Schock. Es ist Akkordarbeit im fürchterlichsten Sinne des Wortes. Halbmonatlich wird abgerechnet. Da erhält der «Meister» vierzig bis fünfzig Gulden für sich, seinen Gehilfen und seinen Jungen. Drei Arbeitskräfte also um einen Monatslohn für achtzig bis hundert Gulden, das sind im Durchschnitt sieben Gulden per Woche und Mann. Aber der Durchschnitt zählt nicht. Dem Meister gebührt der Löwenantheil. Er zahlt sein beiden Helfer: dem Gehilfen zwanzig Gulden monatlich, dem «Jungen» zehn Gulden monatlich.

Die «Jungen», das sind sechzehn- bis achtzehnjährige Proletariersöhne, wohl auch jüngere sind darunter, wenn sie trotz der mangelnden Vorbedingungen kräftig genug gerathen sind, daß man sich getraut, sie schon zum Ofen zu stellen. Die Gehilfen sind junge Männer bis zu dreißig Jahren. Die robotten um etwa vier Gulden sechzig Kreuzer die Woche, und die «Jungen» haben selbst davon nur die Hälfte – das sind zwei Gulden dreißig Kreuzer. Das haben sie durch das elende System, das den selbst im Akkordlohn stehenden «Meister» zum Ausbeuter seiner Gehilfen macht, ja ihn zu so schamloser Ausbeutung zwingt. Ihm selbst bleibt ja auch nicht viel mehr. Er bezieht für seine kunstvolle, hochqualifizierte und dabei anstrengende und höchst ungesunde Arbeit ja auch nur 50 bis 70 fl. im Monat, das sind 12 bis 17 fl. in der Woche. Diese beispiellos niedrigen Löhne beziehen Leute, über deren Arbeit der Geheime Obermedizinalrath Dr. Hermann Eulenberg in seinem «Handbuch der Gewerbehygiene» Folgendes schreibt: «Unter den Manipulationen der Glasarbeiter gehört das Glasblasen zu den anstrengendsten und ungesundesten Arbeiten. Die strahlende Hitze und die profusen Schweiße einerseits, die luftigen und zugigen Räume andererseits bedingen Extreme, unter deren Einfluß auch der kräftigste Körper sich erschöpfen muß; kommt dazu noch die Anstrengung des Blasens mit der «Pfeife» und das Schwingen des Glases auf der «Schwinggrube», so vereinigen sich so viele, die ganze Kraft des Körpers in Anspruch nehmende Momente, wie sie kaum in einer anderen gewerblichen Thätigkeit vorkommen. Hier können nur kräftige Nahrung, mäßige Arbeitszeit, Pflege des Körpers durch Bäder und Vermeidung aller Exzesse die Gesundheit erhalten; dabei muß namentlich für sehr geräumige, aber möglichst zugfreie Arbeitsräume vor den Glasöfen gesorgt werden.»

Wie’s die Firma Wilhelm Kralik’s Sohn mit all diesen unerläßlichen Bedingungen hält, haben wir gezeigt. Hungerlöhne statt kräftiger Nahrung, Akkordarbeit ad infinitum statt mäßiger Arbeitszeit, Bäder nur im Sommer, so lange es die Witterung erlaubt, daß die Arbeiter in den Bach steigen, und dumpfe, niedere Arbeitsstätten, denen Luft durch zwei offene Thüren zugeführt wird, anstatt der geräumigen, aber möglichst zugfreien Arbeitsräume.

Und die Folgen davon? Sie sind das beschleunigte Auftreten der Berufskrankheiten. Von diesen sagt Dozent Dr. Med. M. Popper in seiner fünfzehnten Vorlesung über Arbeiterkrankheiten: «Die Folgen der intensiven Hitze und Wärmestrahlung sind übermäßiger Schweiß, welcher den Organismus herabbringt, nicht selten Gehirnentzündungen und (durch den grellen Feuerschein veranlaßt) Augenleiden, der bekannte graue Staar. Auch zu Erkältungen geben das Schwitzen einerseits, die zugigen Arbeitsräume und der häufige Uebergang in niedere Temperaturen andererseits vielfach Veranlassung.»

Nicht besser ist’s in den Glasschleifereien, in denen nach ärztlichen Erfahrungen die Leute frühzeitig an Lungentuberkulose erkranken und meist vor dem vierzigsten Lebensjahre zugrunde gehen. Wer frägt danach? Kinder laufen ja trotzdem genug herum in dem schmutzigen Dorfe, und diese Kinder werden ja doch einmal groß und brauchbar zur Ausbeutung.

Von den Arbeitsstätten weg durch das Dorf führt die Straße zum «Herrenhaus». Dort wohnt die «gute Fee» der ganzen Gegend, Frau Kralik. Vergöttert und verehrt von allen, gilt sie als Wohlthäterin, als Schützerin und Freundin der Armen. Mit dem Blutgelde der Glasarbeiter ist sie Wohlthäterin. Das ist der Wahnwitz der Weltordnung. Erst Elend schaffen, sich an dem Elend anderer bereichern, und dann die Brosamen ausstreuen die von der durch die Arbeit anderer reichen Tafel abfallen...

Eine Allee führt weiter zum «Touristenhaus», einer Stätte reichster Behaglichkeit, ungemüthlich aber zugleich durch seine Bewohner, die Prachatitzer und Prager «Creme», die sich hier «erholt». Das dejeunirt und soupirt, promenirt und kokketirt, musizirt und tarokirt, intriguirt und chikanirt den ganzen lieben Tag, das reitet aus, fährt Bicycle, schwimmt und badet – kurz, nach einer Reihe von Tagen, an denen man nur mit Menschen verkehrt hat, ist man plötzlich mitten in der «Gesellschaft», sitzt man in einem prunkvollen Speisesaal, an dessen Stirnwand das schöne Sprüchlein prangt: «Mit Gott für Kaiser und Vaterland.»

Hinaus!

In die Berge will ich steigen. Da weht doch reinere Luft. Im Wirtshaus auf dem Dreisesselberg gibt’s bayrisch Bier und freie Luft. Der Wirth ist ein rarer Mann, ein einfacher Bayer. Da ist’s gut sein. Mit einem Stammgast von da oben sitz’ ich zusammen. Ein alter Kutscher ist’s, der Fremde hinaufführt. Ein redselig Männchen, und er weiß viel von Land und Leuten. Dann blättere ich in dem dickleibigen Fremdenbuch. Eines der letzten Blätter sieht sonderbar aus. Beklekst und mit Erde beschmiert, verknittert ist ein Blatt und dadurch leuchten markige Schriftzüge. Ich fange zu entziffern an. Ein Gedicht!

An den Böhmerwald.

Ich ging auf deinem Rücken – Ich stieg zu deinen Höh’n,
Ich hab die Urwaldwunder – Mit eignem Aug’ gesehn;
Von deinen Höhen weit ins Land – Lugt’ lange ich hinaus,
Die Dörfer sah ich, Stadt und Hof – Das Fürstenschloß, das Bauernhaus,
Und vor dem geist’gen Auge – Sah all das Elend ich,
Das ich im Thal mußt’ schauen – Da sah ich, Bauer, dich,
Dich, Knecht und Dirn’, dich, Bergmann, auch – Wie ihr euch plagen müßt,
Indes der Fürst dort fern im Schloß – Das Leben zynisch froh genießt.

Die Unterschrift war unkenntlich, verkratzt und verschmirt. Darunter aber hatten sich die Helden verewigt, die in einer Aufwallung «gerechten Zornes» den Fürsten schützen zu müssen glaubten. Den unbekannten Schreiber der paar Verszeilen nannten sie manches aus dem Thiergarten des Herrn, und obendrein war er ein jüdischer Bengel. Dann folgten die Unterschriften der Helden: zwei Pfaffen, einige Weiber und ein Forstknecht Sr. Durchlaucht, der gnädige Herr Förster von Kuschwarda. Schönauer heißt der Mann. Mein Nachbar erzählte von ihm, daß er einst Büchsenspanner, also Jagdlakai beim Fürsten war. Daß er ein Lakai sein müsse, hatte ich ja schon aus dem Umstande geschlossen, daß er die zitirte Böhmerwaldstudie vernichten wollte. Zu Nutz und Frommen derer, die den Böhmerwald im selben Lichte sehen schrieb ich die Verse in mein Tagebuch. Wohl bekomm’s, Herr Forstner!

 

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