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Max Winter

Die Jahrhundertausstellung

I.

Paris, im Juli 1900

Die fünf Buchstaben, die zusammen das Wort Paris bilden, haben einen Zauberklang, nach dem wohl Jeder gern lauscht, an dem sich Viele schon im Gedanken berauschen. Wenn von Paris die Rede ist, geht es wohl jedem modernen Europäer, der noch nicht das Pariser Pflaster getreten hat, so wie dem leichtbeschwingten Schwärmer an schwülen Sommerabenden. Unwiderstehlich zieht es ihn dem Licht zu. Die Schwärmer erreichen ihr Ziel – die armen Menschen haben nicht so billige Reisegelegenheit. Sie sehen wohl auch das große Licht durch das Dunkel Europas strahlen: Theatervorstellungen, Uraniavorträge, Zeitungsartikel, Ansichtskarten, Photographien und die mündliche Ueberlieferung der wenigen Glücklichen, die Paris und seine große Ausstellung gesehen haben, vermitteln ihnen das große Licht. Sie sehen es aber nur, sie können nicht zuschwärmen wie die Schmetterlinge dem Licht. Vieltausendfache Sehnsucht bleibt ungestillt, weil eine so weite Reise mit viel zu hohen Kosten verbunden ist. Der Mensch der Arbeit kann das kleine Vermögen, das eine Pariser Reise verschlingt, nicht aufbringen – er kann noch so modern empfinden und denken, es kann ihn noch so stark nach dem großen Kulturwerk Europas hinziehen, das im heurigen Jahre an der Seine zu sehen ist – sein eigener Finanzminister wird ihm Halt gebieten, wenn er sein Sehnen verwirklichen will. Millionen wären berufen, wenige Tausend sind auserwählt.

Es gibt keine größere Industriestätte Europas, an der nicht Menschen leben, die durch ihren Geist, durch ihre Geschicklichkeit, Kraft und Erfindungsgabe an diesem größten Werke internationaler Arbeit mitgewirkt hätten, die es nicht mitbauen und mitvollenden geholfen hätten, und dennoch war diese Arbeitsleistung der ganze Antheil, den sie an dem bisher größten europäischen Ausstellungswerk nehmen durften. Den Proletariern aller Zungen geht es hier wie überall. Sie dürfen, ja sie müssen um kargen Lohn Alles schaffen, der Genuß der reifen Frucht bleibt den Anderen, die nichts schaffen, aber Alles besitzen. So ist in Paris wohl ein Riesenwerk internationaler Arbeit und internationalen Geistes entstanden, aber an dem Fest der Arbeit und des Geistes können in erster Linie nur die besitzenden Klassen theilnehmen, sie sind es auch, die in erster Linie Ehren einheimsen, die den schaffenden Kräften gebühren.

Um so ernster will ich meine Aufgabe nehmen, den Ausgeschlossenen zu vermitteln, was rund um den Eiffel zu sehen ist. Ich will versuchen, ein möglichst lückenloses Gesammtbild in den engen Rahmen zu zwängen, der mir hier zur Verfügung steht, und hoffe, ein guter Reisebegleiter zu sein. Wir sind glücklich in Paris angekommen, haben uns von der 32stündigen Eilzugsfahrt hastig ausgeruht und wollen nun, bevor wir das Ausstellungsgebiet selbst betreten, einen beiläufigen Ueberblick über die Ausstellung gewinnen, der uns orientiren soll. Der Plan weist uns den Weg nach dem Südwest von Paris, wo wir beim Point d’Auteuil einen jener vielen Seinedampfer besteigen, die uns um den Preis von 10 Centimes (etwa 9 Heller) durch ganz Paris führen. In einem ziemlich großen Bogen geht die Seine vom Südost- bis zum Südwestende der Stadt und berührt dabei zehn von den zwanzig Bezirken (Arrondissements), in die Paris eingetheilt ist. Machen wir die Fahrt gegen die leichte Strömung, so durcheilen wir im ersten Drittel die Ausstellung, die mitten in der Stadt, und zwar in den Bezirken 15, 16, 7 und 8 gelegen ist. Kaum haben wir vorne Platz genommen und dem Schiffskassier unseren Kupferbatzen gegeben, wofür er uns ein kleines sechseckiges Messingplättchen als Kontrolzeichen überreichte, als sich auch schon der Dampfer in Bewegung setzt und uns rasch gegen Paris zu trägt. Nun können wir schon nicht genug Augen zum Sehen haben, so rasch zieht wie in einem Wandelpanorama Bild an Bild vor uns vorüber. Wir wenden den Blick der Stadt zu. Vor uns in der Geraden steht imponirend der Eiffelthurm, dessen so klare und durchsichtige Konstruktion, von der Ferne gesehen, zu einem unlösbaren Liniengewirre verdichtet scheint. Wie eine schlanke Nadel strebt der Thurm zum Himmel. Zur Rechten wird ein miniumrothes Kuppeldach von dem oberen Abschnitte des 100 Meter hohen Riesenrades überragt, zu dessen Füßen das eigenartig reizende Schweizerdorf liegt, von dem wir jetzt allerdings nichts sehen. Links vom Eiffel erhebt sich die ätherblaue Riesenkugel des «globe celeste», des Himmelsglobus. Ganz im Hintergrund hebt sich die drap-braune Kugel eines Ballon captiv vom blauen Grunde ab.

Unser kleiner Schraubendampfer setzt rasch seinen Weg fort. Geschickt lancirt ihn der Kapitän an den vielen Schiffen und an den Brückenpfeilern vorüber. Ein Blick auf die belebte Wasserstraße zeigt uns einen großen Schleppdampfer, der sechs Lastschiffe zieht und sieben gut besetzte Personendampfer. Die Pfeiler von drei Brücken sind sichtbar. Am linken Ufer der Seine, also uns zur Rechten, fährt ein Zug, der mit seinen einstöckigen Waggons dritter Klasse einen ganz eigenthümlichen Anblick gewährt. Er kommt aus der nächsten Umgebung von Paris und hat, nachdem er die Quais von Javel und Grenelle durchfahren hat, beim Marsfeld, dort, wo der Pulsschlag des modernen Pariser Lebens am stärksten fühlbar ist, seine Endstation. An den Quais stehen Waggons, in die die Schiffsfrachten geladen werden. Das ganze lebhafte Verkehrsbild an und auf einer entsprechend benützten Wasserstraße rollt sich im Fluge vor uns ab. Wir sind beim Pont de Grenelle, bei der Grenellebrücke, die mit der Kolossalfigur der Freiheit geschmückt ist. Sie wendet ihr Antlitz Paris und dem nun immer näherrückenden Wahrzeichen von Paris, dem Eiffelthurm, zu. Gleich darauf passiren wir unter einer Eisenbahnbrücke. Die Verladungsquais zur Rechten haben inzwischen einem steil abfallenden Promenadenquai Platz gemacht, auf dessen zum Wasser führenden Stiegen Fischer sitzen, die uns die Leidenschaft der Franzosen, zu angeln, zum hundertstenmale drastisch vorführen. Der Eilzug, der uns gebracht hat, war auf seiner neunstündigen Fahrt durch das französische Flachland an keinem Weiler, keinem Tümpel, keinem Bächlein oder Fluß vorübergekommen, an dem nicht Fischer mit langen Angelruthen gestanden wären. So auch hier an der Seine. In den unmöglichsten, gefährlichsten Stellungen oft kann man die Fischer an den Quais, in Kähnen und auf Flößen auf dem Fluß beobachten. Da die Franzosen in keinem Polizeistaat leben, verwehrt es ihnen kein fürsorglicher sergeant de ville, daß sie sich den Hals brechen oder ins Wasser plumpsen. Schon sind wir aber beim Pont de Passy und damit im Ausstellungsgebiete.

Zur Rechten das in dem 7. und 15. Bezirke sich dehnende Marsfeld, auf dem die große Industrieausstellung untergebracht ist, zum Greifen nahe der Eiffel, zur Linken weit in den 16. Bezirk hineinragend, der Trocaderoplatz mit seiner interkontinentalen Stadt, in der man in allen Zungen des Morgen- und Abendlandes sprechen hören kann. Beide Plätze sind durch die Jenabrücke miteinander verbunden. Wir fahren an dem Palais der Forstwirtschaft, Jagd und Fischerei vorüber, dann an dem Eiffel und dann an dem Handelsschiffahrtspalast, zur Linken grüßt uns ein Stück Andalusien, dann die französischen Kolonien, und nach Passirung des Pont d’Jena ziehen wir an den englischen Kolonien und an Japan vorüber. Damit haben wir das Marsfeld und den Trocadero hinter uns.

Beide Plätze stehen mit dem zweiten großen Ausstellungskomplex, dem Invalidenplatz und der Avenue Nikolaus II., durch die hier in das Ausstellungsgebiet einbezogenen beiderseitigen Quais in Verbindung. Rechts kommen wir an der Grenze des Marsfeldes zunächst an dem miniumrothen Kuppelbau vorüber, den wir früher von dem Riesenrad überragt sahen. Wir konnten uns den Zweck dieses scheinbar glatten Kolosses nicht erklären. Nun erkennen wir an den aus vielen Schießscharten starrenden Kanonenschlünden, daß wir es hier mit einer Festung fin de siècle zu thun haben, mit einer Festung, die weder eingenommen oder erklettert, noch über den Haufen geschossen werden kann. An dem glatten Panzer muß alle feindliche Kunst abprallen. Anschließend daran hat der privilegirte Massenmord seine Hütten gebaut. Wir kommen an dem langgestreckten Gebäude der Gruppe XVIII vorüber, in dem die Landheere und die Marine aller Welt ein Asyl gefunden haben. Im letzten Theile des langgestreckten Baues hat das rothe Kreuz seine Flagge gehißt. Daran grenzt Mexiko, das die Rue des Nations, die Völkerstraße, hier ergänzt. Links sind wir inzwischen an einer in der Seine verankerten Yacht, der «Neuen Welt» vorübergekommen, auf der es Nachmittags, natürlich gegen Separatentrèe, immer «grandes spectacles» zu sehen gibt. Flinke Matrosen führen die Segelmanöver auf und geben so den Landratten Einblick in das wechselvolle Treiben an Bord einer Segelyacht. Das Objekt ist vom Yachtclub ausgestellt. Wir kommen dann an dem großen Restaurant Duval vorbei, das ist eines der Restaurants, wo man billig nach der Karte speisen kann – das heißt, man wird sich um 3 Francs anessen können – zum Unterschied von den anderen Restaurants, in denen man immer nur ein «Couvert» nehmen kann, das sind sechs bis sieben Gänge, die man ganz gut in einer halben Stunde essen könnte, zu denen man aber nach dem langweiligen Pariser Service anderthalb Stunden brauchen muß, um dann ungesättigt und unbefriedigt, aber um 4 bis 6 Francs leichter, aufzustehen. Doch diese Sorgen werden erst später an uns herantreten, und wir nützen die Minute des Vorüberfahrens, aus, um dem scheinbar auf Piloten gebauten Alt-Paris unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Durch Bretterfugen sehen wir ein Balkengewirre, auf dem dieses Alt-Paris steht. Gegen die Seine zu sind die mittelalterlichen Häuser durch Bretterwände abgeschlossen. Wo sich Ritze in dem Gefüge zeigen, ranken roth- und gelbblüthige Kressen empor. Plötzlich ein freier Platz. Auf erhöhter Bühne steht in mittelalterlicher Tracht ein Trommler, der in unverfälschtem Montmatre-Jargon – wenig stimmungsvoll zu seiner Tracht – die Menge einladet, den Zoten irgend einer modernen Chansonette zu lauschen, die, was sonst bei Sängerinnen dieser Art nicht allzu selten ist, nicht einmal «mittelalterlich» ist. Während wir an der Szene vorüberfliegen, können wir auch nicht mit Bestimmtheit beurtheilen, ob so viel Kostümmangel stylgerecht mittelalterlich ist. Wir sind aber gute Menschen und glauben daran.

«Alma!» ruft der Schiffskassier. Wir halten an. In einer Minute geht die Fahrt weiter. Wir passieren unter der Alma-Brücke und gleich anschließend daran unter einer hölzernen Nothbrücke, die dem Fußverkehr in der Ausstellung dient. Zur Linken kommen wir nun an dem Kongreßpalast vorbei, in dem auch das internationale Museum für Sozialökonomie untergebracht ist (auch Österreich hat hier einen kleinen Verschlag), und im Anschluß daran sehen wir die duftigen Glashausbauten, in denen die temporären Garten- und Obstbauausstellungen untergebracht sind, und als letzten Bau das Palais der Stadt Paris in dem wir einige Tage später die Entwicklung von Paris im ablaufenden Jahrhundert studiren. Es ist für Großstädter eines der interessantesten Objekte der Ausstellung. Auf der rechten Seite zieht inzwischen auf erhöhter Esplanade das stylistische Kunterbunt der Völkerstraße an uns vorüber: Serbien, Griechenland, Schweden, Monaco, Spanien, Deutschland, Norwegen, Belgien, Großbritannien, Ungarn, Bosnien, Oesterreich, Nordamerika. Die Türkei und Italien haben hier der Seine zugekehrt ihre Paläste gebaut, die einen einfach, die anderen prunkvoll, überladen und uncharakteristisch. Oesterreich mit seinem einstöckigen Herrenschloß im Barockstyl repräsentirt sich in diesem internationalen Durcheinander sehr gut – das kann man eingestehen, ohne in den Verdacht patriotischer Schönfärberei zu kommen.

Doch auch hier geht es im Fluge weiter. Ein hölzerner Ausstellungssteg, dessen drei Pfeiler mit je einem riesigen französischen Hahn dekorirt sind, ist knapp vor die Invalidenbrücke hingebaut. Wir sind glücklich durch, und schon wieder fesselt uns ein Brückenbild. Der herrliche Pont Alexandre III, dessen Grundsteinlegung der Beherrscher aller Reußen persönlich vornahm, erscheint vor uns. Er verbindet die letzten zwei großen Ausstellungsplätze miteinander. Die Invalidenesplanade, wo die Kunstgewerbe und die Avenue Nicolaus II, wo die moderne Malerei und Plastik im Grand Palais und die überlieferte Kunst im kleinen Palais Heimstätten gefunden haben. Zwischen der Seine und den beiden Kunstpalais sind die Annexe der Garten- und Obstbauausstellung untergebracht.

Bei der Concordebrücke verlassen wir den Dampfer, um durch das vielumstrittene monumentale Haupteingangsthor am Concordeplatz die Ausstellung zu betreten. Die Kunstsachverständigen tadeln es, daß der «schönste Platz der Welt» durch ein solches Unikum an Geschmacklosigkeit verunziert wird. Auf mich als Laien machte dieser aus maurischen und byzantinischen Motiven zusammengesetzte Bogen einen recht bizarren Eindruck. Auch die kecke «Pariserin im Schlafrock», die den Spitzbogen bekrönt, kann nicht versöhnen. Wir gehen zunächst in der Geraden und dann nach links über die Alexanderbrücke, um zur nächsten Station der Plate-Forme Mobile, des rollenden Trottoirs, zu gelangen. Wir wollen nämlich zur besseren Orientirung auch noch diese Ausstellungsringbahn benützen, die die einzelnen Theile der Ausstellung miteinander verbindet. Sie hat einen Umfang von 3,4 Kilometern und besteht aus drei Trottoirs. Das erste ist festgelegt, das zweite, um eine Stufe erhöhte, bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von 6 Kilometern, das dritte, um zwei Stufen erhöhte, mit einer Geschwindigkeit von 10 Kilometern in der Stunde vorwärts. Da man vorwärts schreitend auch 5 bis 6 Kilometer in der Stunde gehen kann, so ist die rascheste Vorwärtsbewegung mit diesem Verkehrsmittel 16 Kilometer – das ist eine ungeheuere Geschwindigkeit für ein Verkehrsmittel, das, ohne je anzuhalten, von Früh bis Abends in Bewegung ist, vielen Tausenden zugleich die Möglichkeit der Beförderung bietet. Der Einheitspreis ist 50 Centimes für eine Fahrt, die beliebig ausgedehnt werden kann. Wem es Spaß macht, der kann auch zehnmal um die Ausstellung herumfahren. Wir begnügen uns mit einer Fahrt, die wir bei der Invalidenbrücke antreten. Zur Linken die Stadt, zur Rechten die Ausstellung, kommen wir zunächst an der Rückseite der Völkerstraße und der Armeeausstellung vorüber, dann machen wir eine scharfe Kurve, die die Bahn in das Bereich des Marsfeldes führt. Der Eiffel, die Rückseite des linken Flügels des Industriepalastes und an dieser der große, 80 Meter hohe Kamin, der sehr hübsche keramische Ornamente als Schmuck zeigt, ist hier zu sehen. Wieder eine Kurve, und wir durchfahren auf hoher Brücke die Avenue de la Motte Piquet, sehen dabei die goldene Kuppel des Invalidendomes und biegen in stumpfem Winkel zur Esplanade des Invalides ein, längs der wir wieder zu unserem Ausgangspunkt, zur Invalidenbrücke, gelangen. Hier verlassen wir das rollende Trottoir und besteigen die elektrische Ringbahn, die uns in entgegengesetzter Richtung denselben Weg um 25 Centimes in wenigen Minuten führt. Nun erst wagen wir uns in den Strom der Besucher, deren nach der bisherigen Aufzeichnung täglich 200.000 den 108 Hektar, 1,080.000 Quadratmeter, großen Raum füllen. Für heute nehmen wir aber an, daß wir schon recht müde sind. Wir versäumen nichts, wir werden noch alle Wunder schauen. Auf Wiedersehen!

II.

Paris, im Juli 1900

Unsere ersten selbstständigen Schritte in der Ausstellung gelten dem Champ de Mars, dem Marsfeld, wo uns nicht nur der mächtige Industriepalast mit seinen immensen Schätzen anzieht, sondern wo auch rund um den Eiffel spekulatives Unternehmerthum einige der sogenannten «Clous» der Ausstellung gruppirt hat. Hier ist das Palais de l’Optique, das transatlantische Panorama, das «Venedig in Paris», der Palast der Frau, das Kineorama und das Mareorama, der große Himmelsglobus, das aus durchschimmernden Mattglasziegeln erbaute «leuchtende Palais», das Panorama rund um die Erde, in dem man in einer halben Stunde eine Weltreise machen kann, und endlich das Palais du Costumes. Eigentliche Clous, durchschlagende Sensationen sind sie aber alle nicht, wenngleich sich die meisten mit Recht die volltönige Bezeichnung «Palast» beilegen. «Clous», wie der Eiffelthurm, können eben nicht überboten werden, und wenn man einem von all dem Neuen, was in der Ausstellung geboten ist, den Ehrentitel Clou zuerkennen will, so ist es das genial erdachte rollende Trottoir. Gar viele der anderen Schaustellungen, die im Bereich der Ausstellung geboten werden, sind das Separatentrée nicht werth, das man entrichten muß, wenn man den Schleier von dem pomphaft angekündigten Geheimniß ziehen will. Zum Kapitel «Separatentrée» wäre ein Wörtchen zu sagen. Ein in der Ausstellung viel gewanderter Statistiker hat ausgerechnet, daß man an fünfhundert Francs an Separatentrées aufwenden müßte, wenn man alle Schaustellungen innerhalb der Ausstellung besichtigen wollte. Diese Summe wird begreiflich, wenn wir aus unserer Erfahrung sagen, daß in alle vorhin aufgezählten Paläste und Panoramen ein Separatentrée von einem bis anderthalb Francs zu zahlen ist, daß ein Besuch des Eiffelthurmes bis zur höchsten Spitze 5 Frcs. kostet, daß wir nach Ueberschreitung der Jenabrücke in den um den Trocadero gruppirten Fremdenkolonien fast an keiner Bretterhütte vorübergehen, die sich nicht Theater nennen würde, daß wir hier ein unterirdisches Höhlenpanorama, das Stereorama, ein Diorama, ein Kongopanorama gegen Entrée besichtigen können, daß wir in ein Bergwerk einfahren und in einem eleganten Coupé der sibirischen Eisenbahn eine Fahrt durch Sibirien mitmachen und noch ungezählten anderen, zum Theil recht sehenswerthen Vorführungen beiwohnen können, vorausgesetzt, daß wir genug Zeit im eigentlichen und im sprichwörtlich übertragenen Sinne des Wortes haben.

Wir sparen uns indeß diese belehrenden Unterhaltungen für die Abendstunden auf und nützen den jungen Tag aus, um uns zunächst in der Stätte internationaler Industrie umzusehen. Fliegen wir also von Sibirien, wo wir zuletzt im Geiste weilten, auf das Marsfeld zurück und orientiren wir uns hier. Wir stehen unter dem Kolossalbogen des Eiffel. Vor uns liegen die reizenden Bosquets des Marsfeldes, durch deren Mitte sich eine breite Promenade zieht. Zu beiden Seiten der Gartengruppen erheben sich die mächtigen Flügel des hufeisenförmig gebauten Industriepalastes, dessen Mittelfront, das Palais electrique, die Promenade des Marsfeldes architektonisch prächtig abschließt. Die Facade stellt ein Wasserschloß dar, das Abends im Glanze von vieltausend buntfärbiger Glühlämpchen erstrahlend, einen berückenden Anblick gewährt. Vom linken Flügel her klingt zu uns herüber, weihevoll getragen, ein Glockenspiel...

«Allons enfants pour la patrie...»In hellen Glockentönen schwingt sich die Marseillaise, das Kampflied der französischen Revolution, das Kampflied des internationalen denkenden Proletariats bis zu unserem Ohr und mahnt uns an die Arbeit. In dem kurzen Marschtempo der Marseillaise streben wir dem Eingang in den linken Flügel zu, von dessen Thurm herab die Töne klingen.

Der Industriepalast stellt sich im Innern als ein riesenhafter Hallenbau dar. In beträchtlicher Höhe ist eine Galerie errichtet, die, gleichfalls Ausstellungszwecken dienend, nicht die ganze Fläche einnimmt sondern Rondeaux und Vierecke frei läßt, damit die großen Ausstellungsobjekte im Parterre Raum zur Entfaltung haben und überall genügend Licht empfangen können. Der Ausstellungsstoff ist nach Gruppen geordnet, innerhalb welcher wieder die einzelnen Nationen ihre Spezialausstellungen haben. Jede Gruppe theilt sich wieder in Klassen. Die den einzelnen Gruppen zugewiesenen Räume führen, obwohl der Industriepalast ein einheitliches Bauwerk darstellt, für sich wieder den Titel Palast. Mines et Métallurgie steht über dem ersten Palais, das die Klassen 63 bis 65 umfaßt. Bergbau und Metallverarbeitung. Was gibt es hier nicht Alles zu sehen! Von der kleinsten Nadel Alles bis zu dem 80.000 Kilo schweren Hintersteven für ein deutsches Kriegsschiff: Werkzeuge, Kesselbestandtheile, Kessel, Kupferdrähte und riesige Röhren aus Kupfer, Eisenschienen, Räder, und in Seitenräumen ist durch Reliefs, Querschnitte und Karten darzustellen versucht, wie schwer der Mensch Erz und Kohle der Erde entringt. Daneben sind die Urstoffe, wie sie gewonnen werden, in Vitrinen ausgestellt. Es ist versucht, Allem, selbst dem Ungefügigsten, eine gefällige Form zu geben. So sehen wir denn gleich beim Eintritt die Nähnadel als Zelle, aus deren Tausend und Abertausend sich der Körper eines Riesenschmetterlings aufbaut. Den Eingang zur Klasse 64 (große Metallurgie) bildet ein mächtiges, aus Kesselbestandtheilen aufgebautes Thor von 15 Meter Höhe. Es führt uns in ein Rondeau, in dem ein Tempel aus Kupferröhren und Platten – 25 Meter hoch – errichtet ist. Acht Säulen stützen das Dach. In der Mitte des Tempels ist ein 10 Meter hoher Aufbau aus Stangen und Drähten. Neben dem Tempel streben drei Thürme aus Eisenschienen zur Höhe. Wir beobachten, daß das reich angebrachte Ornament bis ins Detail aus Schienen gefügt ist. Alles überragt aber eine aus Traversen gebaute Pyramide, die von einer aus Puffern gefügten Kuppel überdacht ist. An Allem können wir einen Zug ins Uebergroße sehen. Der Ruhm ihres Landsmannes Eiffel läßt die Franzosen, in deren Abtheilung wir uns befinden, nicht ruhen. Sie möchten neben ihm nicht ganz verschwinden, wenn sie ihn schon nicht erreichen oder übertreffen können.

Wir durchwandern dann der Reihe nach Italien, Luxemburg, Deutschland, Rußland, Norwegen, Belgien und gelangen über Ungarn in die österreichische Abtheilung, deren mächtigstes Ausstellungsobjekt, der Hintersteven, wir schon erwähnt haben. Er stammt von Skoda in Pilsen. Die größten österreichischen Firmen haben sich ferngehalten. Witkowitz und Donawitz suchen wir hier vergeblich. Der offizielle Führer durch die österreichischen Abtheilungen der Ausstellung gibt uns darüber einigen Aufschluß. Es heißt dort, daß «sehr maßgebende Persönlichkeiten unter dem Hinweise auf die Unmöglichkeit, in Paris wirthschaftliche Erfolge zu erzielen, eine ablehnende Haltung einnahmen», oder mit anderen Worten, daß die Rothschilds und alpinen Montanleute nur patriotisch sind, wenn dabei ein Geschäft herausschaut. Wer es weiß, wie sehr sich die österreichischen Regierungen der letzten Jahre dafür eingesetzt haben, daß die österreichischen Industrien – es sind ja ohnehin so wenige – würdig auf der Ausstellung vertreten sind, wer es weiß, wie von vornherein der Patriotismus aller «Großen» aufgerufen wurde, der braucht nur noch selber ein österreichischer Patriot zu sein, um beim Betreten dieser Abtheilung schmerzlich berührt zu sein. Wir anderen nüchternen Beurtheiler freilich gehen kühl an dieser Erscheinung vorüber. Daß der Patriotismus dieser Sorte beim Füllen der Geldsäcke anfängt und bei Entleerungsversuchen aufhört, daran haben wir nie gezweifelt. So ist denn die österreichische Abtheilung der Gruppe XI recht mager ausgefallen. Die Offiziellen konnten die Gruppe nicht retten. Sie haben die Salzproduktion (Finanzministerium) und den staatlichen Bergbau (Ackerbauministerium) dargestellt. Außerdem sind noch die Sensenwerke gut vertreten. Da hat sich Ungarn beinahe besser eingestellt. Die Eingangspforte zur ungarischen Abtheilung hat Dynamit Nobel zu einer Darstellung der praktischen Verwendung des Dynamits benützt. Der Bildhauer stellt auf den beiden Portalflügeln einige Szenen aus dem Leben «unter Tag» dar. Auf dem rechten Flügel sehen wir einen überlebensgroßen, kräftigen, kohlengeschwärzten Bergmann, der eben das in die Bohrung gelegte Dynamit zur Entzündung bringt. Ein zweiter sucht seinen Leib, so gut es geht, hinter einem Flötz zu decken. So ist ziemlich realistisch die eine Gefahr, die den Bergleuten stets droht, dargestellt. Aber die Leiber der Grubenleute hätte ein Meunier formen müssen, dann wäre auch der Hunger der ungarischen Grubenproletarier zu ergreifender Darstellung gekommen. Diese Leben und Kraft athmenden Gestalten sind nicht Jene, die in Annina unter der Fuchtel des Herrn der österreichisch-ungarischen Staatseisenbahngesellschaft, des Ritter v. Taussig, schmachten. Die Gruppe links versinnbildlicht uns in einem an einen Hunt gelehnten Arbeiter und in einem Schlepper, der eben einen Schiebkarren entleert, die Förderung der gewonnenen Kohle. Auch diese beiden Riesen sind nicht Modelle aus ungarischen Gruben.

Während in der Gruppe XI nur die Produkte ausgestellt, der Produktionsprozeß aber nur bildlich dargestellt ist, kommen wir weiterschreitend durch eine ganze Reihe von Industriegruppen, wo wir intimeren Einblick in die Produktion bekommen. An unser Ohr schlägt desto deutlicher, je mehr wir uns der nächsten Gruppe nähern, ein Gesurre und Geschnarre, als ob alle Spindeln und Webstühle der Welt sich hier Rendezvous gegeben hätten. Da sind wir auch schon mitten drinnen in der Gruppe XIII, Textilindustrie, sehen hier, wie Hemden gewirkt, dort, wie Stricke gedreht werden und verfolgen gleich darauf den Werdegang von Strumpfbändern, auf denen – sinnig das «Exposition universelle de Paris 1900» eingewirkt ist. Hier schnarren mechanische Webstühle, dort gerathen wir in das ohrenbetäubende Spindelkonzert einer Spinnerei – dann kommt eine Gruppe von Glaskasten, in denen wir die endlichen Produkte: Kleider, Hüte, Kostüme, Fächer, Handschuhe, Wäsche etc., sehen können und nicht unfern davon ist ein Museum alter Kostüme auf einem Tisch ausgelegt. Unter anderen nützlichen Gegenständen sehen wir auch das Mieder, mit dem Urgroßmutter auf den ersten Ball ging, und wissen nun, welche Verwendung die Eisenbahnschienen hatten, bevor sie ihrem heutigen Zweck zugeführt wurden. Sie waren Miederblanchetts. Der Miederwahnsinn von anno 1800 war womöglich noch größer als der heutige. Sieht man so ein für Jahrtausende dauerndes Monstrum an, das 1800 den züchtigen Frauenleib darzustellen hatte, so fühlt man sich versucht, nach der Entwicklungstheorie anzunehmen, daß sich die Stahlpanzer der mittelalterlichen Kriegsrüstungen zu den heutigen Miedern fortentwickelt haben. Auch wie Passementrien und Teppiche gemacht werden, lernen wir aus der Anschauung kennen, und ebenso sehen wir Spitzenklöpplerinnen an der Arbeit. Eine «lebende Stiege» führt uns auf die Galerie. Ohne daß wir die Stufen zu steigen brauchen, gelangen wir zur Höhe, wo wir an einer Barriere abgesetzt werden, während die Stufe einen Spalt benützt, um auf die Welle zu kommen, die sie wieder ins Parterre zurückführt. Die Stiege ist nach dem Prinzipe der Baggermaschinen konstruirt und bewährt sich als Personenaufzug noch besser als die Laufteppichaufzüge (Chemin élevateurs) nach dem System Leblanc, die Einen gleichfalls in schiefer Ebene zur Höhe der Galerie tragen. Das Stehen auf ihnen ist nicht so bequem wie auf der Stiege.

In der österreichischen Abtheilung ist besonders die Kollektivausstellung von Maschinen für die Textilindustrie erwähnenswerth. Die österreichische Leinenindustrie, die unter Mitwirkung einer großen Anzahl von Theilnehmern aus Böhmen, Mähren und Schlesien zu Stande kam, zeigt Alles, nur nicht das sprichwörtliche Elend der österreichischen Leinenweber. Das wäre freilich ein allzu seltsames Ausstellungsobjekt.

So sind wir langsam zu der großen Querpromenade gekommen, die den linken mit dem rechten Flügel des Industriepalastes verbindet. In diesem abschließenden Querbau haben rings um den gewaltigen Festsaal die Elektrotechniker und Eisenkonstrukteure, der Ackerbau und die Nahrungsmittelausstellung Heimstätten gefunden. Kolossale Brückenkonstruktionen und mächtige Dynamos und Turbinen – alle im Betrieb – lassen uns beinahe vergessen, die lichte Deckenkonstruktion des Palastes zu bewundern, in dem wir wandern. Wir kommen an einer Unzahl von elektrischen Spielereien vorüber, so namentlich an einer die uns fesselt. Sie zeigt uns so recht deutlich, welche Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten die fortschreitende Kultur denen, die Alles besitzen, zugänglich macht. Eine schwüle Atmosphäre lagert in der großen Halle, die Julihitze drückt uns beinahe nieder, da fächelt plötzlich kühlender Lufthauch unsere glühenden Wangen, unsere schweißperlende Stirne. Wir sehen auf und gewahren nun in etwa 2 ½ Meter Höhe ein reichgesticktes Tuch, das, an einer Achse hängend, durch diese vor und zurück bewegt wird und so, gewissermaßen die Luft peitschend, leichten Wind erzeugt. Die Achse hängt in einem hohen Gestell. Die Bewegung erzeugt elektrische Kraft. «Eventail Punkah pour Ventilation des Appartements» – Punkahfächer zur Ventilation der Zimmer – lesen wir darüber. Auf unserem Standort brauchen wir uns nur noch ein bequemes Liegebett zu denken und darauf einen von denen, die schwitzen, wenn sie Andere arbeiten sehen, und wir haben ein Bild davon gewonnen, wie einseitig der Segen der Kultur in dem kapitalistischen Zeitalter vertheilt ist. Die fächelnden Sultanssklavinnen sind von der Elektrizität überwunden. Das zeigt uns das technische Gesicht der Sache.

Im rechten Flügel des Industriepalastes nach unserer Gehordnung kommen wir zuerst durch die chemische Gruppe, in der zum großen Schmerz der Franzosen Deutschland dominirt. Hierher gehört auch die Klasse 88, Papierfabrikation, wo wir einem Maschinenkoloß begegnen. Die Warmbrunner Papiermaschine, die hier ausgestellt ist, hat eine Länge von 50 Meter, eine Höhe von 4 ½ Meter und sie erzeugt in der Minute 150 Meter eines 2.3 Meter breiten unendlichen Papiers. Ein zweites sehr interessantes Objekt ist in der Klasse Parfumerie zu sehen: die Stearinkerzenfabrikation. Die letzte im Industriepalast untergebrachte Gruppe (XV), die verschiedene Industrien umfaßt, zeigt uns unter Anderem in der Klasse Papierindustrie die technische Herstellung eines modernen Pariser Tagblattes, den Buntdruck und die Photographie. Hier beherrscht Deutschland mit seinem Buchdruck die übrigen Nationen, von denen namentlich Ungarn recht groß thut. Nicht weniger als sechs Dichterstatuen hat Ungarn hier ausgestellt, um seine hohe Kultur zu erweisen. Uebrigens gibt dem Forscher ein dort aufliegendes, 546 Seiten starkes Buch Aufschluß über die ungarische Kultur. Dann durchschreiten wir ein Parterre von Automobils und Kutschen aller Art und Größe. Auch Eisenbahnwagen sind in allen möglichen Typen hier ausgestellt. Eine letzte Halle ist den Musikinstrumenten eingeräumt. Hier klimpern Berufene und Unberufene den ganzen lieben Tag, und wir thun gut, zu flüchten. Das lärmende Getriebe des Industriepalastes ist uns an die Nerven gegangen. Wir suchen Erholung auf der herrlichen Promenade zwischen Eiffelthurm und Wasserschloß.

Hier hat sich inzwischen – es ist ein Tag der Auserlesenen, an dem 5 Tickets Entrée ist – ganz Paris Rendezvous gegeben, und auch die Fremden sind nicht ferngeblieben. Unter ihnen sehen wir zu unserer größten Freude – wir sind ja gute Oesterreicher – einen verflossenen österreichischen Ministerpräsidenten, der zur Abwechslung hier und nicht mehr in «Venedig in Wien» die Freuden des Daseins sucht. Heute sollen die großen Wasserkünste spielen. Alles ist in gespannter Erwartung. Die Schatten der Nacht haben sich hernieder gesenkt. Den Blick auf das elektrische Palais gerichtet, harren wir in der Promenade aus. Plötzlich zieht sich eine Flammenlinie längs des durchsichtigen Ornaments, das die Kuppel des Palais umgrenzt. Jetzt flammen auch die Bogen des Wasserschlosses auf, das, von Arcaden flankirt, gerade in die Mitte des elektrischen Palais hingebaut ist; das «Palais electrique» und das R.F. (Republique francaise) erscheint in Flammenschrift, weithin durch die Nacht sichtbar. Von der Spitze des Eiffel leuchtet ein Scheinwerfer auf die Szene und taucht die Idealfigur der Elektrizität, die das Wasserschloß bekrönt, ins hellste Licht. Alle Linien leben auf. Aber noch immer warten die höchsten Effekte. Die Wassermassen stürzen unter dem Dache des Wasserschlosses hervor und suchen über Terrassen den Weg zu dem großen Bassin, aus dem sechs Strahlenbündel Wasser speien. Plötzlich ist die ganze Szenerie verändert. Jeder Wassertropfen scheint durchleuchtet. Die Terrassen und die Springbrunnen im Parterre sind in alle Farben getaucht, die das Sonnenspektrum kennt. Jetzt wechseln die Tinten: blau, roth, orange, violette .... Immer neue Abwechslung kommt in das herrliche Bild. Die Pariser jubeln und mit ihnen freuen sich die Fremden, wenn auch weniger lebhaft, des einzig schönen Bildes, das man gesehen haben muß, um seinen ganzen Reiz erfassen zu können. Geblendet von all dem Glanze verlassen wir die Stätte, wo der Geist der Elektrizität Triumphe feiert, und suchen unseren vierten Stock auf, um Ruhe zu finden nach den Mühen des Tages. Ausstellungen besichtigen ist eine Plage.

III.

Paris, im Juli 1900

«Die Reise um die Erde in 80 Tagen» hat sich überlebt. Wenn man recht fleißig ist, kann man alles Schöne, was diese Erde bietet, in der Pariser Weltausstellung an einem Tage sehen. Man braucht nur aufmerksam den ansteigenden Platz vor und um dem Trocadéropalast und die Völkerstraße zu durchwandern. Das Exotische übt größeren Reiz auf uns aus, und da wir von unserem Ausgangspunkt Marsfeld näher nach Tonkin oder Neu-Kaledonien als zum Beispiel nach England haben, so nützen wir den weniger heißen Morgen zu einem Spaziergange durch jene Reiche, wo die Sonne die Menschenleiber bräunt und schwärzt. Zudem ist es in Afrika oder Asien am Nachmittage gar zu heiß. Dies ist buchstäblich zu nehmen, denn auch in der Ausstellung sind alle diese dekorirten Bretterhütten, die Afrika und Asien darzustellen haben, heiß in die Sonne hingebaut. Kaum daß man in den engen Gäßchen, wo die Straßenbazare den Raum noch mehr verengen, etwas Schatten findet. Wir gehen also über die Jenabrücke und wenden uns, als Menschen, die die Höflichkeitspflicht des Gastes kennen, zunächst zur Linken, wo die Kolonien und Protektorate Frankreichs sich Rendezvouz gegeben haben. Ueber Algerien, wo Alles, nur nicht der erste antisemitische Bürgermeister von Afrika, Herr Max Regis, ausgestellt ist, kommen wir nach Tunis, wo uns außer Gablonzer Perlen auch noch primitive Töpferwaaren, europäische Jahrmarksbijouterien und in der Zuavenkneipe Dattelwasser angeboten wird – natürlich Alles als Produkt heimischen Gewerbefleißes. Die braunhäutigen und dunkeläugigen Verkäufer machen dennoch gute Geschäfte, denn sie bringen nicht nur Galanteriewaaren, sondern auch die Galanterie selbst zu Markte und schneiden den Pariserinnen, die in ihr Bereich kommen, so charmant die Cour, daß man als Wiener sich unwillkürlich der Ashantimode erinnern und das Schlimmste – für den Nachwuchs dieser Damen fürchten muß. Die fahnenartigen Fächer, die die Söhne Afrikas feilbieten, finden reißenden Absatz. Das Amazonenreich Dahomey, das sich in friedlicher Nachbarschaft neben dem tunesischen Dorfe befindet, ist noch unbewohnt. Ueber eine mit leeren Zementfässern und Balken lieblich bestreute Straße kommen wir in das Sonnenreich Andalusien und von hier über Senegal und den Sudan wieder zurück zum Ausgangspunkt Algerien. Ueberall Tam-Tam, Kriegsgeschrei, Schwert- und Bauchtänze, die, mit entblößtem Oberkörper von Frauen und Mädchen ausgeführt, den Neid der Pariserinnen wecken. Wie brave Studentinnen im Kolleg, sitzen die eleganten Damen da und folgen mit glühenden Blicken den rhythmischen Bewegungen, die die Tänzerinnen mit dem Oberkörper ausführen. Alles athmet die schwüle Atmosphäre oft schlecht verhaltener Wollust. Der Bauchtanz wird in Paris bald Mode sein!

In dem zweiten Platzviertel finden wir die Ausstellungen von Tonkin, Indo-Chine, Martinique, Guadeloupe und Neu. -Kaledonien. Hier hat auch das Kolonialministerium einen Pavillon gebaut. Wir überschreiten den Platz vor dem Trocadero und wenden uns der rechten Seite zu, wo die Kolonien anderer Staaten untergebracht sind. Das asiatische Rußland mit seiner orientalisch-buntfärbigen Pracht und Sibirien, das unendliche Reich mit seinem ewigen Eis und seiner berückenden Tropenflora – nimmt uns zuerst auf. Zwei Riesenkerle von Kosaken bewachen den kaiserlichen Pavillon. Alles, was das Reich hervorbringt, ist zu sehen: Pelze, Gold, Hölzer und Getreide. Die Knute und der Wahnsinn der Verschickung nach Sibirien sind nicht dargestellt. Auch eine Reise mit der transsibirischen Bahn kann man machen. Das Panorama Moskau-Peking genießen wir in einem Wagen der transsibirischen Bahn, der uns über eine Galerie zur Endstation: dem ersten Stockwerk des chinesischen Restaurant führt. Die Vorgänge in China haben die enge Verbindung zwischen Rußland und China inzwischen zwar gelöst, aber in dem unter dem Zeichen des Friedens gebauten Ausstellungswerk besteht diese Verbindung noch. China! Was es ausstellt? Fächer und Porzellan, Pagoden, Feldfrüchte, Druckwerke, Papier und Papiermachégegenstände, Tassen und Kassetten mit Goldmalerei, zarte Geflechte, Thee und Theehäuser mit den Geishas, den chinesischen Tänzerinnen – kurz, Alles was Europa von China kennt. Es war aber bescheiden genug, die Einfuhrsartikel: Krupp’sche Kanonen, englische Gewehre und deutsche Soldatenabrichter, nicht zur Ausstellung zu bringen. Diese Schätze den Europäern zu zeigen, wartete es eine andere Gelegenheit ab. Auch die chinesische Grausamkeit ist nicht ausgestellt, wohl aber die chinesische Feigheit. Die Vorgänge in China ließen die schlitzäugigen Söhne des Ostens für ihre eigenen Kadaver das Schlimmste befürchten, und so befleißen sie sich im Verkehre mit den Europäern einer redegewandten Zuvorkommenheit, und in ihrem Wachsfigurenkabinet machten sie die Abbildungen der Mächtigsten im Reich, der kaiserlichen Familie, des grausamen Metzlers Tuan, des Telegrammschwindlers Scheng und des Vizekönigs Li-Hung-Tschang zu namenlosen Wachsporträts. Nur die Volkstypen haben ihre Aufschrifttafeln behalten.

In diesem Viertel haben auch noch die portugiesischen Kolonien, die holländischen Eroberungsländer und Transvaal Raum gefunden. Dieses unglückliche Bauernland ist noch nicht zu den im letzten Viertel eingereihten Erfolgen englischer Beutepolitik geworfen. Im Bereich der englischen Kolonien kommen wir in das ohrenbetäubende Gewirre eines Bazars in Kairo, dann in den solid ausgestatteten Pavillon Australiens, der immense Goldschätze birgt, und endlich über Kanada in einen indischen Theehof, wo die Hungersnoth in Indien an einigen gräßlich mageren, halbvertrockneten Menschen wider Willen dargestellt ist. Die faltenreichen Gewänder können nicht die hautüberspannten Knochengerüste völlig verdecken. Wie der verkörperte Tod schleicht namentlich ein Alter umher.

Unser letzter Besuch auf dem Trocadero gilt Japan, das sich hier eine stille Ecke erobert hat, ohne sich indeß darauf zu beschränken, nur hier zu sein. In vielen ernsten Gruppen begegnen wir den Erzeugnissen japanischer Industrie und Kunstfertigkeit, und überall ringt uns das Kulturland des Ostens Achtung ab. Der Umstand, daß auf dem heurigen internationalen Kongreß die japanische Sozialdemokratie zum erstenmal vertreten sein wird, gibt beredtes Zeugniß nicht nur von dem Erstarken der Industrie, sondern von dem Kulturzustand Japans überhaupt.

Damit sind wir mit dem flüchtigen Rundgang auf dem Trocadero fertig, und sehhungrig hasten wir weiter. Man sollte eigentlich Feinschmecker sein können; da ein wenig nippen, dort sich mit Behagen in die volle Schüssel legen können. Da würden wir Vieles zwar nicht sehen, aber Einiges wenigstens ordentlich auskosten. Mein Versprechen aber lautete, ein möglichst lückenloses Gesammtbild zu geben. Also müssen wir die Feinschmeckerei lassen und als sehhungrige Proletarier weiter eilen. Wir müssen heute noch die beiden Verbindungsstraßen zwischen den großen Ausstellungsfeldern Champ de Mars und Esplanade des Invalides durchwandern. Es sind dies die Rue de Nations, die Völkerstraße und die Rue de Paris. Von Japan machen wir also den Katzensprung nach Serbien, womit bei der Almabrücke die Völkerstraße beginnt. Der Weg von Japan nach Serbien führt durch die Mordstraße, das heißt über den Quai d’Orsay, Mordstraße nur genannt, weil dort in einem langgestreckten Gebäude die Land- und Seeheere aller Nationen ein Ausstellungsarsenal zusammengetragen haben. Auch die österreichischen Infanterie- und Kavalleriesäbel, die Instrumente für den Todtschlag, der sich Ehrennothwehr nennt, sind hier zu sehen.

Da wir den ersten Pavillon in der Völkerstraße, den Serbiens, betreten und uns durch Besichtigung der Ausstellungsobjekte davon überzeugen, daß Serbien nicht nur gedörrte Zwetschken und Tabak hervorbringt, sondern auch Teppiche, Stoffe, Silberfiligran und Stickereiarbeiten, Terrakotten und Musikinstrumente, reizt es uns da, und dort darnach zu forschen, was die einzelnen Nationen und Natiönchen – nicht auf den Markt gebracht haben. Da vermissen wir in Serbien gleich eine Darstellung seines barbarischen Justizwesens und die anthropometrische Messung des größten Verbrechers, den Serbien hervorgebracht hat, des Herrn Milan, der sich gegenwärtig in der Rolle eines internationalen Hochstaplers gefällt. Recht bescheiden tritt Griechenland auf. Würde es nicht auch eine Kollektion von Marmorplatten ausstellen, die beweist, daß heute noch in griechischen Steinbrüchen 38 verschiedene Marmorarten gewonnen werden, so würde man durch gar nichts an die klassische Kultur der Hellenen erinnert werden. Erst hinter dem griechischen Pavillon flankiren die Völkerhäuser beide Seiten der Straße. Wir haben zur Linken der Reihe nach Schweden, Monaco, das alles Mögliche, nur nicht seine Spielbank und seine Selbstmörderwinkel ausgestellt hat, Spanien, Deutschland, Norwegen, Belgien, England, Ungarn, Bosnien, Oesterreich, Vereinigte Staaten, Türkei, und Italien und zur Rechten Rumänien, Bulgarien, Finnland, Luxemburg, Persien, Peru, Portugal und Dänemark. Alle Staaten haben versucht, das ihnen Eigenthümliche darzustellen, aber nur die germanischen Länder bringen Zeugnisse höherer geistiger Kultur, vor Allem Deutschland, das in dem Repräsentationshaus nur Bücherschätze und Druckwerke aufspeichert und im 3. Stockwerk auch einige Modelle für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen. Es ist, als ob es durch die Bücher sagen wollte: Da seht her, nichts Besseres haben wir darzustellen, als daß von uns alle geistige Kultur ausgeht. Deutsche Forschung, deutsche Wissenschaft, deutsche Philosophie – kurz, deutsche Geistesarbeit war die Vorbedingung moderner Zivilisation. Der deutsche Pavillon ist das schönste Denkmal, das dem Meister Gutenberg gesetzt werden konnte.

Doch eilen wir nicht voraus. Schweden stellt uns im Parterre die hausindustrielle Weberei dar, im 1. Stock den Wintersport. Von einem luftigen Vorbau des Bauernhauses haben wir einen Blick auf die Seine. Ueber die Straße hinüber kommen wir nach Rumänien, das sich gerne als großer Kulturstaat geben möchte. Außer der wegen der billigen, ungeschützten und widerstandslosen rumänischen Arbeitskraft dort angesiedelten Industrie und ein wenig Bigotterie zeigt es auch, was es für die fortschreitende Erkenntniß auf naturwissenschaftlichem Gebiethe tut. Es bringt nämlich einige Abbildungen von Fußknochen eines längst verschollenen Thierriesen des Dinotherium gigantissimum, die im Bukarester Museum aufbewahrt werden. Sein zur Austreibung der jüdischen Handwerker und Arbeiter jüngst geschaffenes barbarisches Fremdengesetz illustrirt es nicht – dafür aber prangt groß der Wahlspruch der Dynastie: Nihil sine deo – Nichts ohne Gott – an einer der Wände.

Monaco und Bulgarien sind die nächsten zwei Pavillons zur Linken und Rechten. Wenn wir den Palmenhain Monacos durchschritten haben, so wird uns außer den importirten Erzeugnissen der Fremdenindustrie noch eine kleine wissenschaftliche Sammlung gezeigt, die das Seegethier darstellt. Die darüber angebrachten Tafeln belehren uns, daß Fürst Albert I. diese Sammlungen angelegt hat. Eine seltsame Idylle in dem klassischen Land der Spielerleidenschaft! Bulgarien hat im Salon des Fürsten eine kleine Kunstausstellung veranstaltet. Vier Künstler haben hier ausgestellt: Adjukiewicz, Koppay, Mrkvicza und Stantcheff. Die ersten Drei sind von Oesterreich-Ungarn bezogen. Sie müssen helfen, die Fürstspielerei aufzupäppeln.

Spanien ist das nächste Reich zur Linken. Es beschränkt sich darauf, zu zeigen, daß es von der Kirche beherrscht ist. Industrie, Kunst, Unterricht, Feld- und Weinbau sind nicht vertreten – nur eine verschollene Kunst beherrscht das Haus. Herrliche Gobelins mit durchwegs kirchlichen Motiven verkleiden die Wände. Ihm gegenüber liegt das industriöse Finland, auf das «Väterchen» seine schwere Hand gelegt hat. An Deutschland vorüber, das wir schon in seinem Wesen kennen gelernt haben, kommen wir von Finland weg in ein zweites nordisches Reich, nach Norwegen, das uns polare Jagd und Fischerei in schöner Zusammenstellung vorführt. Den Ehrenplatz räumt es aber seinem Helden Fridtjof Nansen ein. Wir sehen ein Modell des «Fram», mit dem Nansen im Eise vordrang, den Kajak mit Rudern und Segel, dessen sich Nansen bei seinem weiteren Wandern und Fahren bediente, den Schlafsack, die Schneeschuhe und die Hundeschlitten, die er benutzte. Es sind Reliquien für jeden Gesitteten.

Die merkwürdige Geographie der Völkerstraße hat an die Seite Finlands Luxemburg gestellt und an dessen Seite Persien, in dem wir, auf weichen Teppichen wandelnd, nur durch einige antike Fayencen an das große Einst erinnert werden. Ein «Théatre asiatique», das hier gegen Separatsentrée zu sehen ist, führt uns Hanswurstiaden, Schwerttänzer und Bauchtänzerinnen vor. Es gemahnt uns an das trostlose Jetzt mit seinem geistigen und kulturellen Tiefstand. Das Gegenüber Persiens ist Belgien, das, vornehm thuend, eine Ausstellung des Brüsseler Museums vorführt. Von den Werken Meunier’s, des Zola unter den Bildhauern, der uns das Elend der belgischen Grubenarbeiter ergreifend wahr schildert, ist nichts zu sehen. Das nächste Reich ist England, das uns Einblick gewährt in das behagliche Leben der Reichen. Es zeigt der internationalen Welt nur ein englisches Herrenhaus mit aller Eleganz und praktischen Einfachheit ausgestattet. Das in diese Gesellschaft hineingestreute Peru versucht es, in engem Rahmen ein Bild von der Kultur längstvergangener Tage zu geben, da noch in dem heißen Reich der Indianer Herr war. Eine sehr interessante ethnographische Ausstellung vereinigt die primitiven Geräthe und den schreienden Schmuck dieser Rasse. Einige sehr gut erhaltene Mumien aus dem 4. Jahrhundert zeigen uns die verschollenen Menschen selbst. Wie Gespenster grinsen sie uns an.

Ungarn und Bosnien sind die nächsten Aussteller zur Linken. Während Ungarn mit seiner 1000jährigen Geschichte protzt und Alles, was in dem Edelsitz zu sehen ist, Ungarn so erscheinen läßt, als ob es keine Gegenwart hätte, ist Bosnien bemüht, den Kulturmenschen Kallay ins rechte Licht zu rücken, der es verstanden hat, aus dem Nichts des verrotteten Balkanstaates ein Kulturland zu machen. Die höchste Blüthe bosnischer Kultur, das liebliche Hinmorden von Tauben, die durch Beschneidung ihrer Schwingen wehrlos gemacht sind, das Taubenschießen von Ilizde, ist nicht mit ausgestellt. Das österreichische Reichshaus – ein kleines Schloß im Barockstyle – birgt außer geschmackvoll angebrachten Erzeugnissen österreichischer Kunst und Kunstindustrie, sowie einer Vorführung einiger öffentlicher Einrichtungen – auch ein österreichisches Spezifikum: eine Preßausstellung. Zwei der österreichischen Arbeiterpresse eingeräumte Kasten lassen auch die besten Oesterreicher zu Worte kommen: den Bobies und seine Nacheiferer in allen österreichischen Reichslanden. Die konfiszierten Nummern, die hier aufgespeichert sind, legen wenigstens Zeugniß von der Freiheit des Wortes in Oesterreich ab. Aufzuzählen, was sonst Oesterreich nicht ausgestellt hat, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Was hätte sich auch das Ausland für einen Begriff von Oesterreich gemacht, wenn es eine Kollektion galizischer und böhmischer Bezirkshauptleute, wenn es den Badeni und Thun, die «Zde»-Frage und die Rechnung für das letzte Pultdeckelkonzert, wenn es die «fünfte Kurie» und den «vierten Wahlkörper», diese beiden Mißgeburten eines Wahlrechtes, wenn es den § 14, wenn es ... kurz, wenn es das Oesterreich, wie es leibt und lebt, vorgefunden hätte. Die Veranstalter dieser Ausstellung haben sich wirklich weise Beschränkung auferlegt. Das muß neidlos anerkannt werden.

Die Vereinigten Staaten suchen gleich England ein Bild von den Segnungen der Kultur für die Besitzenden zu geben. Ein Hotel mit großem Restaurationshof, mit drei offenen Galerien gegen diesen, mit Postoffice und allem behaglichen Luxus nimmt uns auf. Der Humbug scheint gestorben zu sein. Nichts davon ist hier zu sehen, so wenig wie in dem nächsten Pavillon von dem Räuberunwesen. Wir sind in die Türkei gerathen: Brokate, Stoffe, Teppiche, Tabak, Süßigkeiten, Rosenwasser, Stickereien – dazu Singen und Tanzen, Feilschen und Anpreisen und zwei Theater, deren eines sich volltönend das Theater der «Tausend und eine Nacht» nennt und dann nichts bietet, als Schwert- und Bauchtänze, wie wir sie schon so oft gesehen. Ist damit, daß hiefür 1 Francs Entrée verlangt wird, vielleicht das Räuberunwesen zart angedeutet? Fast scheint es so. Der letzte Pavillon auf der linken Seite ist der Prunkbau Italiens, der an äußerer Pracht die Bauten aller Nationen übertrifft. Italien war übrigens klug genug, im Innern seine leistungsfähigste Kunstindustrie – die Glas- und keramische Industrie – in den Vordergrund zu schieben. Es ist ein Triumph der Farbe und Form, der hier gefeiert wird. Sonst gibt es hier Holzschnitzereien und Seidenzucht zu sehen. Von einer Darstellung seiner wirthschaftlich-politischen Verhältnisse hat das bankerotte Reich klugerweise abgesehen. Auf der rechten Seite haben wir noch Portugal und Dänemark. Dieses repräsentirt sich einfach und typisch. Damit sind wir mit der Völkerstraße glücklich fertig und wir überschreiten die Invalidenbrücke, um in die Pariserstraße zu gelangen, wo es auch noch manches Sehenswerthes gibt.

In der Rue de Paris treten wir zunächst in den Pavillon der Stadt Paris, ein Riesenbau, der uns die Entwicklung der städtischen Einrichtungen im ablaufenden Jahrhundert bietet. Hier ist Alles dargestellt, was für den, der Städteeinrichtungen kennen lernen will, von Interesse ist. Was der Fremde aber hier nicht sofort sieht, das kann er in den Pariser Straßen sehen. Der Verkehr in ihnen ist eine wirksame, weil lebendige Ergänzung des hier Gebotenen: Der Modelle, statistischen Tafeln, graphischen und bildlichen Darstellungen und Bücher. Hier hat auch die Pariser Polizei ihre Abtheilung, die sie ähnlich dem Polizeipavillon in der Wiener Jubiläumsausstellung arrangirt hat. Das System der Anthropometrie, der Körpermessung zur Agnoszirung von Verbrechern, sowie der polizeiliche Erkennungsdienst ist hier mustergiltig dargestellt. Die Gemäldegalerie: die Polizei als Wohlfahrtsinstitut, die in Wien zu sehen war, fehlt hier. Um so angenehmer ist der Oesterreicher enttäuscht, wenn er in den Straßen von Paris in den Sergans de ville wirklich Beamte kennen lernt, die musterhaft und ohne Aufregung einen ungleich schwereren Dienst versehen als zum Beispiel die Wiener Wachleute. Einige «Attractions», wie das Phonocinematheater, das Theatroskop, wo man die Opernvorstellungen durch einen Apparat mit anhören kann, das unterirdische Seeaquarium und das auf optische Täuschung berechnete «verkehrte Restaurant» lassen wir links und rechts und unter uns liegen, um, die beiden der Garten- und Obstpflege gewidmeten großen Glaspaläste durchwandernd, zum Palais du Congres zu kommen, wo die Gruppe Sozialökonomie ausgestellt hat. Alle Staaten sind hier vertreten, allen voran besonders glänzend England und Deutschland. Oesterreich hat ein Kabinet gemiethet. Selbst dieser bescheidene Raum scheint noch zu groß. Außer den statistischen Monatsheften und einer speziellen, vom Handelsministerium herausgegebenen Schrift ist von der Darstellung österreichisch-staatlicher Sozialökonomie wenig zu sehen. Der Verband der Arbeiterkranken- und Unterstützungskassen hat eine Uebersichtskarte seiner Kassensprengel ausgestellt und außerdem zwei Tableaux, die die beiden Rekonvaleszentenheime in Königstetten und Zeillern in Bild und Grundriß darstellen. Die Publikationen des Verbandes, namentlich auch die Ausstellungsbände des «Arbeiterschutz», ergänzen diese Darstellungen.

Der letzte Gang durch die Ausstellung soll uns in das Reich der Kunst und des Kunstgewerbes führen.

IV.

Paris, im Juli 1900

Einen weiten Weg wollen wir heute wandern. Was diesseits der Alexanderbrücke, im «Kleinen Palais» und in dem glasüberdachten großen Palais der schönen Künste und jenseits der Brücke zu beiden Seiten der Invalidenesplanade in dem Riesenpalais der Kunstgewerbe, zu sehen ist, füllt allein reichlich das Programm aus, das in einem Tag zu absolvieren wäre. Wir müssen uns dann aber noch der Untergrundbahn anvertrauen und in eiligem Fluge durch den weißgekachelten Tunnel nach Vincennes sausen, um den dort an den Daumesnil-See hingebauten Ausstellungsannex auch noch flüchtig kennen zu lernen. Dann erst ist unser ermüdendes Werk vollbracht. Indeß wir haben noch frische Kräfte und steigen wohlgemuth die breiten Stufen hinauf, die uns in das Innere des «Petit Palais» führen.

Wie ein kleines Heiligthum liegt der säulengestützte Steinbau da, der gleich dem gegenüberliegenden «Grand Palais» dauernd sein soll. Ein kleines Heiligthum ist es auch, denn es birgt unermeßliche Schätze menschlicher Kultur längst vergangener Tage. Das französische Kunstgewerbe des Mittelalters hat hier eine Heimstätte gefunden. In lichtdurchflutheten Sälen sind frei oder in gläsernen Vitrinen in sachlicher Ordnung alle Zweige der gewerblichen Kunst des Mittelalters zusammengetragen. Oeffentliche und reiche Privatsammlungen aus aller Welt haben die Schätze beigesteuert, die zur Schau gestellt sind. Die alten Herrschaften, die uns die Honneurs machen, versetzen uns schon durch ihre Erscheinung in die richtige Stimmung. Die Eisenmenschen mittelalterlicher Kriegskunst, angethan mit ihren stahlharten Rüstungen, sind es, die auf eisengepanzerten Rossen, die Lanzen vor zum Stoß, die Eingänge in die Heiligthümer bewachen. Was wir sehen, reicht weit zurück bis in die Zeit, da die Römer das alte Lutetia gründeten, die Stätte, die heute Paris heißt. Der Steinmann dort im Säulengange, der den blumendufterfüllten lieblichen Rundhof umgibt, um den sich die Säle gruppiren, ist gleich so ein Zeuge gallo-romanischer Kultur. Er stellt den Mercurius, den alten Römergott des Handels, dar. Seine Umgebung sind Bronzen und Schmiedewaaren derselben Periode, die uns in Gräbern und im Schutt versunkener Kultur erhalten blieben. Die Wissenschaft der Neuzeit hat diese Denkmäler einer barbarischen Welt unserer Zeit wiedergegeben. In den Sälen sind Goldschmiede- und Elfenbeinarbeiten, Holzschnitzereien, Emaille und Emaillemalereien, Majoliken, Bronzen, Kunstschlosserarbeiten und Porzellankleinodien von dem Anfang mittelalterlicher Kunst bis in das 18. Jahrhundert zu sehen. An den Wänden hängen herrliche Gobelins, und manch ein historisches Möbelstück fördert die Stimmung, in die uns schon die Ritter gebracht haben. Das ist Alles so breit und behaglich, so fest und dauerhaft, wie es nur das ruhig produzirende, konkurrenzlose, gut gezahlte mittelalterliche Gewerbe hervorbringen konnte. Im Zeitalter des Kapitalismus braucht der Kunsthandwerker Liebhaberarbeiten, wenn er nur annähernd gleich Tüchtiges hervorbringen will. Und selbst da sind es nur mehr sehr Wenige, die über der Hast des Gelderwerbes es nicht verlernt haben, künstlerisch gediegen zu schaffen.

Im Großen Palais der schönen Künste treten uns die jüngste Vergangenheit, die Gegenwart und die Bahnbrecher einer vielverheißenden Zukunft entgegen. Ein mächtiger Baum nimmt uns in seinen erquickenden Schatten auf – ein Freudenspender und Befreier zugleich. Der Baum der schönen Künste mit seinen drei mächtig ausladenden Aesten: Malerei, Bildhauerei und Architektur, und mit seinen vielen Zweigen: Zeichnungen, Gravuren, Stichen und Schnitten, Lithographien, kurz mit den Produkten des ganzen modernen künstlerischen Reproduktionsverfahrens, und endlich der Graveur- und Medailleurkunst – dieser herrliche Baum ist es, der uns zu recht langem Verweilen in seinem weiten Bereich einladet. Das Beste, was die Kunst aller Schulen und Richtungen, was die Alten von heute und die Modernen schaffen, bildet in dem Großen Palais einen gewaltigen Verein, eine moderne Kunstsammlung, wie sie die Welt noch nicht geschaut hat. Wir wandern in dem bald hellen, bald abgedämpften Licht der Säle dahin, traumverloren, grübelnd, mit- und nachempfindend, bewundernd und staunend, überwältigt von der Fülle – bis wir vor dem Vermächtniß eines Todten stehen. In einem kleinen Ecksalon spricht ein Unsterblicher aus seinen Werken zu uns: der Alpenhirt Segantini. Was der Sohn des Apennin in die klare Bläue des italienischen Himmels hinausgeträumt haben mag, wenn er mit seiner Herde auf dem fetten Alpenboden lagerte, es hat sich erfüllt. Seine siegreiche Gabe, die Natur zu erfassen und auf der Leinwand festzuhalten, wie sie ist, leuchtend, prächtig, tausendfärbig, mußte nicht untergehen in dem Jammerdasein des Hirtenlebens – ein starker, unermüdlicher Geist brachte die Gabe zu schönster Geltung, zu reichster Blüthe. Und dann plötzlich fortgerissen in der Vollkraft des Schaffens, Pinsel und Spachtel entsunken der geschmeidigen Hand, die wiederzugeben verstand, was das Auge sah, der Geist ersann ... Wehmuth schleicht sich ins Herz. Tief versunken und schauend verleben wir die schönste Stunde, die uns die Ausstellung geben konnte. Es ist ein Abschied fürs Leben zugleich. In solcher Fülle wird man das Schaffen des Unsterblichen wohl nie mehr beisammen sehen. Die Segantinis sind in festen Händen. Museen und Privatsammler werden dann wieder die der Ausstellung überlassenen Werke in alle Winde tragen – und man kann sich gar nicht die außerordentliche Gelegenheit denken, bei der nochmals dem Andenken des größten Meisters seiner Zeit und über diese hinaus ein solches Fest bereitet würde.

In dem Vorwärtshasten durch die Säle machen wir nur noch einmal länger Rast. Dort, wo Japans Künstler ihre eigenartigen Werke zusammengetragen haben: Malereien auf Seide oder seidenartigen Stoffen, Holzschnitzereien, Bronzen und Elfenbeinarbeiten. Alles zart und zierlich, die farbenwahren Malereien duftig, beinahe durchsichtig, die Motive einfach: Blumen und Thierstücke und ein bißchen Landschaftetrei. Japan wird von Kennern als das schönste Land der Welt gepriesen, seine Bewohner sind begabt, intelligent, europäischer Kultur zugänglich, gelehrige Schüler und doch in der eigenen Kultur erstarkt genug, um Eigenart zu bewahren. So sind alle Bedingungen zu künstlerischer Entfaltung gegeben ... und Japan verstand sie auch auszunützen.

Ueber eine breite Freitreppe steigen wir in den großen runden, glasüberdachten Hof hinab, in dem die Werke der Bildhauerkunst aller Welt verwirrend eng aneinandergestellt sind. Kaum eines kann für sich wirken, so riesenhaft auch der Hof ist. Der Meister der Meister in der Kleinbildhauerei ist hier, wie überall, der Belgier Meunier. Sein karrenschiebender Bergmann gibt davon Zeugniß, wo sich Meunier seine Motive und Typen holt. Aus dem lichten Reich der Kunst führt unser Weg über das prunkvolle Werk moderner Straßenarchitektonik, über die Alexanderbrücke, in das weite Reich des modernen Kunstgewerbes, das in den Palästen zu beiden Seiten der Invalidenesplanade ein prächtiges Heim gefunden hat.

Die kunstgewerbliche Ausstellung umfaßt die Gruppen XII und XV der Ausstellung, die die Dekoration und das Mobiliar für öffentliche Bauwerke und Wohnungen und verschiedene ins Fach schlagende Industrien darstellen. Schon die äußere Dekoration der Paläste weist ihre Bestimmung. Die der Alexanderbrücke zugekehrten Eingangsfronten der beiden Palais haben mächtige Portale, die von Idealgruppen – die friedliche Arbeit und die Kunst verkörpernd – bekrönt sind. Vier Thürmchen und dazwischen Kuppeln bilden die Bedachung. Die beiden Portale haben weiten Abstand von einander, und die inneren Palaisfronten rücken erst näher aneinander, wenn man etwa 100 Schritte weit in der Invalidenesplanade vorgedrungen ist. Ein weiter Platz mit Gartenanlagen ermöglicht es, hier die einheitliche Architektur und äußere Ausschmückung der Palais zu übersehen. Dazu gehören auch sechs Wandgemälde, die allegorisch die sechs Künstlergruppen vorführen, deren Erzeugnisse in den Palais zu sehen sind. Rechts: Arts du mètal, Arts du tissus, Arts du livre oder künstlerische Metallverarbeitung – Alles von der Goldschmiedekunst bis zur Kunstschlosserei – die Webereikunst und die Buchdruckerkunst – links die Künste der Erde, des Holzes und der Steine, also Glas und Porzellan, Terrakotten, Möbel, Holzschnitzereien, Marmor und Achatindustrie und tausend Anderes.

Wir treten in den rechten Flügel und sind damit mitten in der keramischen Ausstellung Frankreichs, das durch die hervorragende staatliche Förderung in dieser Industrie sehr weit fortgeschritten ist. Die seit anderthalb Jahrhunderten in Sèvres bei Paris bestehende weltberühmte staatliche Porzellanmanufaktur hat das Aufblühen dieser und aller verwandten Industrien ungemein gefördert. So sehen wir denn hier alle Gruppen der weitverzweigten Industrie glänzend verteten: Porzellan und Steingut, Terrakotten und Mayolikasachen, Fayencen und Thongebilde und Anderes. Wie sehr sich Kacheln, künstlerisch behandelt, zu Dekorationszwecken eignen, sehen wir an einer Abendlandschaft, die aus Porzellankacheln zusammengestellt ist. Ornamentale Fronten, Portale, Bassins und Fontainen, riesige Gartengruppen beweisen, wie sehr sich die Architektur schon die Keramik dienstbar gemacht hat oder, wenn man umgekehrt will, wie sehr schon die Keramik als neues Feld für sich die Architektur erobert hat. Am reizendsten sind natürlich auch hier die Kleinsachen, die Jardinièren, Krüge, Vasen, Dekorationsteller, Porzellanbouquets, Gemälde, Nippes und sonst noch manches Erzeugniß proletarischer Kunstfertigkeit, das in den Salons der Reichen zu finden ist.

So haben wir uns allmälig den Ausstellungen der anderen Staaten genähert. Unmerklich sind wir nach Oesterreich gekommen, das hier den Reigen der Nationen eröffnet, und zwar glänzend eröffnet. Die ganze leistungsfähige österreichische Kunstindustrie ist hier vereinigt. Die Bugholzmöbelindustrie ebenso, wie die prächtigen Krystallschleifereien aus dem Isergebirge, dann die von Künstlern und Kunstjüngern entworfenen Kunstmöbel aller Art, Teppiche und Kunstwebereien, sowie die Erzeugnisse der blutig entlohnten böhmischen Granatschleifer und der Gablonzer Glaskleinindustrie, die geschmackvollen Ledergalanteriearbeiten, in denen Wien weit über Oesterreich hinaus tonangebend ist, sowie die Erzeugnisse der Karlsbader Porzellanindustrie und kunstvolle Holzschnitzereien. Die Art der Ausstellung ist originell. Ganze Gruppen haben sich vereinigt, um ein gemeinsames Objekt herzustellen, an dem die praktische Verwendung aller dieser Produkte der österreichischen Kunstindustrie gezeigt ist. Um eine Ehrenhalle herum, in der die Entwicklung der Kunstindustrien im 19. Jahrhundert dargestellt ist, ist eine ganze Anzahl von Interieurs gruppirt, die mit einander um die Palme ringen. Den ersten Platz haben die von den österreichischen Fachschulen mit Hilfe des Unterrichtsministeriums hergestellten Räume: so eine Kopie des Maria Theresia-Zimmers in Schönbrunn, die die Fachschulen in Villach, Bozen, Hallein, W.-Meseritsch und Gablonz, sowie die Grazer Staatsgewerbeschule geschaffen haben; die Fachschulen Grulich, Horic, Gablonz und Königsberg kopirten ein Zimmer im Empirestyl aus dem Unterrichtsministerium; die Kunstgewerbeschule des österreichischen Museums stellte sich mit einer selbstständigen Sammlung – darunter ein modernes Zimmer – ein, die von Prof. Hoffmann arrangirt ist, die Prager Kunstgewerbeschule ebenso. Betritt man diesen Raum zuerst, was nach unserer Gehordnung der Fall ist, so bekommt man einen eigenthümlichen Eindruck von der über dem Eingange stehenden Firma: Ministerium für Kultus und Unterricht. Die Prager Kunstschüler haben nämlich als Hauptstück ihrer Sammlung einen allerdings prächtigen Altar ausgestellt. Man glaubt sich in das Altarzimmer irgend einer adeligen Betschwester versetzt. Und das ist österreichischer Unterricht? Erst weiterschreitend gewahrt man, daß das österreichische Unterrichtsministerium mehr Sonne als Schatten, mehr Ergebniß des Unterrichts als des Kultus vorführt – und das ist schön vom Herrn Hartel und seinen Vorgängern, man wird dadurch doch nicht allzu stark an die Heimat erinnert. Man denke nur, was herausgekommen wäre, wenn das Unterrichtsministerium den österreichischen Kunstschulen den Auftrag gegeben hätte, zum Beispiel einige Typen, die das galizische Lehrerelend packend darstellen, zu schaffen. Das ganze versammelte Ausland hätte mit den Fingern auf Oesterreich gewiesen, und nur vielleicht Spanien, das klerikale Musterreich, hätte sich gefreut, nicht verlassen dazustehen. Aber das österreichische Kultusministerium hat den Satz voll erfaßt, daß Ausstellungen nicht dazu da sind, ein wahrhaftiges Bild der Zustände zu bieten, sondern daß ihr Zweck ist, das Beste von dem Besten vorzuführen oder, wenn man will, den Anderen Sand in die Augen zu streuen.

Weiter wandernd, kommen wir noch in einen «Salon Tchècque», wie sich die sehr sehenswerthe Kollektivausstellung der Prager Kunstgewerbetreibenden nennt, dann in ein galizisches Intérieur und endlich in das Salzburger Intérieur, die Kopie eines Raumes der Feste Hohensalzburg. Die größte Anziehungskraft übt aber das moderne Wiener Intérieur aus, das nach den Entwürfen des gesuchtesten Wohnungsarchitekten, des Professors Olbrich, und unter Leitung des Wiener Kunsttischlers Ludwig Schmitt von einer Reihe hervorragender Wiener Kunstgewerbler ausgeführt ist. In einzelnen Stücken war Aehnliches schon in der Wiener Sezession zu sehen – aber einen gleich ansehnlichen Raum – seine Dimensionen sind 7.5 : 6 : 6 Meter – hat das Wiener Kunstgewerbe noch nie öffentlich dargestellt. Es ist ein großes Zimmer mit Erker. Ein gemüthlich-prunkvoller Ofenwinkel und eine trauliche Spielecke laden uns zum Sitzen ein. Die Möbel aus grüngebeiztem Mahagoniholz sind theils mit Schnitzereien, theils mit Einlegearbeiten dekorirt, geschnitzte Lambris verkleiden die Wandflächen, bis zu Manneshöhe und darüber sind Stickereien und Stoffe gespannt. Wände und Thüren sind außerdem noch theilweise mit Perlmutterrosen geschmückt. Der Fuß tritt elastisch auf einen schwellenden Ebergassinger Knüpfteppich, der nach dem «Offiziellen Führer durch die österreichischen Abtheilungen» 45 Quadratmeter groß ist und 2 ½ Millionen Knüpfungen enthält. Alles ist auf einen Ton gestimmt – ein einheitliches Kunstwerk, das, genial ersonnen und ehrgeizig ausgeführt, Allen, die daran gearbeitet haben, Ehre macht. Dazu gehören in erster Linie die kunstfertigen Proletarier, die auch hier Ungenannten, denen aber dennoch gewiß ein Theil des Lohnes mit der bevorstehenden Ehre gezahlt wurde, die die Anderen, die Genannten oder doch genannt sein wollenden einheimsen...

Von den im Parterre gruppirten Firmen seien – trotz der Ungerechtigkeit, die darin liegt – nur zwei genannt: die Berndorfer Metallwaarenfabrik und Lobmeyr. Sie haben die am meisten bewunderten Objekte. In der Ausstellung Lobmeyr lernen wir auch das streng behütete Kunstwerk eines genannten Proletarierkünstlers kennen. Es ist eine gläserne Prunkschale, auf die der Glasgraveur C. Pietsch in Steinschönau in dreijähriger Arbeit die Hochzeit des Neptun mit der Amphitrite dem antiken Marmorrelief in der Glyptothek in München nachgebildet hat. Es ist ein mühevolles Kunstwerk ersten Ranges.

Die weitere Wanderung durch das Palais macht uns flüchtig mit den besten Kunstindustrieerzeugnissen der übrigen Nationen bekannt. Besonders fesselt uns Japan durch seine reiche Eigenart, die auch hier zu Tage tritt.

Schluß mit Jubel! Halt, mein Lieber! Im Südosten von Paris, außerhalb der Riesenstadt und 6 Kilometer von ihr entfernt, ist noch Vincennes, das reizlose Landstädtchen, in dessen Umgebung sich aber der größte Pariser Sportplatz befindet. Hieher hat die Ausstellungsleitung die Sportausstellung, die mit «olympischen Spielen», sportlichen Wettkämpfen jeden Genres, verbunden ist, und die Verkehrsausstellung verlegt. Diese stellt die Eisen- und Straßenbahnen, Automobils, Pferdevehikel aller Art und aus allen Ländern dar. Sie ist sehr reich beschickt. Oesterreich bietet hier eine Kollektivausstellung sämmtlicher Lokomotiv- und Waggonfabriken, des Bahnoberbaues und der Betriebseinrichtungen wie sie laut Vorschrift sein sollen. Die morschen Schwellen der Südbahn zum Beispiel, die nach dem letzten großen Unglück von Reisenden gefunden wurden, sind hier natürlich nicht zu sehen. Haben wir uns hier nochmals müde gegangen, dann erst haben wir die ganze Ausstellung übersehen, die, Alles in Allem genommen, nicht nur sehenswerth und für den, der lernen will, lehrreich ist, sondern sie rechtfertigt auch das sehnsüchtige Verlangen ungezählter Tausende, sich auch ihrem Zauber hingeben zu können.

Max Winter.

 

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