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Max Winter

Skizzen aus dem mährisch-schlesischen Weberland

Teil 1: Sonntagsbeilage zur Arbeiterzeitung vom 19. 2. 1899

Die erste Webstube! Von einem niederen, lichtlosen Flur führt rechts die Thür hinein. Ich hätte wohl lange im Finstern getappt ... mein Führer, selbst ein Weber, wußte blind Bescheid. Schwaches Licht strömte uns entgegen, als er die Thür zur Stube öffnete. Das eigenthümliche Geklapper des Webstuhls erfüllte den Raum. Der Weber, der dort mit Händen und Füßen arbeitend auf seinem Brett saß, hörte uns nicht. Wir traten näher. Jetzt blickte der Mann auf. Er hatte uns gesehen. Ich ließ ihm nicht Zeit, nach unserem Begehren zu fragen: «Ich bin ein Tourist aus Wien, und ich möchte mir einmal einen Webstuhl ansehen, damit ich doch weiß, wie das alles gemacht wird.» – «Nur zu. Willkomm’n!» Er hatte seine Arbeit ruhen lassen; auf meine Bitte setzte er sie fort. Nun hatte ich Zeit, mich umzusehen. Die Stube ist kaum vier Meter im Geviert. Zwei meterhohe und ellenbreite Fenster geben dem Weber das Licht zu seiner Arbeit, die jetzt seine ganze Aufmerksamkeit erfordert. Er arbeitet schnell, um mir eine gute Leistung vorzuführen. Der ganze Körper ist in Bewegung. Auf der Weberbank sitzend, stößt er mit der Rechten die schwere Lade vor und zurück, die den «Schuß» festigt; die linke Hand führt die Kreuzschnur, mit der er die «Schützen» einmal von links nach rechts und dann wieder zurückreißt; mit den Füßen tritt er die Hebel, die sein komplizirtes Werkl im Gang erhalten, und seine Augen tanzen auf dem Gewebe hin und her. Aengstlich achtet der Mann darauf, ob nicht ein Faden gerissen ist. Je schlechter das Garn, desto häufiger sind diese zeitraubenden Zwischenfälle. Dann verstummt auf kurze Zeit das Getöse ... Das Anschlagen der Lade, das Geräusch der Räder, auf denen die Kreuzschnur läuft, das kurze Aufschlagen der Schützenbolzen, das Sausen, wenn die Schützen die Ketten queren, das Klappern der Tretvorrichtung, das Läuten der tausend eisernen Plättchen, die den «Zeug» – einen Art Kamm aus Fäden, durch den die Kette gleichmäßig läuft – straff erhalten, das Aechzen des Garnbaumes ... das ist die Musik des Webstuhls. Sie wird noch verstärkt durch das Surren der Spulräder, die die Kinder und Großmütter handhaben, durch das monotone Klappern und Schnarren des Scherrahmens, auf dem die Kette geschweift wird.

Der gerissene Faden ist wieder angedreht, oder die Schußspulen sind in den «Schützen» wieder ausgewechselt, und schon wieder arbeitet der Mann mit maschinenartiger Gleichmäßigkeit weiter. Er webt und webt tausend trübe Gedanken hinein oder summt im Rhythmus des Webstuhls ein Lied, das er sich gar oft selbst komponiert und dichtet.

Wir lassen ihn allein mit seinem Denken und Empfinden und sehen uns in der Stube um. Den größten Raum nimmt der Webstuhl ein. Links neben der Thür steht der Kachelofen, auf den allerlei Geschirr gestellt ist, rechts ein Bett. Es ist das einzige im Zimmer. Die schmierige Wäsche bezeugt uns, daß der, der aus dem Garn das Linnen webt, selbst zuwenig Leinen hat um das Bett öfter überziehen zu können. Ein kleiner Tisch füllt die vierte noch freie Ecke aus, und wo sonst noch Platz ist, steht das Spulrad, liegt Garn oder fertige Waare. Zwei Schemel und ein Sessel vervollständigen die Einrichtung der Stube.

Sie dient drei erwachsenen Menschen und einem dreizehnjährigen Mädchen als Wohn- und Schlafraum, als Werkstätte und Küche. Die Mutter und Tochter schlafen im einzigen Bett. Großmütterchen, eine Achtundsiebzigjährige, macht sich ihr Lager auf dem Erdboden zurecht, und der Ernährer, der Weber selbst, schläft dort, wo er sich den ganzen Tag über plagt und rackert – auf der Bank des Webstuhls. Sie ist kaum 30 Zentimeter breit. Seine Müdigkeit sorgt dafür, daß er nicht unruhig schläft, sonst wäre diese Bank ein gefährliches Nachtlager. «Im Winter ist’s fürchterlich!» klagt der Mann. «Mer kann kee Fenster nich aufmachen, will mer nich derfrieren ... un’ ’s Holz is theuer.»

Jetzt wird die Alte lebendig. Bisher hatte sie mich kaum beachtet. Auf einem Schemel sitzend, wand sie Spule um Spule auf und häufte diese in einem Körbchen, das neben ihr stand. «Der Winder is streng. Thut mer de Adepl (Erdäpfel) in Keller, derfrier’n se oft und sin dann nich zu genießen. Bei der Waberei ist’s grad, daß dar Mensch nich derhingert dabei. Ich bin schon 78 Jahre alt, aber so schlacht ist’s no nie gan’ wie jetzt.» – «... Aber Mutterl, nur nicht verzweifeln,» warf ich ein, und um zu sehen, ob das Elend die Leute denken gelernt, fügte ich noch hinzu: «Gott im Himmel wird Ihnen schon helfen.» – Da richtete sich die Alte auf, und es sprudelte nur so hervor: «Der alte Gott labt ja noch, aber er hilft nischt. Da kinnt mer den ganzen Tag baten und baten, und er wird nich kommen und wird mer a Brot schneiden, wenn ich mer’s ward nich verdienen. Und er wird nich Holz gäben und Zins und nich Labensmittel zahlen.»

Das sagt eine Achtundsiebzigjährige, eine Frau, die ein Schulkind der Zwanziger-Jahre ist, da es außer dem Katechismus gewiß kein Lehrbuch gab! «Der alte Gott labt ja noch, aber er hilft nischt, wenn mer sich nich sälber hilft.» Wie viel Elend, armes Mütterchen, muß über dich gekommen sein, wie viel Gebete mußt du vergebens zum Himmel gesendet haben, ehe du den Glauben an die Hilfe Gottes verloren hast. Noch sagst du in kindlichem Glauben, daß Gott lebt ... aber du weißt, daß er den Menschen nicht hilft, nicht helfen kann. Aus dir spricht die Erfahrung des Elends, das immer wieder mit Gott vertröstet, auf Gottes Hilfe verwiesen wird, und dem die Menschen nicht helfen, das sie im Gegentheil sich zunutze machen. Aus dir spricht die Erfahrung des Elends, das das Wohlleben der anderen bedingt.

Nun wurde auch der Weber gesprächiger. Er erzählte, daß ihm der Sternberger Fabrikant, für den er robotten muß, für 45 Ellen 1 fl. 80 kr. Lohn zahlt, wovon noch 24 kr. für Trägerlohn, Stärke, Spulen, Spick (Talg) etc. abgehen, daß ihm also 1 fl. 56 kr. reiner Lohn bleiben für eine Arbeit von 60 bis 70 Stunden. Das ist für 4 bis 5 Arbeitstage zu je 14 bis 15 Stunden. Der Weber hat also für eine harte, Körper und Geist anstrengende Arbeit einen Stundenlohn von 2.2 bis 2.6 kr., das ist weniger als die Hälfte dessen, was die so furchtbar ausgebeuteten Ziegelarbeiter am Wienerberge vor ihrem letzten Streik bezogen.

Diese Ziffern erklären die Sprache der alten Frau. Sie lassen es begreiflich erscheinen, daß selbst solche zur Frömmigkeit und Gottergebenheit förmlich vorausbestimmte Menschen zu solchen fast revolutionären Anschauungen kommen.

Die Frau des Webers und sein einziges Kind bekam ich nicht zu Gesichte. Sie waren draußen auf dem Felde bei der Erntearbeit.

Es ist der Webersfamilie beste Zeit. Die Frau verdient im Taglohn doch einige Sechserln, das Kind verdient auch – der Weber kann es dann mit der Tagarbeit genug sein lassen. Er kann sich Abends, wenn das Dämmerlicht in die Stube schleicht, auf die Bank hinaussetzen ... Dann gleitet sein Blick über die schmutzige Dorfstraße hinweg zu den bewaldeten Höhen hinauf ... er sinnt und spinnt die ernsten Gedanken fort, die er tagsüber in jedes «Tüchele» einwebt, er rechnet im Stillen aus, wie viel sie in der Erntezeit auf den Zins werden zurücklegen können, der seine quälendste Sorge bildet – 16 fl. jährlich sind ein Heidengeld, und von der Weberei wär’s nicht möglich, sie zu zahlen. Das Holz geht zu Ende. Der dunkle Forst da oben erinnert ihn daran. Er denkt daran, daß nun bald wieder die Zeit kommt, wo er sich dem Förster auf einige Tage harter Waldarbeit wird verdingen müssen, um dadurch die Erlaubniß zu erkaufen, in einer ihm zugemessenen Parzelle das Dürrholz zu sammeln. Geld hat er keins, also muß er «berobotten» gehn. Er muß Taglöhnerarbeit leisten, die ihm mit 40 kr. Lohn pro Tag verrechnet wird. Er fühlt es, wie sehr er benachtheiligt ist von der reichen Herrschaft, der alle Wälder rings im Umkreis gehören, aber er weiß nicht, daß eine rationelle Forstwirthschaft das Dürrholz entfernen muß, soll sich der Wald kräftig entfalten; er weiß nicht, daß er dem Förster zweimal Robott leistet ... einmal bedungen als Preis für das Dürrholz und das zweitemal, indem er sich seinen «Lohn» einkassiert, das heißt indem er das fast werthlose Dürrholz wieder mit harter Mühe sammelt: er weiß nicht, daß er für nahezu werthloses Holz zweimal, und zwar jedesmal einen viel höheren Preis zahlen muß, als der für gutes Brennholz zahlt, der über Baarmittel verfügt. Er fühlt es aber, und er ist auch auf die ausübenden Organe der Waldherrschaft, auf den Förster und seine Heger, nicht gut zu sprechen. Dennoch denkt er gern an die Zeit des Holzeinbringens ... ist es doch die einzige Zeit im Jahre, wo er nicht wie ein Galeerensklave an seine Werkbank gefesselt ist, wo auch er einige Tage in freier Natur zubringen kann.

Sein Weib kommt. Schweigend sitzen die Geplagten lange nebeneinander. Finster ist’s geworden, und kühl streicht die Höhenluft zu Thal. Sie rücken näher aneinander. Ihre Körperwärme theilt sich ihnen mit ... sie haben sich gefunden in seligem Vergessen ihres Elends. Und im Vergessen vergrößern sie es gar oft.

Ein Revolutionär. Eine prächtige Figur, der alte Rötzer, der Politiker des Dorfes. Seine hagere Gestalt hat etwas Martialisches an sich. Buschige Brauen wölben sich über seinen freundlichen blaugrauen Augen, die einen unheimlich wilden Ausdruck annehmen können und dann doch wieder so milde dreinblicken, wenn sich sein Gemüth besänftigt hat. Er steigt gleich über die Bank, erwidert den Händedruck, und ehe noch recht Zeit war, ihn zu fragen, setzt er sich in Positur zu einer politischen Rede. Er weiß nicht, wer ich bin – sein Gefühl muß ihm sagen, daß ich nicht in feindseliger Absicht komme. «Schlacht geht’s, schlacht; von Jahr zu Jahr wird’s schlachter.» – Ich: Wer ist daran schuld? – Der Alte: «Die Minister sind an allem schuld. Ich wer’ Ihnen die Geschichte von Anfang an erzehlen. Heut gibt’s kee Hilf mehr für een Waber. Im Jahr 1848, da ist das gegangen. Der heut eine Waffe im Haus hat, dem wird sie abgenommen, wie er sich rührt.» Und nun begann der Alte zu erzählen, was er von der Revolution weiß. «Mei’ Schwager hat’s mitg’macht. Er hat’n häng’n gesehen, den Minister auf der Latern und wie dort das Gepöbel is groß gewest; a hat beinah nich zukönn’, und a wär doch so gern dabei gewest, wie se ihn gehängt hab’n.» – Ein wehmüthiger Blick stiehlt sich aus dem Auge des Alten. Es ist, als ob er selbst es unendlich bedauern würde, daß sein Schwager nicht mithelfen konnte, den zu hängen, der das Militär nach Wien berief. «De Stadt hat missen quittiren, sie sein in Belagerungszustand gesatzt worden, und strenge Gesetze ha’n se gemacht. Da Fehler war der, daß de am Lande de Stadt hab’n im Stich gelassen. Da kunnt freilich der Schlachtmeester ’s Volk besiegen.» So ging’s fort eine halbe Stunde lang ... einzelne Episoden, Details aus den März- und Oktobertagen, erzählte er, lebendig und feurig, als ob er alles selbst mit eigenen Augen gesehen hätte, und doch alles von der mündlichen Ueberlieferung entstellt ... Dann schloß er: «Un’ seh’n Se, wär’ das Land der Stadt zu Hilf gekomm’, so wär’s nie a so schlacht gewor’n mit da Waberei ... de Stadt hat damals auf eigenen Fießen stehn missen un’ so hat se dann speder och kee Rücksicht nich genomm’. De Fabriken sin’ herausgebrochen wie die Schwammer aus der Erde un’ de Waber könn’ derhingern dabei.»

Dann kroch er wieder auf seine Marterbank und schickte sich zur Arbeit an. Er hatte sich wieder einmal von der Seele heruntergeredet, was ihn bedrückte und nun konnte er die Gedanken weiterspinnen. Ich gab ihm eine alte Nummer der «Arbeiter-Zeitung». «Sein Se schenstens bedankt,» erwiderte er und barg das Blatt in der inneren Rocktasche. Mer krieg’n se alle Woch’, aber bis se ’rumkommt, dauert’s a Weile» ...

Teil 2: Sonntagsbeilage zur Arbeiterzeitung vom 26. 2. 1899

Abseits von der Hauptstraße, die das Dorf durchzieht, sieht es noch schlimmer aus. Holprig ist der Weg, der an unregelmäßig gebauten Hütten vorüber, vor denen regelmäßig ein Misthaufen liegt, ins untere Dorf führt. Dort kann man den Gipfelpunkt des Elends schauen. Die kleinen «Hund’ln» kläffen den Fremden an, die Kinder stieben scheu auseinander. Ein halbes Dutzend wohl drängt sich in dem Flur eines baufälligen Hauses. Wo Kinder – da Elend. Sie sind unbewußt meine Wegweiser in die Höhle des Elends, in ein Zimmer und einen einfenstrigen Nebenraum. Drei erwachsene Personen – Mutter, Sohn und ein Gehilfe – müssen dort tagsüber schaffen, fünf Kindern ist sie Spiel- und Lernstube, und allen acht zusammen, der Witwe des Meisters und ihrem Gesellen, dem erwachsenen Sohn und den Kindern Schlafraum. Dieselbe Geschichte wie überall, nur noch krasser. Drei Webstühle füllen das «Zimmer» beinahe vollständig aus. Den übrigbleibenden Raum nimmt der Kachelofen ein und das Gerümpel der Webstube, die Spulräder, Scheerrahmen und die sonstigen Gebrauchsgegenstände. Ein schmaler nicht verstellter Gang gestattet das Betreten der Werkstätte, in der von Früh bis Abends drei Menschen sich zu Tode arbeiten, um zusammen 6 bis 7 fl. in der Woche zu verdienen. Davon gehören dem Gehilfen drei Gulden. Sie sind sein Lohn. Er ist die beste Arbeitskraft. An ihm etwas zu «verdienen», brächte die Weberin nicht übers Herz. Sie denkt wie der alte Webermeister von Braunseifen, der mir einen Tag später auf die Frage, ob er an seinem Gehilfen nichts verdiene, warmherzig sagte: «Aus einem so armen Menschen noch a Nutzen zu ziehen, das wer’ doch de allergreßte Sinde.» Wer selbst den Hunger täglich zu Gaste hat, empfindet es als eine Sünde, dem anderen Hungrigen den Bissen zu verkleinern. «Der Fabrikant denkt nicht so,» warf ich ein. – «Ja, wissen Se, wenn da Mensch ka biss’l Religion nich hat, ka a biss’l menschliches Gefiehl ...» Das Elend fühlt menschlich. Auch die Meisterin fühlt und denkt so. Sie hat nicht das Herz, dem hageren Mann dort am Webstuhl seinen Wochenlohn von drei Gulden noch zuzuschneiden. Das Meiste wandert ja doch wieder zurück. Er ißt und schläft mit der Familie, und das muß er zahlen. Sieben Kreuzer kostet allein das Mittagessen: ein Topf Hirse, Gries, Erdäpfel oder sonst ein – «Nährstoff, der den Magen betrügt». Auch das Abendessen kostet Geld, und das Quartier, die Jause und das Frühstück. Das alles stellt die Meisterin bei, auch das Wäschewaschen. Will der Geselle am Sonntag einmal ein Sechzehntel Schnaps im Wirtshaus trinken, will er einige Pfeifen Tabak auch im Laufe der Woche rauchen, dann muß er mit seinen täglichen 43 Kreuzern verflucht haushalten. Wie erst die Meisterin, die mit ihrem schwächlichen Sohn zusammen auch kaum mehr verdient und doch sieben Mäuler damit stopfen muß. Ja, wenn ihr Sohn kräftig wäre!

Aber so! Dort sitzt der kleine zurückgebliebene Mensch. Für einen Sechzehnjährigen möchte man ihn halten. Er ist sieben Jahre älter. Schon zweimal hat ihn die Assentkommission zurückgeschickt. Er ist untauglich zum Dienst der Waffen – dem Staat ist er nicht wehrfähig ... aber er muß fähig sein, das grausame Joch eines Weberkindes zu tragen. Schon zehn lange Jahre ist er an seinen Webstuhl gekettet ... zehn Jahre, in denen andere vom Kind zum Jüngling, vom Jüngling zum Manne reifen ... verbrachte er wie ein Sträfling, den die fürchterlichste Knute, der Hunger, immer wieder zu neuer Arbeit anspornt. Er war nie Kind, nie Jüngling und wird niemals Mann. Es ist sein unabwendbares Schicksal innerhalb der heutigen Gesellschaftsordnung; Reichthum häuft sie zu Reichthum auf der einen Seite, und damit gibt sie einigen Wenigen die Macht, die Millionen auf der anderen Seite zum Hunger zu verurtheilen.

«Ja, mei Lieber, vor a zehn Jahr’n da gung’s noch,» sagte mir ein Nachbar der Witwe. «Damals wurden noch Preise gezahlt. For a finfunddreißigellig’s Stick 2 fl. 25 kr. Waberlohn ... jetzt zahl’n se 1 fl. 40 kr. De Waare muß deselbe sein. Damals hat mer doch vom Stick ein Streifla gehabt, heut nie mehr. Wie nich all’s in Ordnung ist, kricht mer das Stick zurück, un da hilft nischt. Emal hab’n se mer a Stick um zwanzig Gulden zurückgebracht, un ich hab’s verkaufen missen um vierzehn. Un mir hat der Fabrikant zwe Guld’n de Woche abgezochen. Geht’s denn nie mit ein’ Guld’n, hab’ ich ’m gesagt, ich lauf’ do nich davo? Aber da hat’s nischt gegeb’n. Bei da Waberei missen se an’ Bettelstab komm’n, megen se woll’n oder ni.»

Der Mann ist Hausbesitzer. Auch darüber weiß er ein traurig Lied zu singen: «De Steiern steigen, de Lehne fallen,» sagte er. Sein Haus wirft ihm vierzehn Gulden Zins ab – im Jahre. Das zahlt nicht einmal die Hypothek, die auf dem Hause lastet. «Un wenn mer ’n nur immer krichen kennte ... ’n Zins, aber de Waber hab’n ke Geld nich ... ein’ ’raus, ’n andern ’rein, er werd wieder nich zahl’n ... aber de Steiern muß man pinktlich zahl’n ..

*

Eine Hilfsarbeiterin. Alter: 7 Jahre. Auf dem Kreuz und Quer durch ein Weberdorf lernt man die Wirkung des Elends auf alle Lebensalter kennen. Die Weber sind gesprächig, wenn man sie um ihr Elend fragt. Noch hat sich ihrer nicht die dumpfe Verzweiflung bemächtigt, die lange zu gar nichts fähig ist, bis sie elementar hervorbricht und dem bedrängten Herzen Luft schafft. Sie verschließen sich nicht dem Fremden. Sie sind noch nicht mißtrauisch gegen ihn. Sie klammern sich an ihn an und erzählen ihm die Geschichte ihrer Leiden, wenn er nur hören will. Was sie ihm nicht erzählen, kann der Fremde leicht sehen, ja er muß es sehen – die Gegensätze treten zu scharf hervor. Was in unserer idealen Vorstellung als menschenwürdiges Dasein lebt und was in einer Weberstube als Menschendasein zu schauen ist, das sticht so weit von einander ab, daß sich das Gegensätzliche aufdrängen muß.

Draußen heller Sonnenschein, ein Sommertag mit allen Freuden, und drinnen in der dumpfen Stube die Weberfamilie an der Arbeit. Der Vater am Stuhl, die Mutter am Scherrahmen und das siebenjährige älteste Kind am Spulrad. Lockt sie auch die Sonne ins Freie, hört sie auch das lärmende Getriebe glücklicherer Altersgenossen durch das offene Fenster herein, sie sitzt auf ihrem Schemel führt mit der Rechten unermüdlich das Spulrad und läßt durch das linke zarte Händchen den Faden laufen, schnell und schneller, um die Zufriedenheit der Eltern zu erringen. Für sie gibt es keine Freuden der Jugend. Ihr zarter Knochenbau wird der fortwährenden Krümmung des Rückens nachgeben, ihr feines Gesichtchen wird verblassen, und frühzeitig genug wird aus ihr ein altes, höckeriges Weib geworden sein, in dessen Gesichtszügen man keine Spur von dem lieblichen Kinde von einst entdecken wird. Die Zufriedenheit der Eltern zu erringen, ist ihr ganzer Ehrgeiz. Ihr Grausamen! Wer gibt euch das Recht, euer Kind in ein solches Sklavenjoch zu spannen? – Das Elend! Nicht wir sind grausam, das Elend ist’s, das uns zwingt, auch die Siebenjährige zur Arbeit anzuhalten. Das wäre die Antwort, die der Weber geben würde, wollte man ihn fragen. «Es is immer nur so,» sagt die Frau, «daß der Magen etwas hat. Mer sein froh, wenn mer Adepl bekomm’n, daß mer a bischen leben könn’n.» Das sagt sie auf die Frage, wie sie denn mit dritthalb Gulden eine Woche wirthschaften könne. In ein paar Tagen sind 3 fl. Zins fällig, und sie haben noch nicht «a Krazerle drauf». Zwei Erwachsene und vier Kinder – eines säugt die Frau noch – verzehren eben nur allzu leicht 36 kr. im Tag. Kommt auf den Kopf 6 kr. Der größte Grundbesitzer dieser Gegend, der Erzbischof Kohn, hat im Tag 2191 fl. 78 kr. zu verzehren, oder 36.529mal so viel als eines der Glieder dieser Familie. Ob dies der Weber weiß? Ich habe ihn nicht gefragt; daß er aber über seine Lage bereits nachgedacht hat, beweist ein grausam lustiges Wort, das er mir im Gespräch sagte: «Bei der Waberei sollt mer drei sein. Einer zum Waben, einer zum Spulen und einer der fachten*) ging, damit die andern zwei nicht derhingern dabei.» Zwei Tage später ergänzte mir ein anderer Weber diesen Spruch mit dem «Vierten der’s Garn stahl’n gieht». Die Weberin juckt’s, wie mir der Weber das sagt, und sie fällt lebhaft ein: «Wenn Einer mecht stahlen gehen, könnt’s Ein’m niemand vor ibel nehm’n», und bevor ich ging und mir Mann und Weib das freundliche: «Kommen Sie wieder!», das man im Weberland überall zum Abschied hört, zuriefen, sagte noch das junge Weib: «Am besten wär’s, wenn mer sich das Leben nehmat.»

Am besten wär’s. So spricht die Mutter von vier Kindern, deren ältestes, die Siebenjährige, bereits am Spulrad sitzt und mithilft im wahnsinnigen Kampf ums Dasein, den seine Erzeuger kämpfen. Sie hat das Los der Weber erfaßt und hat den Muth, es auszusprechen. Lieber gleich sterben, als langsam, aber sicher dem Hungertode verfallen!

*

Bei einem Siebzigjährigen. Es war in Braunseifen. Dort sind die Leinenweber zu Hause. Sie sind von allen Webern am schlechtesten dran. Peinlichste Genauigkeit in der Arbeit, theure Vorricht und den geringsten Lohn. Ihrer dreihundert hausen dort in dumpfen, niedrigen Höhlen und quälen sich Tag und Nacht um ein Kartoffelgericht für sich und ihre Kinder. Braunseifen ist der Ort in unserem lieben Vaterlande, der einen Hundeschlächter zu seinen Mitbürgern zählt. Nirgends kann menschliches Elend ekelerregender in die Erscheinung treten als dort. Wohin man kommt, trifft man ausgemergelte Proletarier in Lumpen gehüllt bei anstrengender, aufreibender Arbeit, nirgends Lebenslust ... überall schweigender Ernst. Die Freude ist verbannt aus dem Gemüthe dieser Sklaven – es sei denn die Freude am Kampfe um die Menschenrechte, um die Menschenwürde. Ich habe einige sehr tapfere Genossen in Braunseifen gefunden. Sie waren es auch, die mich in den Elendsstätten herumführten. Sie führten mich auch zu dem gebeugten Alten, der mit seinen siebzig Jahren noch nicht zur Ruhe gekommen ist und heute noch fünfzehn bis zwanzig Stunden am Webstuhl rackert, um 24 kr. im Tag zu verdienen. Er bekommt immer vier Stücke zu arbeiten. Jedes gibt etwa drei «Tage» – was die Weber unter «Tag» verstehen – Arbeit, und jedes wirft 90 kr. Lohn ab. Vier Stücke arbeitet der Weber, wenn es sehr gut geht, in zehn Tagen. Das wäre nicht so schlimm. Es entspräche einem Taglohn von 36 kr., wenn ihm wirklich die 4X90 kr., das sind 3 fl. 60 kr. Lohn blieben. Davon hat er aber gar manches wegzuzahlen: 34 kr. Tragerlohn, 32 kr. Stärke für die Steifung des Garns, 8 kr. für das «Andrehen» der Fäden, 45 kr. für das Spulen und 1 kr. für Talg, das sind zusammen 1 fl. 20 kr. Hiezu kommen gar oft noch strafweise Abzüge vom Lohn, wenn das Luchsenauge des Faktors auch nur den geringsten Fehler entdeckt. 5, 10, 20 kr. ja auch 40 kr. und noch mehr sind die gewöhnlichen Strafen. Es bleibt dem Weber also für zehntägige Arbeit, besser gesagt für eine Arbeit von 150 bis 200 Stunden, im besten Falle, das heißt wenn er vollkommen tadellose Arbeit geliefert hat, ein Lohn von 2 fl. 40 kr. Eine einfache Division ermittelt uns einen Stundenlohn von 1.2 bis 1.6 kr. Im Winter ist diese Berechnung noch ungünstiger. Heizung und Beleuchtung kosten so viel, daß der Stundenlohn kaum einen Kreuzer ausmacht, und Licht und Wärme braucht der Weber ebenso zu seiner Arbeit wie er die Stärke, die «Spick» (Talg), das «Andrehen» und das Spulen hiezu braucht. Auch der «Tragerlohn» ist eine unvermeidliche Ausgabe.

«Willst du Arbeit von mir, dann mußt du sie dir holen und sie auch wieder abliefern,» diktirt der geldmächtige Fabrikant, und die Weber müssen sich fügen. Wohl kann der Fabrikant ohne ihre Arbeit nicht bestehen, aber dennoch diktirt er, denn er weiß, daß für Einen zehn andere auf den Bettel warten, den er ihnen hinwirft. Und soll vielleicht der Weber selbst sechs Stunden nach Sternberg laufen oder nach Römerstadt, nach Freudenthal? Das kostet ihn wenigstens einen Tag, und er braucht Wegzehrung. So hat sich denn, wie von selbst, die Institution der Lieferanten herausgebildet. Der holt vom Fabrikanten das Garn allwöchentlich und liefert die fertige Waare ab. Er nimmt die Löhne entgegen und bringt sie den Webern heim; er hat auch Einfluß auf die Strafabzüge. Ein animoses Wort gegen den Weber, dessen Waare gerade geprüft wird, veranlaßt den Faktor die Waare genauer zu besehen. Wenn man was finden will, findet man es auch, umsomehr, wenn niemand da ist, der Einspruch erhebt. So ist es dem Lieferanten ein Leichtes, Strafen gegen Widerspenstige zu erreichen. Und «Widerspenstige» gibt’s da genug. Ist doch der «Lieferant» meist auch – Viktualienhändler im weltabgeschnittenen Weberdorf. Wer da seine Blutgroschen nicht zu ihm trägt, der ist doch – widerspenstig. Der Lieferant ist aber auch Bürge dem Fabrikanten gegenüber. Dies erhöht seine Macht.

Bei den Wahlen ist er der wichtigste Faktor zur Wählerbeeinflussung. Er hat die Weber in der Hand, er ist’s, der ihnen diktirt, den oder den zu wählen, und der ihnen die Arbeit entzieht, wenn sie eine eigene, abweichende Meinung haben. Von seiner Gunst oder Ungunst hängt es ab, ob der Weber die nächste Woche «Adepl» haben wird oder nicht. Man wird es nun begreifen, daß der Trägerlohn eine unvermeidliche Ausgabe ist. Ja, er genügt oft nicht. Kleine Geschenke müssen auch da die «große Freundschaft» erhalten. So muß denn der Weber von seinen blutigen Kreuzern noch einen Parasiten ernähren, der so überwuchert, daß er alle Macht über den Ernährer hat.

Während ich mich in der engen Webstube des Siebzigjährigen umsehe, erzählen die Genossen die Geschichte seiner Familie. Der Alte nickt nur immer dazu. Es ist die alte Elendsgeschichte. Noth und Entbehrung das ganze Leben lang und scheußlich gesteigertes Elend am Lebensabend, den mit ihm noch seine Frau theilt. Dort sitzt sie, die silberhaarige goldene Hochzeiterin, und «raft» ein Bündel Flachs, um doch auch noch ein paar Kreuzer zum Haushalt beizutragen. Zugleich ist sie Kinderwärterin. Drei Enkelkinder – eines davon ein Krüppel mit verdrehten Beinen und einem mächtigen Wasserkopf, liegt im Bett – hat sie zu warten und zu pflegen; sie, die Greisin, die selbst liebevoller Pflege bedürfte. Die Nacht über liegt der Krüppel in einer Wiege, die er mit dem jüngeren Brüderchen theilt. Das dritte Kind schläft auf der Ofenbank, die alten Leute im einzigen Bett, und die sechste Bewohnerin dieser Höhle, die verwitwete Tochter der Alten, schläft neben der Wiege auf dem Erdboden. Sie ist Taglöhnerin und bringt als Preis ihrer Arbeitskraft so viel nach Hause, als der Alte auf dem Webstuhl erarbeitet.

Das ist ein Familienbild aus Braunseifen. Der siebzigjährige Meister des Webens und – Hungerns reiht sich würdig der siebenjährigen Hilfsarbeiterin an, die wir tags vorher in Deutschhause kennen gelernt haben. Dazwischen liegen 63 Jahre höchsten Elends, 63 Jahre – Weberelend.

Teil 3: Sonntagsbeilage zur Arbeiterzeitung vom 5. 3. 1899

Die Zerstörer der Familie. Ueber hügeliges Ackerland kam ich nach Braunseifen. Eine holprige Feldstraße führt von Deutschhause über Eichhorn dahin. Es war ein heißer Augusttag, und der Rucksack hing doppelt schwer an den Schultern. So war ich denn froh, als endlich Braunseifen unten im Thale vor mir lag. Rasch ging es einen steinigen Feldweg hinunter, und schon stand ich vor dem ersten Weberhause. Mein Ohr hatte sich schon an die «Musik des Webstuhls» gewöhnt, und wo ich das Klappern und Surren, das Klingen und Aufschlagen hörte, da ging ich hinein. Gewöhnlich stand ich schon mitten in der Stube, ehe die Weberleute gewahr wurden, daß ein Fremder im Zimmer war. Wer da anklopft und nach guter Sitte auf das Herein wartet, der mag lange warten. Der Lärm des Webstuhls erfüllt das ganze Haus, und der Weber hört das Klopfen nicht. Wurden die Leute meiner ansichtig, so machten sie zunächst verdutzte Gesichter. Ein Fremder ist schon recht, aber so ein Fremder! Einer, der mit einem bepackten Dingsda auf dem Rücken kommt, mit einem festen Handstock in der Rechten, dem Auftreten nach ein Städter, und doch wieder keiner nach der Kleidung – ein Fremder, so ein Drittel Handwerksbursch, ein Drittel Händler mit irgendwelchem Tand und ein Drittel «Vogelsteller». Für einen «verunglückten Vogelsteller» haben sie mich oft gehalten, wenn ich so plötzlich in einer Webstube stand. Daß ich ein «Wiener Tourist, der noch nie einen Webstuhl gesehen hat, und der sich gern einmal einen ansehen möchte», war, haben sie erst aus meiner Anrede erfahren. Und daß ich sehr neugierig war, konnten sie aus meinen Fragen entnehmen.

So war es auch hier. Zuerst verdutztes Anglotzen, dann allmäliges Aufthauen und zum Schluß warmes, inniges Entgegenkommen. Dann brauchte ich nicht mehr zu fragen. Die Weber sind in ihrem Elend mittheilsam wie Kinder, wenn ihnen ein Unglück zustößt. Da erzählen sie dann alles, was sie bedrückt ... das große Elend aller und das Elend des Einzelnen, die Geschichte ihrer Familie, kleine Züge aus ihrem Leben. Eins überhastet das andere ... es ist ihnen förmlich wie eine Wohlthat, sich von der Seele herunterreden zu können, was dort wie Alpdruck lastet. Erst die Kinder! Zuerst verkriechen sie sich starr vor Schreck über die niegesehene Erscheinung eines Touristen in irgendeinen Winkel, werden dann immer zutraulicher, begucken den Rucksack, und zum Schluß kamen sie gar oft aus dem Lachen nicht heraus, wenn sie nur erst die «Zuckerln» gekostet haben, die ein fürsorglicher Tourist im Weberlande stets bei sich haben soll.

Der Weber, bei dem ich gerade «Rast» halte, macht Bettzeug für einen Bennischen Fabrikanten. Wenn er fünfzehn Stunden im Tag unermüdlich arbeitet, so kann er zwei Stücke fertigmachen Für jedes hat er 32 kr. Bruttolohn, von dem die kleinen Ausgaben, die zusammen große sind, noch abgehen. Trotzdem beträgt sein faktischer Lohn zirka 50 kr. im Tag. Nach den Begriffen der «armen» Fabrikanten ist also der Lohn enorm hoch, und auch die gedrückten Leinenweber blicken neidisch auf den «guten» Verdienst der Battzeugweber. Dieser selbst empfindet nur, wie hart ihn sein Joch drückt. Er weiß, wie schwer es ist, eine Familie zu ernähren. Die vier Kinder wollen Brot, und da reichen 50 kr. nicht. Es muß also auch die Mutter mitarbeiten. Webarbeit gibt’s für sie nicht. Wollten sie einen zweiten Stuhl aufstellen, dann müßten sie eine größere Wohnung nehmen, das würde noch mehr Zins verschlingen, und der Verdienst wäre beim Teufel. So geht also die Mutter in die Spinnerei nach Friedland. Sie hat eine gute Stunde dahin, wenn sie flink ist. Um halb 5 Uhr Früh muß sie vom Hause fort, um halb 8 Uhr Abends kommt sie müde und abgehetzt nach Hause. Will sie acht Stunden schlafen, um der harten Frohnde am nächsten Tage wieder gewachsen zu sein, muß sie um 8 Uhr im Bett liegen., denn um 4 Uhr spätestens heißt es wieder auf. Wann ist sie nun ihren Kindern Mutter? Wann Frau ihrem Mann? Oder brauchen diese vier Weberkinder nicht der zarten, fürsorglichen Mutterhand? Bedürfen sie nicht der Führung? Nein! Es sind ja nur Weberkinder! Die Kraft ihrer Mutter kauft der Fabrikant um 40 kr. täglich, und die Mutter muß ihre Kraft um den Lohn verkaufen, eben weil sie Mutter ist, weil sie eine gute Mutter ist, weil sie ihren Kindern genügend Brot und hie und da ein Stück Hundefleisch zu Kräftigung des Körpers zukommen lassen will.

«Das is a gar vorzieglich’s Fleisch,» sagt der Weber, als die Rede auf die Hundemahlzeiten kommt. «Mei Hausherr mag’s Ihnen sagen, wie viel Hundeln de Leut’ zum Schlachten bringen. Er is en Hunde- und Pferdeschlächter! Mer gibt’s ja och ’n Kranken ...»

Wer solche Aussprüche hört, den wundert dann eigentlich gar nichts mehr; am allerwenigsten aber wundert es ihn, daß die Weber so abgestumpft gegen ihr Elend sind. Ihr Blut kommt nicht in Wallung, wenn sie das Martyrium einer Mutter erzählen, die in das Joch des einzigen Zerstörers der Familie, des Kapitalismus, gezwungen wird, durch ihren und ihrer Kinder Hunger gezwungen wird; sie sprechen in Ausdrücken eines Feinschmeckers – vom Hundefleisch.

Ihr armen Weber! Auf welches Niveau hat euch der Kapitalismus bereits herabgedrückt!

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Das Bild des Erzbischofs Kohn. Es war ein Morgen voll düsterer Eindrücke! Elend da und Elend dort. Der Himmel hing voll schwerer Wolken, und leichter Sprühregen fiel zur Erde. Zuerst machte ich einen Besuch bei einem kranken Genossen. Über seinem Bett hing das Porträt des – Erzbischofs Kohn. Dasselbe Bild hatte ich schon öfters in den Webstuben gefunden. Es wunderte mich nicht mehr, als ich mit den Verhältnissen vertrauter wurde. Eine Bevölkerung, die so ausgebeutet ist, daß sie mit jedem Zehntelkreuzer rechnen muß, kann aus sich selbst heraus fast unmöglich die Mittel aufbringen, die ihr Aufklärung schaffen. Sie kann sich nicht Bücher kaufen, (so habe ich nicht einmal das spezifische Buch dieser Gegend Gerhart Hauptmann’s Weber in irgend einer der Arbeiterbibliotheken gefunden) und sie ist fast dazu verurtheilt, ganz und gar von der Außenwelt abgeschnitten zu sein, denn nicht einmal eine Zeitung können sie sich halten. Wahrhaftig ... die fünf bis zehn Kreuzer, die sich die organisierten Genossen im Weberland allmonatlich zum Zwecke ihrer Fortbildung, ihrer und ihrer Brüder Aufklärung abzwacken, sie sind unendlich höher zu veranschlagen als die Millionenspende irgendeines Geldmagnaten zu irgendeinem kulturellen Zwecke. Der nimmt aus dem vollen Sack einen kleinen Bruchteil seines Vermögens, und der arme Weber zwackt sich bei Hirsebrei und Hundefleisch noch eine Summe ab, die gar oft als Tagesverbrauch für das Glied einer Weberfamilie genügen muß.

Wen könnte es dann wundern, wenn er fast in jedem Hause noch das Bildniß dessen findet, der als Grundherr und Kirchenfürst vergessen hat, daß er selbst einmal ein Kind des Volkes gewesen, das er heute durch seine Förster in unerhörter Weise ausbeuten läßt. Den Webern fehlt zunächst Aufklärung und alles, was bisher nach der Richtung geschehen ist, kommt dem Tropfen gleich, der auf einen heißen Stein fällt. Die Weber selbst kommen doch noch ab und zu in eine Versammlung, das gesprochene Wort ersetzt ihnen viel, aber es gibt ihnen nicht die Macht, andere aufzuklären. So kommt es, daß speziell die Webersfrauen, die wohl am schwersten unter dem auf ihnen lastenden Druck leiden, sich noch nicht von dem Glauben an Wunder losgesagt haben, den die Agenten des allmächtigen Kirchenfürsten von allen Kanzeln allsonntäglich verkünden. Abgeschnitten von dem großen Strom der Aufklärung, glauben sie noch an alles, was ihnen als «Wort Gottes» verkündet wird, und sie sehen in dem Bilde des Mannes, der in der ersten Reihe ihrer Bedrücker steht, einen – Heiligen. Der Weber ist in den seltensten Fällen selbst aufgeklärt genug, um seiner Frau Aufklärung bringen zu können. Es dämmert ja auch bei ihm erst, und er weiß es nicht, er ahnt es nur, daß eine neue Zeit im Werden ist, die ihr geschichtliches Urtheil über die barbarischen Zustände unserer Tage sprechen wird. Darum hängt das Bild des – heiligen – Kohn, des Besitzers einer Fabrik, von elf Bierbrauereien, acht Spiritus- und Branntweinbrennereien, zehn Mühlen, siebzehn Brettsägen, fünf Ziegeleien, Eisenwerken und des Herrn von dreiundzwanzig Schlössern**), in so vielen Weberstuben.

Daß man es auch über dem Bette des Genossen findet, erklärt er selbst mit den Worten: «Mei Frau gibt noch sehr viel drauf, ich kann ehr’s nich ausreden!» Es gibt noch viel zu thun im Weberland!

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Ein Besuch in der Friedlander Flachsspinnerei. In so armer Gegend ist es gut, Fabriken bauen. Man hat dann für den Betrieb alles billiger: die menschliche Arbeitskraft und das Rohmaterial. Die Preise beider kann man nach Belieben drücken, wenn man in der Gegend der einzige Fabriksbesitzer ist. Der Kapitalismus hat diese feine Witterung. Hart an der Mohra, die die mechanische Kraft zum Theil liefert, und ebenso nahe an der Bahn, auf der das fertige Produkt in alle Welt verschickt wird, ist stolz der mächtige Steinbau aufgeführt. Durch ein Gitterthor gelangt man in den Hof und zur Rechten ins Comptoir, wo dem «Schullehrer» gern die Erlaubniß ertheilt wird, sich die Fabrik zu besichtigen. Der Maschinenmeister ist sein Führer. Wer etwas sehen und unbefangene Auskünfte erhalten will, der muß zu dieser oder einer anderen Nothlüge greifen. Der Maschinenmeister, offenbar ein Faktotum der Fabrik, ist denn auch sehr freundlich und in jeder Beziehung ein aufmerksamer und offenherziger Führer. Es macht ihm sichtlich Vergnügen, mich in dieser Arbeitsburg herumführen zu können, er hat in seiner Herzenseinfalt große Freude an dem Besitz – anderer, den diese benützen, um auch ihn zu unterdrücken und auszubeuten.

Im Maschinenraum, wohin mich auf Geheiß des weißbärtigen Direktors ein Arbeiter führt, beginnt unser Rundgang. Eine 400pferdekräftige Dynamo, ein Maschinenkoloß, geht hier in majestätischer Ruhe seinen Gang. Sie und drei von der Mohra gespeiste Turbinen, die je 100 Pferdekräfte repräsentiren, treiben die 8000 Spindeln in den fünf bis sechs Sälen, sie treiben die große Anzahl von Maschinen, die die Vorarbeit leisten. Wie der Flachs vom Bauer kommt, so wandert er büschelweise in eine Maschine die unter furchtbarer Staubentwicklung die erste Rechung selbstthätig besorgt. Als wir, aus der frischen Luft kommend, in den Saal traten, verschlug es mir den Athem und Hustenreiz stellte sich ein, so dick ist die Luft in diesem Saale mit den unendlich feinen Stäubchen erfüllt. Wenn man eintritt, ist es, als ob der Saal von dichtem Nebel erfüllt wäre. Durch die erste Rechung gewinnt man breite, kurzhaarige Strähne, die nun zu immer weniger breiten, dafür um so längeren Bändern durch Winden gezogen werden, bis sie endlich als dicke Fäden auf den Rohspindeln und dann nach Durchlaufung eines heißen Bades auf den Feinspindeln aufgewunden werden. Die Schweiferinnen, die auf dem Dachboden ihre Arbeitsstätte haben, winden das Garn zu Strähnen, diese werden dann nach Ablagerung in der Trockenkammer zu verkaufsbereiten Paketen zusammengebunden und in den Magazinen aufgeschichtet.

Das ist in groben Zügen die Wandlung, die der Flachs zu erleiden hat, bis er zum Garn wird. Was aber die 500 Menschen erdulden müssen, die dort roboten, davon hat nur der eine Ahnung, der die verkrüppelten, mißgestalteten, flachsstaubfarbenen Geschöpfe gesehen hat; das kann nur der richtig ermessen, der durch die stauberfüllten fast gar nicht ventilirten Säle gewandert ist, da und dort Halt gemacht und der mörderischen Arbeit zugesehen, die mörderische Luft auch nur eine halbe Stunde lang eingesogen hat. Schon im ersten Saale erscheint alles Grau in Grau. Der Fußboden, die wagrechten Maschinenflächen und die Menschen haben eine Farbe. Alles ist mit einer dicken Staubkruste überdeckt. Wie mögen die Lungen aussehen? Lagert auf ihnen und nistet in ihren feinen Gängen nicht auch der athembenehmende Staub? Gewiß, und todgeweiht sind die Menschen, die hier ihre Kraft zu Markte tragen. Den Fußboden kann man fegen, die Maschinenflächen abstauben, den Körper kann man durch Wasser und Seife vom Staub reinigen, die Haare kann man auskämmen ... aber wie kann man die Lunge vom Staub befreien? Nur durch Zuführung gesunder, reiner Luft. Wann aber ist es diesen armen Menschen gegönnt, reine Luft zu athmen? Etwa in der einstündigen Mittagspause, in der sie von der eine Viertelstunde außerhalb des Ortes gelegenen Fabrik nach Hause laufen, daß ihnen der Athem vergeht? Etwa auf dem gleich hastigen Rückweg auf der staubigen Straße, die zur Fabrik führt? Oder genügt ein einstündiger Abendspaziergang, um die elfstündige Einathmung mörderischen Staubes gutzumachen? Nein, sie kann nicht genügen! Man sieht es auch den Gestalten an, wenn sie aus der Fabrik kommen, daß ihr Organismus dem inneren Feinde nicht Widerstand leisten kann.

Ein Genosse, der an der Straße wohnt und alle Arbeiter kennt, sagte mir: «Wenn ein Dienstbote vom Land frisch und gesund in die Fabrik kommt, in vierzehn Tagen merkt man den Unterschied. Es geht rapid abwärts mit dem Menschen.» Er stand auch mit mir beisammen, als Mittags der Schwarm der Sklaven aus der Fabrik kam. Da kamen sie, die hinkenden Gestalten, mit vorhängendem Gang, die Füße eingebunden, mit dem schmutziggrauen Haar, mit den tiefliegenden Augen, mit den gelben Gesichtern, die Knieweiten und wieder welche, die einen Fuß nachschleifen. Kurz Mißgestalten aller Formen, Höckerweiber, Lahme und Verkrüppelte, fast alle menschliche Skelette: Ein 38jähriges Weib, das ich auf 60 schätzte, eine Vierzehnjährige mit dem Aussehen eines schon verblühten Wesens von weit mehr als 20 Jahren. Ein etwa 11jähriges Mädchen geht vorüber. «Wie alt bist du, Kleine?» fragte ich sie. «15 Jahre!» – «Seit wann gehst du in die Fabrik?» – «Seit Ostern.» – Ein halbes Jahr hat genügt, um nicht nur die Weiterentwicklung zu hemmen, sondern das ohnedies zarte Kind noch durchsichtiger, kraftloser zu machen, um es 11 Jahre alt erscheinen zu lassen. Ein verkrüppelter junger Mensch, dessen Knochen der Staub so zerfressen, trottet jetzt an uns vorüber. «Sie hab’n ’n nich’ mehr aufgenomm’n in der Fabrik,» sagt mein Begleiter, «er is bei der Mutter daheim, sie hat a nischt zu fressen.»

Teil 4: Sonntagsbeilage zur Arbeiterzeitung vom 12. 3. 1899

Ein Opfer gewissenloser Ausbeutungssucht nach dem andern kommt vorüber.

Als mein Führer und ich in den Feinspinnsaal kamen, schlug uns heiße, feuchte und stinkende Luft entgegen. Ich muß unwillkürlich einen Schritt zurückgewichen sein, denn wie ich mich später erinnerte, ermunterte mich mein Führer, mitzukommen. Es ist ein Riesensaal, hoch und geräumig genug, um die zu beiden Seiten eines breiten Mittelganges aufgestellten Spinnmaschinen aufzunehmen. Zwischen je zwei Maschinen, auf denen ungezählte Spindeln schnarrend rasseln, ist eine Gasse, in der die hier zumeist ganz jugendlichen Arbeiterinnen und Arbeiter darauf zu achten haben, daß kein Faden an den Spindeln reißt, und daß die volle Spindel ausgewechselt wird: Eine Arbeit, die Behendigkeit, Geschicklichkeit der Finger und ein gutes Auge erfordert. Jedes dieser kaum der Schule entwachsenen Kinder athmet direkt heiße Luft, denn über den Spindeln dampft das Garnbad. Endlich platze ich heraus: «Ja, haben Sie denn keine Ventilation? Die Atmosphäre ist ja fürchterlich.» – «O ja, sehen Sie dort den großen Luftfänger.» – «Das genügt doch nicht für den Riesensaal. Ist denn keine Möglichkeit vorhanden, solchen Sälen reine Luft zuzuführen? Sind alle Betriebe so schlecht?» – «Ja in England haben wir in den Sälen ganz reine Luft.» – «Warum ist das bei uns nicht möglich?» – «Ja, sehen Sie ... wissen Sie ... das ist so eine eigene Sache ... ja, wir haben ja eine Ventilation, und eine zweite? Da wäre Zugluft, und die können die Leute nicht vertragen.»

Nun endlich wußte ich, daß die Friedlander Aktionäre nur aus purer Menschlichkeit ihre Säle nicht ventilieren, und daß sie lieber die Arbeiter der Tuberkulose ausliefern, ehe sie die Ventilationen bauen, die Gicht und Gliederreißen bringen. Ob in England wohl auch alle Spinnerei-Arbeiter Gliederreißen haben? Der Gewerbe-Inspektor dieses Bezirkes scheint derselben Ansicht zu sein, sonst hätte er diesem Skandal schon längst ein Ende machen müssen.

Es bleibt nur noch die Frage nach dem Lohne, von dem ich in einem vorigen Kapitel schon ein Beispiel anführte: die Braunseifener Mutter, die hier ihre Haut um 40 kr. zu Markte trägt, um ihren Kindern Brot und Hundefleisch bieten zu können. Den besten Lohn haben die Garnbinder, nämlich 6 fl. wöchentlich, aber ihrer gibt’s nur wenige. Die männlichen Taglöhner haben 60 bis 65 kr., die im Vorspinnsaal beschäftigten Frauen verdienen sich im Akkord 40 bis 50 kr., die Kinder im Feinspinnsaal 30 bis 36 kr. im Tag, die Anfänger auch noch weniger. Die männlichen Spinner haben auch Akkordlohn. Sie verdienen je nach der Stärke des Garns 70 bis 80 kr. Die Hasplerinnen endlich heimsen nach vierzehntägiger Akkordarbeit 5 bis 6 fl. Lohn ein.

Wie groß muß das Elend in dieser Gegend sein, wenn die Leute um diese Arbeit noch buchstäblich betteln! Die Webfabrikanten haben dafür gesorgt: Vor den Thoren der Friedlander Fabrik stehen die Braunseifner Weber als Reservearmee. Sie sind die vom Hunger hiezu gezwungenen Lohndrücker ... mit ihrem Blute zahlen sie und die Friedlander das Champagnerbankett der Aktionäre, das alljährlich am Tage der Dividendenvertheilung in Friedland stattfindet.

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Bilder von der Straße. Das einsame Wandern hat viel für sich. Dem Einsamen offenbart sich die Natur viel mehr, weil er Zeit zur Beobachtung findet, und Wandert Einer allein, so hat er auch viel leichter Gelegenheit, da und dort mit dem oder dem ins Gespräch zu kommen, und er erfährt gar vieles über Land und Leute, über Sitten und Verhältnisse, was dem verborgen bleibt, der in Gesellschaft durch die Lande zieht.

Es war auf der Straße von Römerstadt nach Freudenthal. Heiß brannte die Sonne nieder, hatten wir doch schon die größere Hälfte des Vormittags hinter uns. Wir: das alte Mauthweib und ich. Sie war lange ihren gemüthlichen Trott vor mir gegangen, bis ich sie endlich in der Höhe von Irmsdorf überholte. Sie mochte ihre 60 Jahre zählen. Am linken Arm trug sie in ein Tuch gebunden einen Leiterwagen aus der Spielereiwaarenhandlung. Ein Geschenk für ihren Enkel, wie sich später herausstellen sollte. Sie fragte nach der Zeit. «Es geht auf elf Uhr.» Kaum hatte ich das gesagt, als sie einen Anlauf zu schnellerem Gehen machte. Ich hielt Schritt, und bald gab ein Wort das andere. Sie war Mautheinnehmerin von Klein-Stohl, ein kleines Bauerndorf hart an der Grenze Schlesiens. Auch sie wußte nur von der Ungunst der Zeit zu erzählen. Der Fortschritt in der Verkehrstechnik ist ihr Feind. Ja, früher einmal, wie es noch keine Eisenbahn gab, ja auch noch vor wenigen Jahren, als der Bicyclesport noch kein so allgemeiner war, da hatte sie gute Zeiten. Es kamen doch Tag für Tag einige «Kalleschen» an ihrem Mauthäuschen vorüber. Da gab es noch Verdienst. Aber heute hat fast schon jeder sein Bicycle, und der Pacht wird doch nicht geringer. Sie zahlt dem Mauthpächter 28 fl. im Monat, und da muß sie verflucht zusammenhalten, um mit dem Uebrigen ein Auskommen zu finden. Dennoch hat der Staat herausgefunden, daß auch sie erwerbsteuerpflichtig ist, und eben kommt sie von der Steueradministration in Römerstadt, wo sie wegen der angekündigten Steuervorschreibung Vorstellungen gemacht hat. Der Beamte hatte ihr nichts Bestimmtes zugesagt und in ihrem Herzen blieb die quälende Sorge zurück, daß ihre Abgaben noch höhere werden sollen. Woher denn auch nehmen und nicht stehlen! Ihr Mann ist Taglöhner im Schieferbruch und hat den ortsüblichen Taglohn von 55 bis 60 kr., wofür er bei der landesüblichen Schlamperei in den Schieferbrüchen täglich sein Leben riskiert.

Das alles erzählt die Frau und noch viel anderes mehr. Ehe wir es uns versehen, steht das Mauthhäuschen vor uns. Ein dreijähriger Knirps läuft der Großmutter entgegen, die nun behende ihre Herrlichkeiten auspackt. Einmal im Besitz des Leiterwagens, läßt der kleine Egoist die Großmutter – Großmutter sein und zieht laufend den Wagen hinter sich her.

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Im Garten des Dorfwirthshauses sitze ich zwar allein bei meiner Wurst und einer Flasche Bier – ein warmes Mittagmahl ist im Dorfe nicht zu haben, – aber ich bin nicht allein. In der Hütte der Kegelbahn sitzt ein betrunkener Musikant und stiert mit gläsernen Augen auf einen weinenden Knaben, der die Bank mit ihm theilt. Zwischen beiden steht ein «Sechzehntel»-Fläschchen wasserhellen Branntweins, dem der Alte fleißig zuspricht. Nach jedem Schluck redet er von neuem auf den Knaben ein. «Also wirst du mir heilig versprechen, daß du lernen wirst? Wie ich so ä Bu’ war wie du, hab’ ich mir schon allein mein Geld verdient, da bin ich mit der Geige in die Gasthäuser spielen gegangen und du, du dummer Bu’, kannst gar nischt, liegst deinem Vater in dem Sack und willst nicht lernen ... Du, ich erschlag’ dich ... Du, der Bu’ von ein’m so beriehmten Musiker ... geh’ fort, lauf’ ihr nach, deiner Mutter, geh’ zu ihr, geh’, geh’ ... ich erschlag’ dich, Hund, verfluchter ... bist nicht werth, daß ich dich erschlag’ « ... So geht es fort in häßlichen Tönen bis er wieder einen Schluck macht. «Da trink’, Bestie!» Er reicht dem höchstens Zwölfjährigen die Schnapsflasche hin. «Du willst nicht? Trink’, sag ich dir, trink’ oder ...» Er holt mit der Hand zum Schlage aus ... Der Knabe greift nach der Flasche. Die Thränen laufen ihm über die Wangen, während er trinkt. «Trink’ aus und hol’ a frisches. Hast a Geld?» – «Ja. Ja!» Und schon läuft der Junge, froh, aus dem Bereich des Trunkenboldes zu sein, der nun dumpf vor sich hinstiert.

Die Wirthin erzählte mir später, daß dem Musikanten am Tage vorher sein Weib durchgegangen sei, und daß er seither saufe und den Knaben für alles verantwortlich mache.

Armes Kind, was soll aus dir werden? Im besten Falle wirst auch du ein betrunkener Dorfmusikant, ein «beriehmter Musiker», wenn du nicht bald in andere Hände kommst.

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Steinklopferkinder. Im Thale der Biela, auf der Straße von Waldenburg nach Thomasdorf, die sich längs der Hänge des Altvatergebirges hinzieht, traf ich Kinder bei der harten Arbeit des Steinklopfens. Es war eine Partie von drei zehnjährigen Knirpsen, die am Rand der Straße Schotter schlägelten. Der kräftigste handhabte den langstieligen Hammer, den er stehend über seinen Kopf schwang und dann auf einen Steinblock niedersausen ließ. Oft mußte er vier-, fünfmal hinschlagen, bis der Block entzwei war. Die anderen zwei saßen auf Schotterhäufchen – vor sich größere Stücke, die sie zerkleinerten und dann auf den großen Haufen warfen, der zwischen ihnen bereits aufgeschichtet lag. Mich interessierten die Lohnverhältnisse dieser «Arbeiter». Sie bekommen für den ganzen Haufen 1 fl. 20 kr. Lohn. Wie lange sie brauchen? «Es kommt schon vor, daß größere Bub’n in drei Tagen fertig werden, wann sie sehr fleißig sind.» «Wie lange braucht denn ihr?» «Fünf bis sechs Tage,» sagte der Größte nach einigem Besinnen. «Und wie lange arbeitet ihr täglich?» «Von früh bis Abends.» Von 6 Uhr Früh bis 7 Uhr Abends, erfahre ich nach genauerem Fragen. Mittag halten sie eine Stunde Rast. Also: Arbeitszeit zwölf Stunden und dafür ein Lohn von 6 2/3 bis 8 Kreuzer. Das sind die Erwerbsverhältnisse der Steinklopferkinder im Hungerland Schlesien. Das ist der Preis, den die armen Eltern dieser noch ärmeren Kinder dafür erhalten, daß sie die Erlaubniß zum Hinmorden ihrer Kinder geben. Die Kinder selbst erhalten für ihre Arbeit nur ungenügende Nahrung.

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Der Lohn des Webers. Wer eine wahren Einblick in die Lage der Weber bekommen will, der darf sich nicht begnügen, da oder dort anzuklopfen und einfach zu fragen: «Wie viel verdienst du in der Woche?» Er wird wohl einen ungefähren Begriff von der furchtbaren Ausbeutung des Webers bekommen, aber ein Bild von dem Marktpreis, der für die Arbeitskraft der Weber gegenwärtig gezahlt wird, wird er nicht haben. Das ist aber die Basis, auf der allein man weiterbauen kann. Der Vertrauensmann der sozialdemokratischen Organisation in Freudenthal, ein tapferer, opferwilliger Genosse, der mit hoher Intelligenz begabt ist, nahm mich mit offenen Armen auf, als er den Zweck meines Kommens erfuhr. Für den Tag war es aus mit der Arbeit – er kletterte nur noch einmal auf die Weberbank, um mir die Anstrengung des Webens recht deutlich zu demonstriren. Die ist schon an anderer Stelle geschildert.

Stundenlang, bis zum späten Abend, saßen wir beisammen und rechneten und schrieben, bis wir ein anschauliches Bild gewannen. Ich will mich bemühen, es wiederzugeben. Vom rohen Garn bis zum fertigen Gewebe ist ein weiter Weg. Er ist der Dornenweg des Webers. Gehen wir ihn im Geiste.

Ein schweres Bündel auf dem Rücken, keucht der Weber durch die Straßen. In ein Tuch eingebunden schleppt er von der Faktorei das Garn nach Hause. Wir folgen ihm dorthin. Das Garn ist in Strähnen zusammengefaßt. Zuerst kommt es in die Windmaschine. Da sitzt des Webers Frau und windet durch das Treiben des Rades jeden einzelnen Faden auf eine «Pfeife» (Spule). Die «Pfeifen» werden dann auf das «Scheerstöckel» – ein Holz- und Drahtgestell von der Form der Rechenmaschine für Kinder –, und zwar jede einzelne auf einen Drahtstift gesteckt, das Fadenende jeder «Pfeife» durch das sogenannte «Scheerholz» gezogen, um schon als «Kette» auf den «Scheerrahmen» übertragen werden zu können. Der «Scheerrahmen» ist ein Holzgestell von der Form eines vierseitigen Prismas, das um eine Achse gedreht wird. Ist nun endlich aus den Strähnen derart die Kette geworden, so beginnt die schwierige Arbeit des «Aufbäumens». Die Kette muß auf den «Garnbaum» straff und gleichmäßig aufgewunden werden. Das ist eine Arbeit, zu der unbedingt sechs Personen erforderlich sind: zwei, die die Kette halten, zwei, die die «Holzrechen» führen, das heißt, die darauf achten, daß die Kette gleichmäßig aufgebäumt wird, daß kein Faden reißt etc., und endlich zwei, die den Garnbaum mit Holzhebeln drehen. Es ist eine für alle sechs Personen anstrengende Arbeit. Endlich ist die Kette auf dem Garnbaum und dieser selbst wieder auf den Webstuhl gehoben. Nun erst beginnt die zeitraubendste «Vorarbeit». Die Kette muß «angeknüpft» oder «angedreht» werden, das heißt es muß Faden für Faden an den Rest des alten Gewebes angeknüpft werden, damit das Weben vor sich gehen kann. Das ist Frauen- und Kinderarbeit, die es mit ihren zarteren Fingern leichter zuwege bringen, tausende von Fäden durch das «Zeug» zu ziehen und jeden einzelnen Faden an den korrespondirenden Faden des Zeugtuches anzuknüpfen oder anzudrehen. Je dünner der Faden, desto mehr Fäden sind zu knüpfen, desto peinlicher ist die Arbeit. Wir stehen an einem Webstuhl, an dem erst 6560 Fäden die Kette bilden. Es ist ein sogenannter Jacquardstuhl, auf dem Tischläufer, feine Tücher, Servietten und sonst feine Gewebe erzeugt werden. Für das Andrehen dieser Kette – eine Arbeitsleistung von zwölf bis fünfzehn Stunden, wird – 40 kr. Lohn und die Kost gezahlt. Auf einem zweiten Stuhl ist eine Kette mit 2680 Fäden gebäumt. Der Lohn für das Anknüpfen beträgt 26 kr. baar und das Essen, das in die Zeit der Arbeit fällt, als Naturallohn. Die letzte Vorbereitungsarbeit an der Kette ist das «schlichten». Der Weber muß die zwischen zwei Bäumen straff gespannte Kette einnässen, dann trocken bürsten und mit Unschlitt einfetten.

Soweit die Vorbereitungsarbeit für die Kette. Es bleibt noch die Vorbereitung für den Schuß. Das Garn, das hiezu von den Fabrikanten gegeben wird, ist nie der Art, daß man es gleich verwerthen kann. Man muß es vorerst «abbrennen», stärken und trocknen, dann erst können die Strähne gespult werden. Ist auch das geschehen, dann beginnt erst die eigentliche Arbeit des Webers, das Weben selbst.

Ermitteln wir nun, welcher Arbeitsleistung die Vorbereitung entspricht. Als Beispiel diene ein 100 Meter langes Stück.

Die Kette:

 
1. Das Aufwinden (Spulen) 48  bis  50 Stunden
2. Das Scheeren 8  bis  10 "
3. Das Aufbäumen, sechs Personen à 1/2 Stunde 3  bis  3 "
4. Herrichten des Baumes durch den Weber 1 1/2  bis  1 1/2 "
5. Anknüpfen 7  bis  8 "
6. Schlichten 1/4  bis  1/4 "

Das macht zusammen für die Kette
eine Arbeitsleistung von
Im Durchschnitt 70 Stunden.
67 3/4  bis  72 3/4 Stunden
 

Der Schuß:

 
1. Abbrennen, Stärken etc 4 Stunden
2. Das Spulen von 110 Strähnen à 20 Spulen, jeder Strähn 1/2 Stunde 55 "

            Zusammen für den Schuß 59 Stunden
            Hiezu Durchschnitt für die Kette 70 "
 

Es entspricht also die Vorbereitungszeit für dieses Stück einer Arbeitsleistung von 129 Stunden.

Wir kommen nun zum Weben selbst. Da muß uns das Lieferbuch aushelfen. Wir greifen ein beliebiges Hundertmeterstück heraus. Das Garn wurde dem Weber am 28. November eines Jahres übergeben, am 8. Jänner des folgenden Jahres liefert er es ab. Er bekam dafür in den aufeinenderfolgenden Wochen einen Lohn, besser gesagt Vorschuß, von 2 fl. 10 kr., 5. Fl. 65 kr., 11 fl. 16 kr., 5 fl. 76 kr. und 96 kr., also einen Gesammtlohn von 25 fl. 63 kr. für eine Periode von 42 Tagen, die Sonntage nicht mitgerechnet. Da Frau und Kind dem Weber beim Vorrichten helfen, rechnet er dafür nur 3 1/2 Arbeitstage. Die übrigen 38 1/2 Tage hat er am Webstuhl zugebracht, um das Gewebe fertigzustellen. Den Arbeitstag zu vierzehn Stunden gerechnet – die Sonntage füllt der Weber gewöhnlich mit Vorrichtarbeiten aus – erhalten wir für das Weben eine

 
Arbeitsleistung von 539 Stunden
Hiezu die Vorarbeit 129 "

In Summe eine Arbeitsleistung von 668 Stunden
 

So haben wir nun zwei wichtige Ziffern gefunden, die eine furchtbare Sprache reden – sie drücken prägnant das Weberelend aus: 668 Stunden Arbeit für 25 fl. 63 kr. Bruttolohn, das entspricht einem Stundenlohn von 3.84 kr. Rechnet man diese Arbeitsleistung auf den Achtstundentag um, so findet man, daß der Weber 83 1/2 Tage arbeiten müßte für einen Gesammtlohn von 25 fl. 63 kr. Er hätte dann einen Taglohn von 30,7 kr. In Wirklichkeit hat er einen Durchschnittslohn von 61 kr. bei Ausbeutung seiner Familie und eigener Arbeit von täglich vierzehn Stunden.

Dieser Lohn ist aber keineswegs schon reiner Lohn, den er nur für sich und seine Familie verwenden könnte. Von den 25 fl. 63 kr. muß er 2 Kilogramm Stärke = 52 kr. und um 18 kr. Unschlitt kaufen. Das ist unerläßliches Zugehör. Zu diesen 70 kr. kommt noch der auf den einen Stuhl repartirte Zins. Auch das ist leicht berechnet. Der Weber bewohnt mit seiner Familie und seinem Gesellen ein großes Zimmer, dessen Hälfte die beiden Stühle einnehmen. Er zahlt 72 fl. jährlichen Zins, also ein Tag etwa 20 kr. Den Raum, den ein Webstuhl beansprucht, zahlt er also im Tag mit 5 kr. oder in 42 Tagen mit 2 fl. 20 kr. Hiezu kommt noch die Abnützungsquote für das Werkzeug – «Schützen» und Bürsten gehen am meisten zugrunde. Sechs Gulden im Jahr für zwei Stühle ist gering gerechnet. Für den Stuhl und das hiezu gehörige Werkzeug ergibt sich demnach eine tägliche Abnützungsquote von 0,8 kr. oder für 42 Tage 33,6 kr. Wir sehen also, daß sich der im Lieferbuch ausgewiesene Lohn von 25 fl. 63 kr. als Bruttolohn darstellt. Der Nettolohn beträgt 22 fl. 40 kr. und somit der wahre Stundenlohn 3,35 kr. Die Wienerberger Ziegelarbeiter traten in ihren letzten Streik, weil sie ihre Stundenlöhne von 5 auf 7 kr. erhöht haben wollten, und ein Schrei der Entrüstung ging durch die gesittete Welt, als diese Ziffern bekannt wurden. Der schlesische Weber muß mit der Hälfte des Stundenlohnes zufrieden sein, den der Sklave vom Wienerberg hat. Dies Thatsache, diese Ziffer illustrirt am besten das Weberelend, von dem so viele sprechen, ohne es zu kennen. Sie ist namentlich denen fast ganz unbekannt, die die Mittel dazu haben, das Produkt dieser Blutarbeit zu kaufen. Die vornehmen Damen, die mit ihrer kunstvollen Tischwäsche prunken, die das ihnen darob von Schmeichlern gespendete Lob oder das neidische Lob der «guten» Freundinnen mit selbstbewußtem Lächeln hinnehmen – sie wissen nicht, daß an jedem der tausend feinen Fäden des Gewebes Blut klebt – das Blut der schlesischen Weber.

Teil 5: Sonntagsbeilage zur Arbeiterzeitung vom 19. 3. 1899

Das vierzehnjährige Hausmütterchen. Während wir am Tische saßen und diesen grausamen Thatsachen auf den Grund gingen, bot mir die kleine Julie, das vierzehnjährige Töchterchen des Webers, zu diesen Thatsachen eine Illustration, wie sie packender nicht gedacht werden kann. Da saß sie auf einem Stuhl, der mitten in das Viereck des Webstuhls hineingestellt war, hinter der durchsichtigen Wand der Zeugschnüre und knüpfte unermüdlich Faden um Faden an, um dem Vater die unerschwingliche Ausgabe für die Anknüpferin zu ersparen. Ihre zarten Fingerchen haschten so behende nach den einzelnen Fäden und so schnell war der Knopf gemacht, daß man fast gar nicht ihren Bewegungen folgen konnte. Wie ihre Finger, so zart ist auch das Kind. Ein fast durchsichtiger Körper, eckig, Haut und Knochen, eingehüllt in altmodische Lumpen. Und dabei doch alles so nett. Das blutlose, nicht unschöne Gesichtchen weiß wie Schnee, ebenso die Hände, durchzogen von ganz feinen blauen Aederchen. Dabei ein Paar dunkler Augen, die so altklug in die Welt blicken. Dieses Leben macht früh alt, früh klug.

Als ich die Stube betrat, prasselte gerade ein erlösender Gewitterregen nieder. Jetzt lachte der blaue Himmel nieder, und die Nachmittagssonne spiegelte sich in den Millionen Tropfen, die an den Gräsern und Blumen und Blättern im Garten hingen. Einen Moment ließ die kleine Julie die Arbeit ruhen. Sehnsüchtig blickte sie durch die Fensterscheiben hinaus in die lachende Natur, die nach dem Regen noch einmal so frisch und schön schien. Da spielte sich eine Szene voll rührenden Elends ab: Der Weber und ich hatten die Sehnsucht des Kindes nach dem Freien bemerkt. Eine Weile sah der Vater das Kind an, dann sagte er mit weicher, etwas unsicherer Stimme: «Geh, Julie, thu’ jetzt arbeiten, du weißt, daß es fertig werden muß, dann kannst du ja hinaus.» Eine flüchtige Röthe huschte über ihr Gesichtchen, es war so, als fühlte sie sich bei einem Unrecht ertappt ... und doch, was hatte sie gethan, als unbewußt Sehnsucht geäußert nach der freien Natur, kindliche Sehnsucht nach Luft und Sonnenschein, die gerade ihr so nothgetan hätten, ihr, dem blutlosen Geschöpf, das eine Herkuleslast auf seinen Schultern zu tragen hat? Armes Kind, nicht einmal Luft und Sonnenschein sind für dich da! Du trägst den Fluch, ein Weberkind zu sein.

Wir rechneten weiter. Es galt, den Lohn des Gesellen zu eruiren. Das nächste Beispiel im Lieferbuch war günstiger. 521 Arbeitsstunden, 24 fl. 44 kr. Bruttolohn für den Meister. Wirkliche Arbeitsperiode: 28 Tage. Die Hälfte des Bruttolohnes, also 12 fl. 22 kr., sind der faktische Geldlohn des Gesellen, von dem er noch das Anknüpfen bezahlen muß, so daß vier Wochen Arbeit in diesem günstigen Falle einem Lohn von etwa 12 fl. entsprechen. Außerdem bekommt er vom Meister die Mittagskost, die Schlafstelle, das ganze Zugehör, und der Meister hat für die Vorbereitungsarbeit zu sorgen und ist zugleich sein Lieferant, so daß er stets unbehindert fortarbeiten kann. Ein «Werft» (Kette) und zwei Schuß hat der Meister vom Fabrikanten stets voraus, damit in der Arbeit keine Unterbrechung eintrete.

Wie viel Profit heimst also der Meister von dem Gehilfen ein?

Um ein Bild, das mehr dem Durchschnitt entspricht, zu gewinnen, nehmen wir die beiden angeführten Beispiele zusammen. Wir finden dann einen Bruttolohn von 50 fl. 7 kr. (25 fl. 63 kr. und 24 fl. 44 kr.) für die Zeit vom 28. November bis zum 29. Jänner. Das sind 63 Tage oder neun Wochen. Der Bruttolohn, den Meister und Geselle theilen, beträgt für die Woche 5 fl. 56 kr., oder für jeden 2 fl. 78 kr. Der Geselle zahlt von seinem Gesammtlohn von 25 fl. 3 kr. 2X26 kr. für das Andrehen weg. Er hat also in neun Wochen einen Geldlohn von 24 fl. 51 kr., oder in der Woche 2 fl. 73 kr.

Was hat der Meister von seinem Antheil (2 fl. 78 kr.) wegzuzahlen?

Nach dem «ortsüblichen» Lohn kostet das Spulen und Scheeren per Kette 1 fl. 30 kr., für die zwei Ketten, die neun Wochen Arbeit erfordern, also 2 fl. 60 kr. oder für eine Woche 29 Kreuzer.

Das Spulen des Schusses (220 Strähne für zwei Ketten) kostet nach dem Lohnsatz von 4 kr. für drei Strähne 2 fl. 93 kr., was einer wöchentlichen Ausgabe von 32 kr entspricht.

Der Werkstättenzins kostet für jeden Stuhl pro Tag 5 kr., in der Woche 35 kr.

Der Wohnungszins entspricht nach der im vorigen Abschnitt angestellten Berechnung einem Achtel des ganzen Raumes für jede der vier Personen, die die andere, von den Stühlen und Webergeräthen nicht eingenommene Hälfte des Zimmers bewohnen. Er entspricht also einer wöchentlichen Geldleistung von 17 1/2 kr.

Die Mittagskost: Was kostet die für die Person? Bei dieser Frage stutzt der Weber. Verlegen krault er sich hinterm Ohr. «Da weiß ich kein’ Bescheid. Das sind Weibersachen. Da müss’ mer schon de Kleine rufen ... Geh’, Julie, komm’ ’mal har!» Flink wie ein Eichkätzchen klettert sie aus dem Webstuhl hervor und nimmt theil an dem Rath der Männer. Ihre Augen leuchten. Jetzt kommt doch auch sie – die «Hausfrau», zur Geltung. Die Mutter ist seit einem Jahre todt, und die Großmutter, das zweite weibliche Wesen in dieser Gemeinschaft, ist zu alt, zu mißmuthig, zu wenig beweglich, zu entkräftet, um die Hauswirthschaft führen zu können. Sie sitzt den ganzen Tag auf ihrem Schemel und treibt das Spulrad. Die Vierzehnjährige ist die Hausfrau, sie kocht und wäscht und reibt, sie besorgt die Einkäufe, sie stellt die kärgliche Mahlzeit auf den Tisch und macht dann die Stube wieder sauber ... kurz, die kleine Julie hat die Mutterstelle übernommen, und der Vater, der Geselle und Großmütterchen sind ihre Kinder. Sie bemuttert alle. Was für eine gute Hausfrau sie ist, sollte ich gleich erfahren. Danke ich es doch ihr und ihrer Rechenkunst, daß ich auf den Kreuzer genau erfuhr, was die Mittagskost für den Gesellen kostet. Unter der Woche: 1/4 Kilo Rindfleisch für vier Personen: 15 kr.; Mehl für Knödel: 5 kr.; für Sauce oder Salat: 8 kr.; Speck 4 kr.; Suppenzugehör (Knochen und Gemüse) 4 kr.; Salz 2 kr. und Feuerung 4 kr. Das macht 52 kr. für vier Personen oder 13 kr. für die Person. Für die sechs Wochentage also 78 kr. per Person. Am Sonntag ist etwas mehr Fleisch und die Zuspeise reichlicher, so daß das Essen zirka 70 kr. kostet, das sind rund 18 kr. für die Person. Die Mittagskost für den Gesellen kostet also nach der Rechnung der kleinen Wirthschafterin in der Woche 96 kr.

Als jährliche Abnützungsquote für einen Stuhl und für das Werkzeug haben wir 3 fl. angenommen. Das macht in der Woche 6 kr. und das Zugehör (Unschlitt und Stärke) kostet nach unserer Rechnung 15 1/2 kr. per Woche (70 kr. für jede Kette).

Wir haben nun folgende auf eine Woche berechnete Ziffern gefunden:

 
Herrichten der Kette 29 kr.
Herrichten des Schusses 32 "
Werkstättenzins 35 "
Wohnungszins 17 1/2 "
Mittagskost 96 "
Abnützungsquote für das Werkzeug 6 "
Und Zubehör für die Kette 15 1/2 "
 
  Zusammen 2 fl. 31 kr.
 

Nun wissen wir endlich, daß der Meister von seinem wöchentlichen Antheil an dem Lohne des Gehilfen, also von 2 fl. 78 kr., «nur» 2 fl. 31 kr. wegzahlen muß, um dem Gehilfen die Arbeitsmöglichkeit zu geben.

Es bleiben ihm somit 47 kr. in der Woche – Profit! ... Profit? Nein, weit gefehlt. Diese 47 kr. sind der Botenlohn, den der Gehilfe dem Meister dafür zahlt, daß dieser ihm das Garn ins Haus bringt und dann die Waare abliefert, der Lohn dafür, daß er ihn für die betreffende Arbeit abrichtet, daß er die Waare nachsieht, daß er die Verantwortung für die Güte der Arbeit dem Fabrikanten gegenüber trägt, daß er oft drei Stunden und auch noch länger warten muß, bis ihm die gnädigen Beamten den Lohn auszahlen. Diese 47 kr. sind eine kleine Entschädigung für alle die Chikanen und Unannehmlichkeiten, die der Weber in der Faktorei mitzumachen hat, die Gerhart Hauptmann so glänzend in seinen «Webern» geschildert. Die Fabrikanten Dreißiger, die Expedienten Pfeifer, die Kassierer Neumann sind noch lange nicht alle. Man findet sie fast in jeder Faktorei.

Teil 6: Sonntagsbeilage zur Arbeiterzeitung vom 26. 3. 1899

Dem Altvater zu. Die Mittagssonne brannte heiß nieder, als ich wieder der Stadt den Rücken kehrte. Es war Sonntag, und einige Genossen Freudenthals hatten es sich nicht nehmen lassen, mir ein gut Stück Weges das Geleite zu geben. Daß sie mich dann bis zu meiner nächsten Nachtstation, dem gut fünf Stunden weit entfernten Karlsbrunn begleiteten, lag nicht in ihrer ursprünglichen Absicht. Die Löwen hatten Blut geleckt – die Weber Luft gerochen, und einmal draußen in der freien Natur, weitete sich ihre Brust und sie wollten nicht zurück. Es war ein großes Opfer für sie – das wollten sie aber nicht bedenken – sie wollten überhaupt nicht für ihre Füße denken – sie wollten der Freude des für sie seltenen Naturgenusses leben. Hätte ich da ein Recht gehabt, sie zu stören, wenn mich auch der Gedanke quälte, daß ich die unschuldige Veranlassung dieser Exkursion war, und daß sie ja ebenso weit zurücklaufen mußten und noch dazu in stockfinsterer Nacht, um am frühen Morgen wieder am Webstuhl sitzen zu können? Ich fügte mich mit Freuden in das Unvermeidliche, denn es war ein fröhliches Wandern. Wir traten uns menschlich näher, und gar manchen Blick in die Seele dieser braven Menschen konnte ich thun.

Auch die kleine Julie gab mir das Geleite. Freilich nicht weit, nicht bis in den tiefgrünen Wald, der Karlsbrunn umsäumt, konnte sie mitgehen ... ihr zarter Körper hätte einen solchen Marsch nicht ausgehalten. Aber bis Altstadt durfte sie mit. Kaum drei Viertelstunden Weg auf der Landstraße, die von einer Allee eingesäumt ist, und doch erglühte ihr sonst farbloses Gesicht in frischem Roth, als wir im Dorfwirthshaus die erste Rast hielten. Sie war noch nie so weit gekommen. Für sie bedeutete schon das Dorf Altstadt eine neue Welt. Von der Ferne mag sie es schon öfter gesehen haben ... in sehnsüchtigem Verlangen, denn dahinter grüßt den Blick abschließend, der Altvater herab, der sagenhafte Bergriese, der das Hügelland ringsum beherrscht. Das Scheiden wurde ihr schwer. Sie wäre so gern mit uns gelaufen ... weit, so weit als möglich, hinein in den Sonnentag ... man sah es ihr an. Lange stand sie allein mitten auf der Dorfstraße und blickte uns nach, ehe sie sich zum Heimgang wendete – zurück zur Webstube, die ihr Sonnenschein und Luft versagt. Armes Kind!

In Vogelseifen wurden wir mit Blumen bedacht. Wie in der Einschicht steht das Häuschen eines alten Webers dort abseits der Dorfstraße. Idyllische Ruhe umgibt es. Eine Elendsidylle! Von den Fenstern der Stube hängen Schlingpflanzen herab, und Feuerblumen ranken sich vom Erdboden zur Höhe, sorgsam gepflegt von der Hand des alten Webers. In dem kleinen Gärtchen vor dem Fenster sieht er seinen ganzen Schatz, seine ganze Freude, und hie und da zieht er wohl auch kleinen Nutzen aus seinem geringen Besitzthum, indem er seine kostbaren Rosenstöcke verkauft. Am 1. Mai trennt er sich von seinen liebsten Kindern und windet sie zu einem mächtigen Maienstrauß, den er den Freudenthaler Genossen in ihr Jammerthal bringt als Gruß aus der freien Natur. Dies läßt sich der biedere Alte einmal nicht nehmen. Wenn er auch das ganze Jahr nicht hinauskommt, am 1. Mai muß er dabei sein.

Es begann schon zu dunkeln, als wir, aus dem finsteren Walde heraustretend, plötzlich inmitten eines modernen Kurortes standen. Ein Lawntennis-Platz, auf dem sich kokett geputzte Damen und Herren vergnügten, war der erste Gruß aus dieser Welt, an deren aufdringliches Treiben ich seit meiner Wanderung durchs Weberland nicht mehr gemahnt worden war. Da standen wir denn wieder inmitten der «großen Welt», mitten unter parfümirten Damen, geschniegelten und gewichsten Herren, Mieder tragenden Offizieren, und rechts und links standen freundliche Villen im Schweizerstil; da und dort Springbrunnen, Blumenbeete, mit künstlerischem Geschmack angeordnet; feiner Kies, auf dünne Schuhsohlen berechnet, lag auf dem Boden; hell erleuchtete Verkaufsläden, in denen «Andenken» aufgestapelt waren, lockten Käufer an ... Der Uebergang von der einsamen Waldesherrlichkeit zu dieser Kolonie des Reichthums war ein ganz unvermittelter ... ein Beweis für die herrliche Lage Karlsbrunns, das von Schwärmern als das schlesische Gastein bezeichnet wird.

Nach einem Abschiedstrunk mit meinen Freunden trennten wir uns. Es war bereits dunkel, als die Braven den Heimweg antraten. Der Mond leuchtete ihnen auf den Weg. Groß und hell funkelnd hob er sich vom Schwarz des Tannenforstes ab, hinter dem er aufstieg, und zeichnete mit seinem Licht das feine Geäste der Bäume. Ein entzückend schönes Bild. Unten im Garten wispelten die Küchenmädchen mit den Kellnern und Köchen und schäkerten und scherzten. Die Nacht war angebrochen und damit die Zeit ihrer Erholung. Den stummen Naturbewunderer am Balkon bemerkten sie nicht...

Hell und leuchtend grüßte mich um fünf Uhr früh der Morgen. Die Tannen glitzerten und funkelten im Glanz der Morgensonne, als wären sie übersäet von Millionen und Millionen Edelsteinen. Jeder Thautropfen ein Diamant. Tiefes Schweigen lag über dem Walde; nur die Finken und Meisen boten dem einsamen Wanderer, der bergan stieg, ihren Morgengruß. Tiefer drin im Forst raschelten im Gezweige nimmersatte Eichhörnchen, die, wenig scheu, an sich herankommen und sich bei ihrem niedlichen, putzigen Thun beobachten ließen. Nicht größer und herrlicher kann sich die Natur zeigen, als wenn man sie allein bewundert, wenn man sie allein genießt. In Gesellschaft mit anderen wird man gar zu viel abgelenkt ... über dem Horchen auf die Stimme des Freundes überhört man allzu leicht die tausend Stimmen des Waldes, die intimen Einblicke in das geheimnißvolle Weben der Natur gehen Einem verloren – es ist getheilte Freude.

Kaum hat mich der Wald aufgenommen, als auch schon fernes Rauschen an mein Ohr schlägt, und mächtiger und mächtiger wird der Sturmgesang der weißen Oppa, bis ich an einer Biegung des Weges plötzlich am Ufer des schäumenden Wildlings stehe, der, sich selbst millionenmal überstürzend, dem Thale zustrebt. Er singt ein gar gewaltiges Lied, ein Sturm- und Kampflied, ein Trutzlied dem Wanderer, ein Loblied dem, der ihm das Leben gegeben, dem Altvater. Bezwinge ihn, steige auf seinen Rücken, und du wirst einstimmen in mein Lob, du wirst es begeistert mitsingen ... Das ist der Refrain des Liedes, das er braust. Er weist mir den Weg. Entgegen dem ausgewaschenen Gerinne der weißen Oppa zieht sich bald links, bald rechts der Steig zur Höhe. Es ist eigentlich eine Promenade mit sanfter Steigung – ein Werk des mährisch-schlesischen Sudetengebirgsvereins, der seine Aufgabe, die vielen Naturschönheiten der Sudeten den Menschen möglichst bequem zugänglich zu machen, voll und ganz erfüllt. Ich bin viel in den Alpen gewandert, viel in anderen Gebirgszügen, aber nirgends habe ich so viel Fürsorge für den Touristen angetroffen als hier und in der sächsischen Schweiz. Ueber den Altvater und das angrenzende Bergland könnte man getrost ohne Karte wandern, man würde sich überall zurechtfinden und würde überall auch auf die landschaftlich schönsten Punkte – würde man sie nicht selbst entdecken – aufmerksam gemacht werden. In ganz Schlesien hört man auch nur Eine Stimme des Lobes über das Wirken dieses Vereines.

Gegen acht Uhr Morgens war der schlesische Riese bezwungen, und weit hinein ins Land flog mein Blick. Da lag es zu meinen Füßen, das unglückliche Weberland, dessen Schönheit in seltenem Gegensatz zu der Armuth seiner Bewohner steht, zu ihrem Elend, ihrer Noth und ihrer Knechtschaft. Was die Natur hier an Gütern verschwendet, nicht allen Menschen ist’s gegeben. So weit das Auge reicht, wohin man auch sehen mag, überall sind es die wenigen Großen und Mächtigen dieser Erde, denen alles gehört, die alle diese reichen Schätze der Natur ausbeuten, ohne Rücksicht darauf, ob sie dadurch das Land seines natürlichen Schutzes berauben, ob sie die Bewohner des Landes elend machen. Schon aus den oft ängstlichen Warnungstafeln, die der Gebirgsverein den Touristen zur Danachachtung aufgestellt hat, sieht man die große Macht derer, denen der Altvater – «gehört». Zwei, drei Menschen, ein Fürst Liechtenstein, ein Erzbischof oder ein Domkapitel, oder irgendein Graf sind seine Besitzer – vielleicht gehört der ganze Gebirgsstock auch nur Einem, der dann die Bedingungen diktirt, unter denen er sein Besitzthum dem Besuch freigibt, und der auf seinem Besitzthum schaltet und waltet, wie er will. Auf den Bergen wohnt die Freiheit, haust das Glück! Schiller hat recht, aber am Altvater haust nur eine arme Freiheit, die Freiheit der Armuth. Die Habsucht und die Dummheit vergangener Zeiten haben diese herrlichen Gebirge entwaldet und sind in erster Linie schuld an dem Elend, das heute in den Sudetenländern herrscht. Diese Entwaldung trägt die Schuld, daß die Gebirgsbewohner immer mehr verarmt sind, Regengüsse und Hochwasser, die immer eine Folge der Entwaldung einer Gegend sind, haben die Felder und Aecker der Bauern zerstört, ihr Hab und Gut weggetragen. Das ist schon vor Jahrhunderten geschehen. Die vielen Kriege, die in diesen Gegenden wütheten, haben auch dazu beigetragen, die Sudetenländer der Armuth und dem Elend zuzuführen, und so sind die Bewohner dieses schönen, einst reichen Landes endlich so verelendet, daß sie eine leichte Beute habgieriger Fabrikanten geworden sind, die das letzte Mark aus ihren Knochen ziehen.

Als ich am Nachmittag durch das Thal der Biela nach Freiwaldau wanderte, da konnte ich selbst die Beobachtung machen, wie viel Noth und Elend die Entwaldung der Berge über Menschen bringen kann. Jetzt ein ruhig, stellenweise sogar träge dahinfließendes Wässerchen, war die Biela wenige Wochen früher ein hochangeschwollener Bergstrom, der verderbenbringend das Thal durchbrauste, der die Straße an vielen Stellen einriß, Häuser demolirte, Brücken forttrug, fruchtbare Felder vermurte, und dem kein Widerstand geboten werden konnte. Ruhig mußten die Menschen seinem nimmersatten Wüthen zusehen – einmal entfesselt, gab’s für ihn keinen Halt. Würde sein Quellengebiet gut beforstet sein, nie hätten solche Wassermengen zu Thale kommen können. Der Waldboden hätte sie gefangengehalten. Aber die Profitgier der Bodenwucherer fragt nicht nach solchen – Folgen für andere. «Sentimentalitäten» sind Millionäre nicht zugänglich.

*) Fechten, betteln. zurück
**) Siehe W. Teisen: Das soziale Elend und die besitzenden Klassen, S.11 zurück

 

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