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Max Winter

Zwei Tage Werkhausarbeiter

Arbeiter-Zeitung Nr. 354 vom 24. 12. 1899

Im Amtskalender für Niederösterreich, Jahrgang 1900, ist in dem Kapitel: «Gemeindeverwaltung in Wien», auf Seite 259 unter dem Titel «Humanitätsanstalten» auch das städtische Asyl- und Werkhaus angeführt. Im Armendepartement des Wiener Magistrats werden besonders hartnäckige Arme, die sich absolut nicht abweisen lassen wollen, schließlich doch durch ein Zauberwort bestimmt, auf eine Unterstützung zu verzichten. Es lautet: «Wenn S’ net glei schauen, daß S’ weiterkommen, so lass’ ich Sie dem Werkhaus überstellen!» Das wirkt in der Regel. Der hartnäckigste Arme, der die paar Gulden Unterstützung wie der Hungrige einen Bissen Brot braucht, schleicht von dannen. Keiner will es provoziren, daß die Drohung mit der Humanität gerade an ihm erfüllt werde.

Mit der Humanität drohen ... das klingt widerspruchsvoll. Die Humanität, die Menschlichkeit, sie hat Gutes, Edles, Erhabenes zum Inhalt, ihr Wesen ist Mitempfinden mit den Leiden der Menschheit, ihr Ziel ist Hilfe. Androhen kann man aber nur Böses, Schlechtes, Widerwärtiges, Leid, Schaden, Strafe, Verschärfung des Elends, Abwendung der Hilfe. Der Inhalt eines der beiden Begriffe muß also nothwendig verschoben, ausgewechselt werden. Entweder Drohung oder Humanität ... eines von beiden. Wer hat recht? Der Amtskalender, der das Asyl- und Werkhaus unter die Humanitätsanstalten der Stadt Wien einreiht, oder der Armenbeamte, der mit der Abgabe an diese Anstalt droht, und der Arme, der diese Drohung versteht, sie als solche empfindet und lieber hungrig fortgeht, ehe er sich der Humanität der Stadt Wien ausliefert? Am Schluß der folgenden Schilderung wollen wir die Frage beantworten. Vielleicht ist die Antwort dann auch schon überflüssig – für den, der mitempfinden kann. Den anderen soll sie um so deutlicher werden.

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Ein «Zuwachs». Da namentlich in solchen Dingen Probieren über Studieren geht, stand ich am Morgen des Montag vor dem mächtigen Gitterthor X. Simmeringerstraße Nr. 2, über dem ein städtisches Wappen und ein Schild mit der Inschrift «Asyl- und Werkhaus der Stadt Wien» angebracht ist. Ohne den schützenden Ueberrock war ich ein wenig ausgefroren, und als ich eine halbe Minute später in dem Pförtner- oder Aufnahmszimmer stand, mochte ich auf den städtischen Diener, der mich empfing den jämmerlichen Eindruck gemacht haben, den ich machen wollte, um sicher aufgenommen zu werden. In der warmgeheizten, kanzleiartigen Stube saß noch ein Wachmann. «Was woll’n S’ denn?» fragte mich der Amtsdiener, nicht gerade unhöflich, als Antwort auf meinen Gruß. «Ins Werkhaus,» gab ich zurück. «Hab’n S’ an Ausweis?» Ich langte in die Tasche nach den Papieren. Das Heimatsdokument behielt er zurück. «War’n S’ scho’ amal herin?» – «Nein.» – «Sie wissen, was ’s da gibt? Sie müssen Sack’ln picken geg’n Kost und Quartier, Geld krieg’n S’ kans – zwa Tag’ müssen S’ herin bleib’n.» Er war aufgestanden, und ohne eine Antwort abzuwarten, sagte er: «Kommen S’ mit.» Wir gingen quer durch den Hof zu einem Hauseingang, über dem das Wort Badhaus zu lesen ist. Er geleitete mich bis über die Schwelle, rief: «A Zuwachs!» und verschwand durch eine zweite Thür in das Innere des Hauses.

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Vom Restaurateur zum «Badwaschler». Mittlerweile war der «Badwaschler» zur Stelle. «Wia haßen S’ denn?» – «X. Y.» – Er kritzelte den Namen auf einen Zettel und gab mir die Weisung: «Ausziag’n!» Nachdem er Hemd und Unterhose genau untersucht und ohne – Anstand mir wieder gegeben hatte, mußte ich unter die Douche, die im Nebenraum angebracht sind. Vorher hielt er mir einen Löffel mit Schmierseife hin. Eine Minute später hatte ich gebadet. «Da hab’n S’ die Hausmontur.» – Damit legte mir der Graukopf ein Hemd und eine Zwilchhose auf einen Kasten. Während ich mich mit einem Leintuch abtrocknete, kam ein Schwarm von Elendsgestalten – meist junge Leute – aus dem Innern des Gebäudes in den Baderaum. «Ziag’n S’ Ihna g’schwind an und setzen S’ Ihna zu Ihnern G’wand,» mahnte der «Badwaschler», der wie so viele in diesem nüchternen Hause einst bessere Tage gesehen hatte. Er war, wie mir später ein Elendskamerad erzählte, einst ein großer Wiener Restaurateur. Jetzt gehört er zum festen Bestand des Werkhauses – er ist chargirter Hausarbeiter.

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Die «Ausgeher» waren bald abgefertigt. Ein Aufseher verlas ihre Namen und dann drückte sich einer nach dem andern. Ausgang haben die ständigen Werkhäusler jeden Sonntag, und dann können sie noch an einem Wochentag fortgehen – auf Arbeitssuche. Vielen ist es ernst damit. Sie wollen los, aber ihr unerbittliches Schicksal treibt sie immer wieder zurück in das öde Gebäude, in dessen Innerem alles nach Karbol und Kleister riecht, in dem Tag für Tag bei gleicher rastloser Arbeit und bei gleich schmaler und elender Kost vorüberzieht. Die Ausgehtage sind die einzige Abwechslung in diesem trüben, düsteren Dasein – für die, die es ernst meinen mit dem Arbeitssuchen, sind sie die Abwechslung neuer Enttäuschungen. Immer muthloser kehren sie heim. Hundertmal hörte ich das Klagelied in allen Variationen: Kommt ein Werkhäusler wohin um einen Platz und gefällt er dem Chef, gefallen seine Zeugnisse, in dem Moment ist alles zerstört, wo er dem Chef sagen muß, daß er gegenwärtig im Werkhaus logirt. «Werkhaus und Zuchthaus, das is allesans,» sagte mir am Nachmittag Einer . «kommen S’ wohin, da mant a jeder, es is a Zuchthaus. Derweil is das kein Zuchthaus, aber herin zuagehn thuat’s wia in an Zuchthaus. ‚Schaun S’ nur daß’ glei weiter kummen!’ – a andere Auskunft kriag’n S’ in kann G’schäft.» Ein schwerer Seufzer, ein unverständliches Brummen in den Bart, und er arbeitet wieder fort.

An die Arbeit. Während ich noch im Badhaus die Ausgeher musterte, hieß mich ein Aufseher mitgehen. Meine Kleider und Wäsche auf dem linken Arm, lief ich in der Hausmontur hinter dem Uniformirten her. Ich war nahe daran die Hose zu verlieren, die für meinen Umfang nicht bemessen war und obendrein nur Einen Knopf hatte. Ich muß wirklich wie ein Häuflein Unglück dahergelaufen sein. Nur Ein Gefühl beherrschte mich: «So, jetzt bist du eine Nummer. Nichts unterscheidet dich von den anderen. Der Aufseher ist dein Herr und Gebieter.» Zum Spintisiren hatte ich aber keine Zeit. Schon stand ich in dem Magazin vor dem Schreibtisch des Oberaufsehers, der mich um den Namen und darum fragte, ob ich das erstemal im Werkhaus sei. Dann gab er mir einen Laib Brot und einen Stoß braunes starkfaseriges Packpapier, das für das «Sacklpicken» bereits zugeschnitten war. Ich nahm beides, so gut ich konnte, zu meinen Effekten auf und lief wieder dem Aufseher nach, der mich weiterlotste. Er führte mich in den Zweiersaal, rief: «Zuwachs!» hinein und sagte noch zu mir: «So, jetzt setzen S’ Ihna hin, wo S’ woll’n.» Vier lange Arbeitstische sehe ich vor mir, alle besetzt. Mann an Mann, und jeder hat einen Stoß Papier vor sich, ausgebreitet über die ganze Breite der Tafeln. Ich sehe nirgends einen Platz. Da winkt mir Einer, daß neben ihm Platz wäre. Froh, endlich den Pack loszuwerden, ging ich an den Tisch, auf den ich sofort meinen Papiersack legte. Meine Kleider warf ich auf die Bank. Einen Moment verschnaufte ich, dann sah ich mich ein wenig um. Ich mußte ja meine neue Arbeit lernen. Meine Nachbarn und meine beiden Gegenüber schienen weiter keine Notiz von mir zu nehmen. Mit erstaunlicher Fingerfertigkeit klebten sie die Säcke zu ... so schnell einige, daß man ihnen gar nicht folgen konnte. Die Sackschnitte muß man zuerst fünfzig um fünfzig mit einem Glättholz so ausstreifen, daß ein schmaler Gummistreifen vorsteht. Diese Streifen werden dann auf einmal mit Kleister bestrichen, und dann wird das Blatt nach der Schnittform zusammengefaltet, der bekleisterte Streifen wird umgebogen und aufgedrückt. So kleistert, faltet und klebt man seinen Tausender herunter. Hat man ein Päckchen beisammen, dann muß man die halbfertigen Säcke an der Klebestelle fest ausstreifen – wieder mit dem Holz –, und ist die ganze Partie einmal geklebt, dann müssen die Säcke nur noch geschlossen werden – eine Arbeit, die flinker von der Hand geht. Wieder auflegen, kleistern, umbiegen, kleben und ausstreifen, dann in Fünfziger-Päcken auflegen, nachschauen ob nicht Säcke aneinanderkleben, einen Zettel mit dem Namen anbringen, und die ganze Kunst ist fertig. Ein eintöniges Einerlei, bei dem der Mensch zur rastlos fortarbeitenden Maschine wird.

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Lehrzeit! Ich versuchte mich sofort auf eigene Füße zu stellen und ohne fremde Hilfe den unberührten Papierstoß vor mir auf dem Tisch so auseinanderzustreifen und aufzulegen, wie es die anderen thaten. Es ging nicht. «Hol’n S’ Ihna a Holz vom Aufseher,» rieth mir ein Nachbar. Ich ging also zum Aufseher um ein Glättholz. «San S’ das erstemal herin?» – «Ja.» – Er begleitete mich zum Platz und streifte mir das Papier aus. «Sehn S’, das müassen S’ a so machen,» so erläuterte er mir die Handgriffe. Ich sah aufmerksam zu. Als er mit dem Ausstreifen fertig war, bestrich er mit dem halben Kehrbesen, der als Kleisterpinsel dient, die oberste Lage und klebte mir einen Sack vor. Dann mußte ich kleben, dabei blieb er stehen, lehrte mich noch einen Handgriff und wendete sich zum Gehen. Zum Abschied klärte er mich noch auf: «Drei Tag hab’n S’ Lehrzeit, da müassen S’ nur tausend machen, dann zwatausend.» Damit ging er. Ich war abgerichtet.

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Das Frühstück. Eben als ich mich mit der nöthigen Begeisterung an die Arbeit machen wollte, rief mir mein linkes Gegenüber – ein Mann in den Vierzig, der Brillen trug und etwa so aussah wie ein Kleinmeister – zu: «Holen S’ Ihna a Suppen! Es is no ane da!» Unter meinem Arbeitsplatz standen drei Häferln aus Thon, schmierig, ungewaschen. Die Speisereste klebten noch daran. Der Boden war mit einer kleisterartigen Schicht überzogen. «Nehmen Sie ’s nur!» ermuthigte mich das freundliche Gegenüber. Dabei wischte er sich mit dem blauen Schurz, den er vorgebunden hatte, von seinem Vollbart die Suppentrenzer ab. Die Brille hatte er jetzt auf die Stirn geschoben. Er that so väterlich mit mir. Ich folgte, suchte das verhältnismäßig reinste Häferl von den dreien aus und ging ums Frühstück. Es war ¼ 9 Uhr, und ich hatte nach dem Marsch und Bad ehrlichen Hunger. Bei der Wasserleitungsmuschel übertrat ich das erstemal die strengen Hausgesetze. Es steht dort, daß bei sofortiger Strafe das Reinigen der Geschirre bei der Wasserleitung verboten ist. Wo sollte ich sonst das Häferl reinigen? Zur Noth brachte ich die Speisereste weg, deren Anblick allein genügt hatte, um mich meinen ehrlichen Hunger als einen eingebildeten erkennen zu lassen. Dennoch ging ich um das Frühstück. Auf dem Wege dahin redete ich mir ein, daß es doch ein ehrlicher Hunger war. Ich mußte durch den Einsersaal. Wieder vier Tischlängsreihen, zu beiden Seiten Bänke und auf diesen, fleißige Menschen fast aller Altersstufen von 14 bis 50 Jahren. Zwischen je zwei Tischen sind eiserne Rundsäulen als Dachträger aufgestellt, an den Säulen sind Kleiderhaken, und an diesen hängt die Toilette der Werkhäusler. Alles zieht an mir vorüber; die Papierstöße, die Menschen, die jungen und alten, die intelligenten und elendsblöden, die Galerie alter – Kleider. Da stehe ich schon vor dem Kessel, setze mein Häferl an den Rand und bekomme von einem Mädchen anderthalb Schöpflöffel eines dicken graubraunen Gemenges eingegossen. Damit gehe ich in den Zweiersaal zurück und überlege, was das wohl sein mag. Ich tipte auf eine Einbrennsuppe, wagte es aber nicht bestimmt zu behaupten. Das Gemenge roch nach Kleister, oder hatte sich dieser Geruch schon so bei mir eingenistet, daß ich nicht mehr unterscheiden konnte? Es war auch zu dick für eine Einbrennsuppe. Darin mußte ja der Löffel stecken bleiben. Der Löffel?

Neue Verlegenheit. Ich hatte keinen Löffel. Wem man eine Suppe gibt, dem muß man auch einen Löffel geben. Hier war es anders. Ich hatte wenigstens damals noch keinen Löffel bekommen. Schon wollte ich das als Vorwand nehmend, um auf das wenig anregende Frühstück zu verzichten, da mißdeutete aber der väterliche Kamerad gegenüber meine Miene, und er bot mir seinen Löffel an. Der Alte war ein reinlicher Mensch. Auf dem Löffel lag eine bereits verhärtete Kruste seiner eigenen letzten Mahlzeiten. Er nahm also seinen Taschenfeitel und kratzte die Ueberbleibsel ab, so gut es ging. Dann reichte er mir den Löffel. Nun friß, Vogel, oder stirb! Ich hatte den ehrlichen Willen, zu essen, und wollte nicht auffallen. Ich machte mich also darüber und sehnte den Hunger herbei. Ein, zwei, drei Löffel voll würgte ich hinunter; ich mußte doch wenigstens ergründen, was ich zum Frühstück hatte. Einige Kümmelkörner verleiteten mich abermals zu der Annahme, daß es Einbrennsuppe sei. Dagegen sprach aber mehr als Eines. Einbrennsuppe setzt sich zusammen aus Mehl, Schmalz, Wasser, Salz und Kümmel. Schmalz und Salz fehlten Es blieb ein gebräunter Mehlpapp mit Kümmel. Alles zusammen schmeckte, wie etwa Kleister schmecken mag: Kleister mit Kümmel! Es roch auch so. Ich würgte weiter und aß Brot dazu. Noch drei Löffel voll und noch einen. Da stieg es vom Magen herauf ... das Gefühl unüberwindlichen Ekels. Noch einen Löffel voll, und ich gebe zurück, was du mir da aufzwingst ... so sprach mein Magen zu mir und ich gehorchte, stellte das halbvolle Häferl unter den Tisch und ein zweites gleich in den dicken Brei hinein, um vor den Augen des Aufsehers und meiner Kameraden zu verbergen, daß ich die Kost nicht vertrage. Ich durfte niemand trauen. Dennoch fragte ich mein Gegenüber: «Was war denn heut für a Suppen?» – «Einbrennsupp’n.» – Also doch! Ich hatte mich also nicht getäuscht. Ich wurde ordentlich stolz auf mich und freute mich, daß ich von selbst der Werkhausköchin auf ihr Geheimniß gekommen war. Nach der nächsten Mahlzeit büßte ich allerdings mein Selbstvertrauen wieder ein wenig ein. Ich hielt das Kraut, das ich bekam, für Kohl. Von da ab brütete ich Rache und wurde in meinem Urtheil vorsichtiger. Solche Räthsel hatte mir noch keine Köchin aufgegeben.

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«Wenn gute Reden sie begleiten, dann fließt die Arbeit munter fort.» Schiller hat recht. Die Arbeit war bald im Gang und ebenso die Unterhaltung. «San S’ mit’n Dampfschiff kommen? Fragte mich der Blauschurz. – «Mit’n Dampfschiff’? Was meinen S’ damit?» gab ich dumm-ehrlich zurück. Der andere lachte, und das Lachen wirkte ansteckend. Alle lachten. Der blonde Dreißiger neben mir, dem das Schicksal eine anliegende, ungeflickte Werkhaushose beschieden hatte, mein Gegenüber zur Rechten, der bisher kaum von mir Notiz genommen hatte, und auch der andere Nachbar des Blauschurz lachte. Dieser hatte etwas Exotisches an sich: ein rothes Tuch als Leibgurt. «Das ,Dampfschiff’ is der Schubwag’n. San S’ von der Polizei zuag’stellt word’n?» – «Nein. Ich bin freiwillig herein’gangen.» – «Freiwillig?» Er schüttelte mitleidig sein Kleinmeisterhaupt, so als ob er sagen wollte: Armer Teufel, was muß dir alles g’schehn sein, bis du so weit kommen bist. «Es hat’s mir einer ang’rathen,» log ich ihm vor, und ironisch fügte ich noch hinzu: «A guater Freund!» Da fuhr er auf: «Den guaten Freund spucken S’ ins G’sicht, der Ihna dös g’rathen hat. Da herin san S’ verlur’n. Wann m’r herin no so fleißig san, draußen haßen s’ uns do Pülcher ...» Er vergrollte allmälig, schluckte die Worte und brummte schließlich noch einiges in den Bart, das ich nicht verstehen konnte. Plötzlich gewann er wieder die Stimme: «... Und da muaß m’r erpate no a Weaner sein, daß m’r dö Wohlthat hat.» Wieder dasselbe Spiel, das langsame Vergrollen seines Unmuths, die Selbstgespräche, und schließlich sagte er bitter: «Alser städtische Arbeiter ... mir können stolz sein auf unseren Charakter!» Dann nahm er einige Zigarettenstummel aus dem Sack – er hatte sie in Papier gehüllt – zerlegte einige so, daß die Innenseiten nach außen gekehrt waren, schob das Kraut in den Mund, verzog einigemale das Gesicht zu greulichen Grimassen und arbeitete dann wieder munter fort. Er hatte seinen Gleichmuth wieder gewonnen.

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D’ Aufsicht. Mein Gegenüber zur Rechten hatte außer dem Lachen von vorhin noch kein Zeichen von sich gegeben, daß er von mir Notiz genommen. Er arbeitete ohne Rast fort. Mit seinen tiefliegenden Augen stierte der hohlwangige Mann auf die rothen Papiersäcke vor ihm. Seine knochigen Hände waren ungemein flink. Ich wollte eine Weile um die Wette mit ihm arbeiten. Da er zweitausend und ich eintausend zu machen hatte, mußte er in derselben Zeit das Doppelte produziren. Daran wollte ich den Grad meiner Fertigkeit messen. Eine Weile ging’s, fünf, sechs Säcke lang hielt ich in diesem Verhältniß Schritt, dann aber überholte er mich gewaltig. Er brachte sechs fertig, ehe ich einen Sack geklebt hatte. Dies wiederholte sich einigemale, und ich wurde ein wenig zaghaft. Ich wendete mich an den Fleißigen mit der Frage: « Was g’schieht dem, der seine Sackeln net fertigbringt?» – «Sie werd’n scho’ firti,» versicherte er mir. Er pausirte einen Augenblick und wendete mir sein Gesicht voll zu. Die Bartstoppeln machten sein Gesicht noch düsterer. – «Ist’s schon vorgekommen, daß einer sein Pensum nicht fertiggebracht hat?» – «Das was i net!» – «Sind Sie scho’ lang herinn’?» – «Vier Monat’ jetzt!» – «Warum gehen S’ denn net hinaus?» – «I hab’ d’Aufsicht!» – «Aufsicht ... da im Saal?» wollte ich schon naiv fragen ... da besann ich mich ... «Polizeiaufsicht?» – «Ja! Da hat m’r nur da herin a Ruah!» Er wurde endlich gesprächiger. «Für unseran’ is’ da am besten. Was woll’n S’ anfangen? Sie dürfen draußt’ nirgends hingehn, in ka Wirtshaus, in ka Kaffeehaus, auf kann’ öffentlichen Belustigungsort, nirgends, wo Leut’ z’sammkommen, in Prater net, in ka Theater, zu kaner Musi und in ka Kirch’n. Vur Zehne müassen S’ z’Haus sein, und vur Fünfe dürfen S’ net das Haus verlassen. Da is’ schwer, a Arbeit z’krieg’n. A Mensch, der si net frei beweg’n därf, is scho verlur’n!»

Jetzt wurde auch sein zweiter Nachbar lebendig. Er lachte mit seinem slawischen Gesicht breit zu mir herüber. So stark war in mir die Empfindung, daß er ein Tscheche sei, daß ich jetzt, da er zu sprechen begann, ganz erstaunt war, ihn im unverfälschten Erdberger Dialekt sagen zu hören: «I hab’ mei Aufsicht bald aberg’rissen.» – «Wie lange haben Sie denn?» Er streckte den Zeigefinger der rechten Hand in die Höhe. «Ein Jahr?» Er nickte. «Und Sie?» Damit wendete ich mich an den Zweiten ... «I hab’ drei Jahr’,» sagte er trüben Tones. Dann verfiel er in schlimmes Selbstgrübeln. Hie und da entschlüpfte ein Wort dem Gehege seiner schwärzlichen Zähne. «Was hab’n S’ g’sagt?» fragte ich einmal über das anderemal, da ich dachte, er spreche zu mir. – «A, nix hab’ i g’sagt zu Ihna,» platzte er geärgert heraus – «i hab’ m’r nur selber a Antwort geb’n,» beendete er freundlicher. «Es verfolgt an’ manches. Wo war’n denn Sie zuletzt?» – «In der Roßau.» – «Sag’n S’ m’r, existirt no das Café Bosch?» – «Bosch? Bosch?» – «In der Porzellangassen, am Eck von der Berggass’n.» – «Das in dem einstöckigen Haus?» – «Ja.» – «O, das is schon lang demolirt, schon etliche Jahr’.» – «Da bin i häufig hin’kommen in die Siebziger Jahr. Es is dort stark g’spielt word’n.» – «An der Stelle steht heute ein großes, modernes Kaffeehaus,» klärte ich ihn weiter auf und dachte dabei, wie lange der arme Teufel wohl schon die Freiheit entbehren muß. Nicht viel später sagte er mir, daß er drei Jahre in Stein gesessen sei. Auch erhob er keinen Widerspruch, als ich am Abend so gesprächsweise hinwarf, daß er wohl schon öfter im Gefängniß gewesen ... Da er mir versprach, mir bei meinem «Tausender» zu helfen, hatte ich Gelegenheit, mich freier zu bewegen.

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Im Rauchsalon. Noch am Vormittag packte mich, nicht allzu lange nach dem opulenten Frühstück, die Sehnsucht nach einer Zigarette. Im Saal rauchten nur die Aufseher. Da war es also nicht erlaubt. Ich ging rekognosziren. Auf dem Gang sah ich eine Tafel angeschlagen, laut der der Genuß geistiger Getränke, jedes Spiel und das Rauchen in allen Räumen des Hauses verboten ist. Dennoch versuchte ich mein Glück und ging abseits. Eine Vorhalle, von der eine mächtige Thür ins Freie führt, nahm mich auf. Zur Linken war ein Gang, in den die Aborte mündeten. Hier traf ich eine Anzahl Raucher. In diesem kalten, zugigen Gang, in dem Karbol und die Ausdünstung der acht offenen Aborte der Nase eine nicht gerade angenehme Abwechslung bereiteten, standen, gingen und lehnten einige Leute herum und rauchten. Einige Pfeifen, die Mehrzahl Zigaretten. Auch ich hatte mich vorgesehen mit entsprechender Qualität, um nicht Anstoß zu erregen. Ich steckte mir also eine «Drama» an, und so bewehrt machte ich mich an die Abortvisite. Das ist nun einfach ein Skandal, wie in dieser städtischen Humanitätsanstalt die Aborte beschaffen sind. Es sind durchwegs offene Aborte, über dem Sitzbrett so verschallt, daß jeder zum Geradesitzen gezwungen ist. Das ist der einzige Vortheil. Sonst haben die Aborte nur Nachtheile. Alle Aborte sind in jeder Hinsicht offen und frei zugänglich. Kein Deckel wehrt die Kanaldüfte ab, und keine Thür schließt die einzelnen Aborte ab. Es sind durchwegs offene Verschläge, in die jeder jederzeit sehen kann. Man gewinnt den Eindruck: Für den Werkhäusler muß alles gut genug sein. Dazu kommt die primitive Art der Ventilation. Es ist einfach ein Fensterflügel ausgehoben, und durch diesen streicht die kalte Winterluft frei herein. Die Arbeitssäle sind dank einer Zentralheizung so gut temperirt, daß die Arbeiter mit der Hausmontur – einem Hemd und der Zwilchhose – genügend bekleidet sind. Die meisten von ihnen gehen aber in derselben Montur auch auf den Abort, ohne schützende Hülle. Dies bedeutet in der jetzigen Jahreszeit immer einen jähen Temperaturwechsel von mindestens 15 Grad. Dazu kommt noch das Entkleiden und das bei den Werkhausarbeitern grassirende Darmleiden – der Werkhauskatarrh, wie er im Allgemeine Krankenhaus heißt –, das eine stärkere Frequenz der Aborte zur Folge hat ... so gelangt man zu einer Summe von Gefahren für die Gesundheit und das Leben der Werkhausarbeiter, von denen sich die wohlthätigen Herren im Rathaus wohl nichts träumen lassen, sonst hätten sie schon ihres Seelenheils wegen, Abhilfe geschaffen. Mit hundert Gulden ginge es.

So also ist der «Rauchsalon» der Werkhäusler beschaffen, der Rauchsalon, die Erholungsstätte. Hier geben sich die Freunde Rendezvous, um ungestört von den Aufsehern einige Minuten Freiheitsluft athmen zu können: die Freiheitsluft der offenen Aborte. Dennoch geht jeder gern dorthin – eben weil er sich ohne Aufsicht weiß und weil er dort rauchen kann. In der Vorhalle steht häufig ein Wachmann. Dem weichen auch die Werkhäusler gern aus. Darum ist die Vorhalle nur benützt, wenn der Wachmann sich im Innern des Gebäudes aufhält. Dann rauchen die Arbeiter hier, wo sie nicht so unmittelbar die Annehmlichkeiten des Aufenthaltes zu spüren bekommen.

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Ein Kunstenthusiast. Da bilden sich dann Gruppen, Reden fliegen hinüber und herüber, rohe Scherze werden gemacht, Abenteuer und Erlebnisse werden erzählt, und hier wird auch die liebe Jugend unterrichtet, die der väterliche Magistrat im Werkhaus unterbringt, damit sie etwas Ordentliches lernen sollen. Hier ist auch der allerdings wenig angenehme Platz des Beobachters. Von jedem kann er Interessantes hören. Da gleich ein junger Bursch von etwa zwanzig Jahren. Er erzählt gerade seine Erlebnisse vom Sonntag und klagt, daß er schon wieder kein Geld hat. «Dö paar Zigarett’n san ’s Anzige, was m’r blieben is. 60 kr. hab i Ueberverdienst g’macht vorige Woch’n. A Zwanz’ger is fürs Theater aufgangen ...» – «Was für a Theater?» werfe ich ein. – «Ins Theater an der Wien bin i Nachmittags gangen.» – «War’s schön?» – «I geh’ ja jeden Sonntag ...»

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Die Schließung der Branntweinschänken am Sonntag wird von den Schankbesitzern unter anderem auch mit dem Argument bekämpft, daß sie meinen, es kann sich jeder ja schon am Vortage den Branntwein kaufen und ihn dann zu Hause trinken. Sie erblicken darin in ihrer Menschenfreundlichkeit eine Gefahr für die Familien der Branntweinsäufer und meinen, daß es nicht weniger Branntweintrinker geben werde, wenn sie die Buden geschlossen haben. Sie vergessen dabei mit Absicht auf den Werkhäusler. Der ist auf den Sonntagsausgang angewiesen und kann sich nicht am Vortage mit Branntwein versorgen, und gerade der Werkhäusler wird durch seine soziale Lage in die Branntweinbude getrieben. Das entnehme ich folgendem Gespräch zwischen zwei anderen: «Is’ bei euch im Saal gestern Abends a so zuagangen, wia bei uns? Da hab’n wieder a paar Räusch g’liefert. Mit all’n hab’n s’ um’ghaut!» – «Was soll m’r denn thun? Ins Wirtshaus kann m’r mit die paar Netsch Ueberverdienst net gehen. Was is denn a Guld’n heutzutag! Gar nix. Beim Branntweiner kann m’r aber um dreißig Kreuzer scho’ an orndtlichen Rausch z’sammbring’n.» – «Sie werd’n do’ net um dreißig Kreuzer Branntwein trinken?» menge ich mich in das Gespräch. – «Ja warum denn net? Früher amal war m’r nix z’stark. Heut, wann i zwa Thee trink’, bin i firti. Dö Kost bringt an’ ja ganz oba. D’ ganze Woch’n kriegt m’r nix zum trinken, und da vertragt m’r halt nix mehr.» – Der ganze Bursch, der so spricht, ist höchstens zwanzig Jahre alt!

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Baden! Alle Montag müssen die Werkhäusler baden. Kaum bin ich wieder auf meinem Platz, als ein Aufseher in den Saal ruft: «Baden gehen! Erste und zweite Reih’!» Die beiden Reihen erheben sich und stürmen zur Thür. Mein Blauschurz brummt: «Am Montag richt’t m’r amal nix aus. Alle Augenblick was anders!» Auch an ihn kommt die Reihe. Ich als Zuwachs, der eben erst gebadet, bleibe sitzen und habe nun Muße, mich ein wenig genauer im Saale umzusehen. Unter den Tischen liegen gefüllte Papiersäcke. Es sind die Garderobekästen der Netteren. Die anderen lassen ihr «G’schlamp» die ganze Zeit über auf dem Haken hängen. Lumpenballgarderobe! Alles zerrissen und zerschlissen Die Säle haben Oberlicht. Kein Blick ins Freie. Nichts als ein Stückchen des verdüsterten Himmels ist zu sehen.

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Der Ueberverdienst ist jene Einrichtung im Werkhaus, durch die laut Hausordnung dem Arbeiter Gelegenheit geboten sein soll, sich «auch die Mittel zu schaffen, nach freier Wahl einer Beschäftigung wieder nachgehen zu können». Wie es damit in Wirklichkeit beschaffen ist, werden wir gleich sehen. Der Aufseher ruft in den Saal: Ueberverdienst! Sofort springen etwa zwanzig Arbeiter von ihren Plätzen und laufen dem Ausgang zu. Die weitaus überwiegende Mehrzahl bleibt sitzen. Entweder sind sie nicht so flink oder dank der guten, kräftigen Kost nicht so ausdauernd, um etwas über ihr Pensum fertigzubringen, oder aber es ist ihnen schon alleseins, sie verzichten auf die paar Kreuzer Ueberverdienst, wissen sie doch, daß das nicht das geeignete Mittel ist, sie aus ihrer Lage zu befreien. Für das doppelte Kleben von 1000 Papiersäcken wird acht Kreuzer bezahlt. 2000 Papiersäcke ist sein Pensum; wie viel kann er noch darüber verdienen? Es gibt einige unter den paar hundert Werkhausarbeitern, die im Stande sind, im Tag 5000 bis 6000 fertigzubringen. Auch diese nicht gleichmäßig Tag für Tag. Es kommen Tage der Abspannung, wo sie nur 3000 fertigbringen. Nehmen wir aber einen durchschnittlichen Ueberverdienst von 3000 im Tag an, so sind das täglich 24 kr. oder in sechs Tagen 1 fl. 44 kr. Am Sonntag hat er dann Ausgang. Er kann den ganzen Tag bis 7 Uhr Abends wegbleiben. Thut er es, dann ist sein Ueberverdienst beim Teufel. 1 fl. 44 kr. ist eine so geringe Summe, daß er gar nicht weiß, wo er anfangen und wo er aufhören soll mit dem Geldausgeben. Soll er damit seinen Hunger stillen, soll er sich ein bescheidenes Vergnügen damit erkaufen, oder soll er damit seine geringen Bedürfnisse während der Woche decken, sich etwas Tabak kaufen? Oder soll er damit sich Wäsche und Kleidung schaffen, sich ein Quartier aufnehmen und damit ein neues Leben beginnen? Oder soll er damit auf die Arbeitssuche gehen? Die meisten verleppern wohl die paar Kreuzer und kommen dann Abends ebenso arm heim, wie sie am letzten Sonntag heimgekommen sind. Das ist nur natürlich. Mit den paar Kreuzern kann er sich überhaupt nichts kaufen, als höchstens ein bescheidenes Vergnügen neben der Sättigung seines Magens. Der eine ein Theaterbillet, der andere einen Branntweinrausch ... Jeder nach seiner Art. Es fehlen die Voraussetzungen, daß er durch den Ueberverdienst sich je befreien könnte. Der Ueberverdienst müßte höher sein, die Arbeitskraft dürfte also mit Hilfe der Werkhausleitung nicht so ausgebeutet werden, es müßten durch nahrhaftere, bessere und reichlichere Kost die Werkhausarbeiter leistungsfähiger gemacht werden, und es müßte endlich – und das wird für Kommunalbeamte des gegenwärtigen Regimes wohl das Schwierigste sein, die Spreu vom Weizen geschieden werden, es müßte individualisirt, mit der Schablone gebrochen werden – es müßte dort, wo es noch möglich ist, die moralische Kraft, das Menschbewußtsein geweckt oder gehoben werden – dann, aber erst dann wäre es möglich, daß für so manchen, der heute ins Wirtshaus geht, um davon dauernd nicht wieder loszukommen, das Werkhaus wirklich eine Uebergangsstufe von verelendetem zu besseren Leben werde. Wie es heute ist, kann davon keine Rede sein.

Die Einzelnen müßten sich wenigstens einen Theil ihres wöchentlichen Ueberverdienstes sparen, damit sie vielleicht nach zwanzig Wochen Uebergangszeit einige Gulden zusammenbringen, mit deren Hilfe sie sich draußen eine Wohnung nehmen und wenigstens zwei Wochen nothdürftig leben könnten. Vielleicht, aber freilich nur vielleicht gelingt es ihnen dann, andere Beschäftigung zu finden. Daß sich aber ein schlechtgenährter Mensch nach wenigstens siebzigstündiger Wochenarbeit durch Wochen hindurch von seinem Ueberverdienst von 1 fl. 44 kr. – sagen wir 1 fl. per Woche beiseite legt, um damit in zwanzig Wochen den Versuch zu machen, loszukommen, so viel moralische Kraft kann kein Mensch unter solchen Verhältnissen aufbringen. Das ist das beste Beispiel. Wie lange soll er aber der sparen, der nur einen Tausender über das tägliche Pensum zu machen imstande ist, der am Schluß der Woche 48 kr. Ueberverdienst hat? Der müßte bei gleichen Ansprüchen an das Leben wie der beste, dem 44 kr. in der Woche für seine Bedürfnisse bleiben, schon allein fünfundzwanzig Wochen hindurch 4 kr. um 4 kr. sparen, um einen Gulden zu bekommen, oder zwanzigmal fünfundzwanzig Wochen, das sind fünfhundert Wochen oder zehn Jahre, um zwanzig Gulden zusammenzubringen. So sieht es im Werkhaus mit der Möglichkeit aus, «nach freier Wahl einer Beschäftigung wieder nachgehen zu können». Mein alter Blauschurz hat recht: «Wer da amal herinn’ is, der is verlur’n!»

Die Ueberverdiener sind im Werkhause stark in der Minorität, und unter ihnen bilden die Majorität solche, die höchstens ein bis zwei Tausend über ihr Tagespensum fertigbringen. Die Mehrheit derer also, die Ueberverdienst machen, kann mit diesem Mittel nie loskommen. Es sind höchst seltene Ausnahmsfälle, daß sich einzelne energische, charakterfeste Elendsbürger durch das Werkhaus die Mittel zu einer besseren Existenz schaffen. Es ist darum die große Lüge im Wesen dieser städtischen Humanitätsanstalt, wenn die Hausordnung das Werkhaus als eine Armenanstalt bezeichnet, in der arbeitsfähigen Armen Gelegenheit geboten ist, sich «auch die Mittel zu schaffen, nach freier Wahl einer Beschäftigung wieder nachgehen zu können».

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Das Werkhaus als Erzieher. Vom Individualisiren, vom Gruppiren der Arbeiter, vom Absondern einzelner war vorhin die Rede. Sehen wir zunächst zu, wie es ist, und wir werden sehen, wie nothwendig eine solche Scheidung wäre. Da sitzt der Neuling im Verbrechen neben dem «in Ehren» ergrauten Zuchthäusler, dort ist ein durch widriges Geschick herabgebrachter Mensch, der freiwillig die gastliche Stätte aufsuchte, der Nachbar des alten Gewohnheitssäufers, dort verbrüdert sich das magistratische Kostkind, das in einer oder in einigen Lehren nicht gutgethan hat, mit dem alten «Polizeiaufsichtler», der nun der Lehrer des Jungen wird – überall grelle Kontraste auf dem Grundton der Verworfenheit, des Herabgekommenseins, der Rettungsunmöglichkeit.Müssen in solcher Gesellschaft nicht alle edleren Regungen, die da und dort noch vorhanden sind, die nur geweckt zu werden brauchten, zugrunde gehen? Muß der Gelegenheitsdieb, der bis vor vierzehn Tagen unbescholten war und dann eine Geldbörse stahl, in der wenige Kreuzer waren, der ein Gilet stahl, weil ihn ohne Gilet fror, muß der nach zehntägigem Arrest im Werkhaus der Nachbar eines verworfenen Burschen werden, der trotz seiner Jugend schon siebzehnmal abgestraft ist? Muß der Dieb, den seine Schande noch bedrückt, der die eine Abstrafung noch als Schande empfindet, dieser edleren Regung nicht verlustig werden, wenn sich sein jüngerer Nachbar förmlich damit prahlt, daß er schon siebzehnmal bestraft ist, und wenn er mit einem gewissen Stolz auf den dummen Neuling herabsieht, der sich so leicht fangen ließ! Danach fragt niemand.

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Der Magistrat als Vater. Es kümmert sich auch niemand um den hübschen vierzehneinhalbjährigen Jungen, das magistratische Kostkind.»Setz di hin, wo Platz is.» Das ist die Anweisung, die er bekommt, und wenn die alten Gauner das lebendige Bürschchen dann in die Lehre nehmen, kümmert sich auch der Magistrat als Vater nicht darum. Er erhielt nur seinerzeit von der Hausherrntochter, die in Verschwiegenheit am Zahlstock des Findelhauses entbinden wollte, die Taxe für die Verpflegung des Kindes und für die Aufnahme des Kindes in den Gemeindeverband, übernahm so gegen Geld die Vaterpflichten, aber er erfüllt sie nach der Schablone, die heute noch Asyl für verlassene Kinder, morgen aber schon Werkhaus heißt. Der kleine Junge, von dem oben die Rede ist, kam in die «Hütten», wie er selbst schon im Verbrecherjargon das Werkhaus bezeichnet, durch gütige Vermittlung der Polizei. Richard E. war Lehrling bei dem Bäcker Albert in der Josefstädterstraße. Nach seiner Erzählung gab ihn der Herr weg, weil sein Vorgänger im Gebäckshausieren nach seiner Entlassung zu den Kunden gegangen war und Beträge einkassiert hatte, die der E. hätte abliefern sollen. Der Herr verdächtigte ihn und gab ihn weg. Nach einiger Zeit Herumvagirens kam das magistratische Kostkind per Schub nach Wien und ins Werkhaus. Dort traf am Montag der Richard einen zweiten Lehrling des Herrn Albert, den Edmund H. Die beiden Jungen sollten sich im «Rauchsalon» gegenseitig agnosziren. Sie geriethen darüber in einen Wortstreit, aus dem hervorging, daß wirklich beide bei Albert waren. Da sie darum stritten, ob Albert Roß und Wagen habe, warfen sich zwei andere Werkhäusler als Schiedsrichter auf. Beide wollen auch bei Albert gewesen sein. Ich wundere mich darüber, daß so viele ehemalige Bedienstete des Herrn Albert im Werkhaus enden; da sagt mir einer: «Im Ansersaal sind noch fünfe, sechse, die alle beim Albert waren!» Wäre es bei dieser Häufung von «Albert-Werkhäuslern» nicht angezeigt, daß der Magistrat als «Vater» des Richard die Verhältnisse bei dem Bäcker Albert doch ein wenig genauer erforschen würde, um zu erfahren, warum eigentlich das magistratische Kostkind Richard E. nach der Lehre bei Albert im Werkhaus enden mußte? Jeder andere Vater würde seinem 14½ jährigen Sohn diesen Dienst erweisen. Der Chef des Magistrats, Herr Lueger, wird freilich wieder von Lüge sprechen.

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Noch einiges von der Köchin. Ich hatte schon etwa 600 Säcke geklebt, als eine Bewegung durch den Saal ging, der, wie ich hier erwähnen will, 43 ½ Meter lang und 25 ½ Meter breit, also ziemlich geräumig ist. Die ersten beiden Reihen wurden zum «Fraß» gerufen. Jeder lief mit seinen drei Häferln auf den Gang und von dort durch den Einsersaal in die Traiterie, die im Werkhaus die Verköstigung besorgt.

Dem Statistischen Jahrbuch der Stadt Wien 1897 zufolge betrugen die Verpflegskosten per Tag und Kopf 1895: 21.88 kr. (23.38 kr.), 1896: 21.52 kr. (23.02 kr.) und 1897: 21.97 kr. (23.17 kr.). Die höheren eingeklammerten Ziffern sind die Verpflegskosten während der rauheren Zeit, in der die Werkhausarbeiter auch eine Frühsuppe (die oben geschilderte) bekommen. Sie sind die Ziffern, die für die jetzige rauhe Zeit Geltung haben. Im Durchschnitt der drei Jahre kommt also eine Verpflegsgebühr von 23.19 kr. per Kopf und Tag in der rauheren Zeit heraus. Mit dem Betrag läßt sich, so sollte man meinen, schon etwas anfangen – in eigener Regie. Diese hat nun das Werkhaus, wenn wir nicht irrig berichtet sind, nicht. Die Verpflegsgebühren beim Militär betragen in Wien 18 kr. und das Brotrelutum 7 kr. In Summa also 25 kr. Dafür bekommen die Soldaten täglich einen halben Liter schwarzen Kaffee oder Suppe am Morgen, 22 Dekagramm Rindfleisch, Suppe und Gemüse Mittags, und eine Suppe Abends. Nur am Freitag ist Mehlspeistag. Im Werkhaus beträgt die Gebühr um 1.81 kr. weniger. Die Werkhausarbeiter bekommen aber nur dreimal in der Woche «Fleisch», dann höchstens 15 Dekagramm, außerdem eine elende Früh- und Abendsuppe und Gemüse, an drei Tagen überhaupt nur Suppe, Gemüse und eventuell Knödel, und an einem Tage eine ungesalzene und ungeschmalzene Mehlspeise. Der so resultirende Profit fällt dem Traiteur zu.

Ob die Kost täglich kontrolirt wird, ob der Verwalter oder sonst ein Organ täglich jede Speise kostet, wissen wir nicht. Geschieht es, dann volle Bewunderung dem Mann. Er hat zweifellos eine starke Natur. «Heut gibt’s Kugeln für die Engländer,» bereitete mich vor dem Mittagessen der Blauschurz vor. Er meinte damit die schmackhaften Knödel, die uns bevorstanden. Nachmittag fand ein Hausarbeiter beim Zusammenkehren einen solchen Knödel in blaues Papier gewickelt. Die Buben hatten ihn wirklich als Wurfgeschoß benützt. Da die Rettungsgesellschaft nicht erschien, scheinen sie niemand getroffen zu haben. Ich habe mir beide Knödel als Andenken aufbewahrt. Den einen habe ich mit Todesverachtung in meinem Magen für längere Zeit konservirt, und den anderen nahm ich seines anheimelnden Duftes wegen, fein säuberlich in Papier gewickelt, mit. Er verbreitet heute noch ein so köstliches Aroma von Kleister, daß ich jederzeit die angenehmen Empfindungen bei mir wieder wecken kann, die ich hatte, als ich seinen Bruder hinunterwürgte. Wie mit den Knödeln, so war es mit den anderen Speisen. Wie ich vermuthe, ja beinahe glaube, hatten wir außer den Knödeln noch Einbrennsuppe und dann Kraut, das ich anfänglich zwar für Kohl hielt, dann aber bestimmt als Kraut agnoszirte. Als guter Gemüsekenner habe ich es an einem grobgeschnittenen Blatt erkannt. Beides – Suppe und Gemüse – fand im «Rauchsalon» sein Grab. Dort ist übrigens auch die Reinigungsstätte für das Geschirr. In der Vorhalle sind vier Dreifüße aufgestellt mit niederen Faßkübeln. In zweien ist warmes, in den beiden anderen kaltes Wasser. Hier kann sich der «reinliche» Werkhausarbeiter seine Töpfe waschen. Höchstens 20 Liter heißes und ebensoviel kaltes Wasser müssen genügen, um die Töpfe von zirka 240 Arbeitern zu reinigen. Jeder hat drei; zusammen gelten die 30 Liter Wasser also als Reinigungsbad für zirka 700 Töpfe. Dennoch schwimmt auf dem so viel gebrauchten, schließlich jauchigen Wasser kein einziges Fettauge. Glückliche Köchin, die solches im Stande ist!

Abends gab es Grieskoch. Der Blauschurz konstatirte freudig: «Heute ist es wenigstens gesalzen.» Ich hatte darauf von vornherein verzichtet, kostete es bei einem anderen und kaufte mir lieber die «Extrakost»: einen halben Liter schwarzen Kaffee um zwei Kreuzer, dazu um einen Kreuzer Zucker und ein «Schusterlaberl». Die anderen staunten mich wie einen Krösus an. Ich theilte mit meinem Helfer, dem ich übrigens noch zehn Kreuzer Lohn gegeben hatte. Wir schlürften eben das herrliche Gebräu, als ein «Ausgeher» zum Tisch kam und etliche Zigarrenstummel zum Kauf anbot: «Schöne Tschik – achte um zwa Kreuzer!» Lüstern blickten meine drei Schicksalsgenossen auf die wirklich schöne Waare: der Blonde, der Blauschurz und der Polizeiaufsichtler. «Geb’n Sie’s her!» sagte ich und legte ihm ein Zehnhellerstück hin. Er hatte nicht zurück. Eine halbe Stunde später, als ich längst darauf vergessen hatte, brachte er mir die drei Kreuzer Rest. Die Stummel hatten die drei ehrlich unter sich getheilt, und jeder dankte mir separat. Dienstag gab es eine Griessuppe, die ich wenigstens als solche erkannte und hinunterbrachte, ein Fettstückchen mit Fleischfasern daran und eingebrannte Erdäpfel. Mein Nachbar war mir sehr dankbar, als ich ihm das Mahl offerirte.

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Kaufgeschäfte. «Wer kauft a Hemat, fünf Kreuzer!» So kam jetzt rufend ein magerer Junge zu unserem Tisch. Niemand. Ich winkte ihn zu mir. «Ich kauf’ dir’s nicht ab, da hast so a paar Kreuzer, aber sag’ mir, warum willst du das Hemd verkaufen?» – «I brauch’ no fünf Kreuzer! Gestern hab’ i m’r um fufzehn Kreuzer Schuach kauft, dö muaß i m’r jetzt herrichten lassen; kost’ a wieder 25 bis 30 kr., und i hab’ nur zwanz’g.» Ich sah mir sein Schuhwerk an. Er steckte mit bloßen Füßen in zerrissenen Gummigaloschen, die er sich mit einem Packpapierband umwickelt hatte, um ihnen Halt zu geben. Durch Fragen erfuhr ich, daß sein Vater ein Einspännerkutscher war, der durch ein Fußleiden genöthigt ist, heute Wasserer zu sein. Er kann dem Jungen nichts geben, und so ist dieser schon seit Juli 1898 im Werkhaus. Er ist körperlich ganz herabgekommen. Ich halte ihn für 14 bis 15 Jahre alt. Sein Handgelenk ist das eines Zehnjährigen, und er sagt mir, daß er schon 18 Jahre zählt. Während wir noch sprechen, kommt schon wieder ein anderer mit einem Rock. Ihn ausbreitend, ruft er: «A schöner Rock wär’ zu hab’n. Es fehlt nix, als Ellbögen, a Kragen und a neu’s G’stell, und der Rock war’ wieder guat!»

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Kleine Bilder. Ich streiche beobachtend im Saal herum. Ein ungeschickter Taschendieb ist mein Begleiter. Hier spielt – das Spielen ist verboten – eine Gruppe Domino. Die Steine sind aus Pappe und die Punkte mit Tinte darauf gemalt. Dort schreibt einer sich die Finger wund. Die Briefaufschrift, die ich im Vorbeigehen lese: «Eier hochwolgeborne Gnaden!» läßt mich schließen, daß der arme Teufel irgendeinen Reichen für sich interessiren will. An einem anderen Tisch stecken ihrer Drei die Köpfe über dem «Extrablatt» zusammen. Sie müssen diesen – Genuß teuer bezahlen. Da ist einer Leihbibliotheksbesitzer im Werkhaus. Sonntag für Sonntag bringt der industriöse Mann einige illustrirte Journale mit, die ihn zusammen vielleicht zehn Kreuzer kosten. Diese wandern nun die Woche über von einem zum andern. Hunderte lesen die Blätter und jeder muß einen Kreuzer Leihgebühr zahlen. Der findige Werkhäusler bekommt seine Auslagen zwanzigfach zurück. Der Einsersaal vereinigt alle Honoratioren: einen Forstmeister, einen Postoffizial und den Geschäftsführer eines großen Restaurants im I. Bezirk. Alle drei haben defraudirt, wanderten ins Gefängniß und werden im Werkhaus voraussichtlich solange bleiben, bis der Tod oder das Versorgungshaus sie ablöst. Außer diesen ist noch ein Baron, ein wirklicher Baron, der nicht Bezirkshauptmann geworden war hier zu Hause. Der Senior ist bereits elf Jahre im Hause.

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Schlafenszeit. Es ist ¼ 8 Uhr geworden. Die Arbeit ist längst fertig, nur die Ueberverdiener schuften noch. Sie gönnen sich kaum Essenpausen und arbeiten fast ununterbrochen von 7 Uhr Früh bis halb 8 Uhr Abends. Einer der Aufseher ruft in den Saal: «Unreine! Bettzeug und G’wand holen!» – «Was bedeutet das?» frage ich. – «Dö, was Läus’ g’habt hab’n ...» klärt mich der Nachbar auf. Etwa zehn verlassen den Saal. Gleich darauf kommt an mich die Reihe. «Zuawächs – Asyl!» ruft der Aufseher. Das ist mein Stichwort. Wir gehen mit ihm in den Sammelraum des Asyls und bekommen auf dem Wege dahin die Bettanweisung. Im Asyl kann man innerhalb drei Monaten immer sieben Nächte schlafen. Ein düsterer Saal. An den Wänden Bänke. Darauf schlafende und herumhockende Elendsgestalten. Die später Gekommenen lehnen an den Wänden oder stehen in Gruppen beisammen. Hieher kommt der Doktor, um uns zu untersuchen. Eine Zigarette rauchend, gehe ich auf und ab. Da tritt ein etwa 35jähriger Mann bescheiden und gedrückt auf mich zu: «Werd’n schon entschuldigen ... schenken S’ m’r nachher den Stumpf.» Ich offerirte ihm eine «Drama», die er unter Dankesbezeugungen annahm. Er ist Kellner und bekam von Sternberg gebundene Marschroute. Im Werkhaus muß er nun das Einlangen seiner Dokumente abwarten. Er jammert, daß er wieder einmal so weit ist. «Asyl rechts, Werkhaus links!» ruft jetzt ein Aufseher in den Saal. Jeder suchte einen Platz und entblößt den Oberkörper. Der Arzt beleuchtet im Vorbeigehen jeden mit einer Kerze. In drei Minuten hat er etwa 80 Mann «untersucht» und merkwürdigerweise trotz dieser «Gründlichkeit» keinen Anstand gefunden. Auch die ärztliche Kunst geht nach Brot. Laut Amtskalender hat der Arzt 1200 Kronen jährlich. Er ist, wie mir ein Werkhäusler sagte, kein Anstaltsarzt, sondern ein «Freiheitsdoktor», das heißt er hat draußen seine Praxis.

Eine Viertelstunde später bin ich im Schlafsaal. Meine Anweisung lautet: Saal I, Bett 3. Es sind hundert in dem Saale. Die Betten sind rein. Eisenbetten, harter Strohsack, Leintuch, harter Polster, doppelter Kotzen, das ist die Ausstattung. Hart, aber gut, weitaus das Beste im ganzen Hause und besser als im Asyl für Obdachlose. Die Schlafsäle sind in Seitenbauten im ersten Stock. Wir sprechen über die Beschaffenheit der Betten, da sagt Einer ziemlich zutreffend: «Das Obere (die Schlafsäle) sagt: I möcht! – das Untere: I kann net!» Nach Stunden schlafe ich der ersehnten Abschiedsstunde entgegen. Es war eine schlechte Nacht!

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Der Abschied wurde mir nicht allzu schwer gemacht. Mit Hilfe der paar Kreuzer, die ich von dem vorsichtsweise wegen der eventuellen Kontrole in allen Säcken versteckten Kleingeld noch übrig hatte, fand ich einen Helfer, der mit mir bis 11 Uhr Vormittags den Tausender herunterarbeitete. Beim Rapport machte mir der Herr Verwalter durch eine gnädige Handbewegung kund, daß meine Bitte, nach dem Pensum losgehen zu dürfen, erfüllt sei. Nach halb 1 Uhr verließ ich meinen Platz, nachdem ich vorher im Saale vor allen übrigen mich umgekleidet hatte. Meine Freunde am Tisch, die meinen Lebensmuth im Stillen bewundern mochten, versorgten mich mit Rathschlägen, da ihre Mahnung, ich sollte nicht leichtsinnig die «Wohlthat» in die Schanze schlagen, nichts gefruchtet hatte. Der einjährige Aufsichtler meinte: «Wann S’ aber do ka Quartier kriag’n, so kommen S’ nur her ins Asyl – da hab’n S’ sieben Täg’ frei!» Es war der letzte Gruß!

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Nun noch die versprochene Antwort auf die einleitend aufgeworfene Frage: Kann man mit solcher Humanität drohen? Ja man kann es! Es ist die Humanität derer, die allein glauben, die Menschlichkeit oder das Christenthum gepachtet zu haben. Es ist die Humanität unserer heutigen Gemeinde.

Nun nur noch Eines. Das Werkhaus soll in Zukunft auch zum Asyl für mißhandelte Kinder werden. Die aufsehenerregenden Prozesse der jüngsten Tage gegen entmenschte Eltern haben auch den Wiener Magistrat gezwungen, die Frage zu studieren, wie in Hinkunft solche gequälte Kinder in geeigneter Weise unterzubringen sein werden. Da tragen sich nun die christlich-sozialen Herren im Rathause allen Ernstes mit dem Gedanken, im Werkhaus eine Abtheilung für mißhandelte Kinder zu schaffen. Jeder, der die Verhältnisse im Werkhaus kennt, muß entsetzt sein bei dem Gedanken, daß die mißhandelten Kinder diesem System, dieser Schablone, der Werkhausschablone, anvertraut werden sollen. Dort ist nicht ihr Platz, und wenn der Magistrat keinen anderen Ausweg findet, dann möge er das Beschützen mißhandelter Kinder lieber bleiben lassen. Von der Humanitätsanstalt «Städtisches Asyl- und Werkhaus» müssen die mißhandelten Kinder ferngehalten werden. Dies einstweilen zur Warnung!

Max Winter.

 

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