Bibliographie Startseite

 

Max Winter

In der Branntweinschänke

Arbeiterz-Zeitung Nr. 103 vom 15. 4. 1900

Bilder aus der Branntweinschänke!

Tausenden sind sie geläufig, aber diese zählen zur stummen Masse. Sie können nicht reden. Andere Hundert reden wieder darüber, sprechen von Gifthütten, verlangen Sperrung, wenigstens an den Samstag-Abenden und den ganzen Sonntag über, und möchten am liebsten alle Branntweinschänken dem Erdboden gleichmachen. Sie kennen die Schäden des Branntweines in Beziehung auf Gesundheit, Moral, Sitte, sie kennen auch den Schaden, der der Gesellschaft aus den «Gifthütten» erwächst, aber an den sozialen Ursachen der Uebervölkerung der Branntweinboutiquen gehen viele von ihnen, ja die meisten blind vorüber. Ihnen allen ergeht es wohl so, wie es mir ergangen ist, ehe ich mir einmal ein Herz gefaßt habe, Stunden und Tage in der Schänke zuzubringen, um zu erfahren, wie es da drinnen eigentlich ist. Dem Fernstehenden drängt sich immer nur das Rohe, das Gemeine der Schänke auf. Das allein ist es ja, womit er ab und zu in Berührung kommt... Man geht auf der Straße. Unvermuthet kommt man an einer Schänke vorüber. Die Thür ist geöffnet. Der Fuseldunst verschlägt Einem den Athem, wüster Lärm dringt ans Ohr, man flieht aus dem Bannkreis. Ich habe immer eine heilige Scheu vor den Branntweinschänken gehabt. Wie mir, ist es wohl allen ergangen, die heute akademisch erörtern, wie der Branntweinpest zu begegnen wäre, und die aus Unkenntniß der sozialen Ursachen der Uebervölkerung der Schänken zu falschen oder zumindest zu halben Auskunftsmitteln greifen. Für eine Halbheit halte ich die Sperrung der Schänken am Samstag Abend und den Sonntag über, so lange man nicht tiefer in die Sache geht und den Besuchern der Schänke befriedigenden Ersatz bietet, das heißt öffentlich zugängliche Lokale, wo sie gegen geringes Entgelt in anständiger Weise ihre Erholungsstunden oder die Stunden gezwungenen Müßigganges – man denke an die Armee der Arbeitslosen – zubringen können. Man komme mir nicht mit den paar Institutionen, die Privatwohlthätigkeit geschaffen, mit den Wärmestuben, den Suppen- und Theeanstalten, den paar kleinen Lesezimmern des Volksbildungsvereines. Sie reichen nicht für ein Hundertstel derer aus, die kein Heim haben, das ihnen nach den Mühen des Tages die Möglichkeit der Erholung bietet. Zudem sind die wenigsten dieser Lokale bequem zu erreichen.

Kein Heim! Da liegt der Hund begraben. Oder kann man es ein «Heim» nennen, das schmutzige, wackelige, harte Bett, das vielen Tausenden das Daheim darstellt, in Wirklichkeit aber nur eine schlechte, ungesunde, den ästhetischen und ethischen Begriffen widersprechende Schlafstätte unter wildfremden, selbst bettelarmen, oft kranken Menschen ist? Kann der arbeitslose Maurer zum Beispiel den ganzen Winter über auf dieser Bettstatt sitzen und auf die erst im Frühjahr beginnende Bauzeit warten? Wird der ledige Schlossergehilfe oder Taglöhner oder Schuster von seinen Quartierleuten nicht oft mit scheelen Augen angesehen, wenn er schon nach Arbeitsschluß in die enge, dumpfe, übervölkerte Stube kommt, wo auch sein Bett steht, oder wird es den armseligen Vermiethern nicht auch lieber sein, wenn er wirklich nur zum Schlafen heimkommt, seine Erholung aber dort sucht, wo er sie mit seinen paar Kreuzern finden kann? Man halte Umfrage bei den armen Leuten, die gezwungen sind, Bettgeher zu nehmen, man frage die Bettgeher selbst!

Kein Geld! Das ist der zweite Hauptpunkt. Wo anders hin als in die Schänke soll so ein armer Teufel gehen? Wo bekommt er um 3 kr. einen «geistigen Genuß», nach dem er begehrt? Wo erkauft er sich um diese drei Kreuzer zugleich das Recht, stundenlang zu bleiben, wie es viele thun? Wo findet sein Bedürfniß nach Geselligkeit Erfüllung? Leider nur in der Schänke. Man müßte die ganze soziale Frage aufrollen, wenn man zeigen wollte, wie groß die Schuld der menschlichen Gesellschaft an diesen Zuständen ist. Es würde zu weit führen. Genug, das Volk lebt in elenden Zuständen, lebt so, daß es in die Schänke getrieben wird. Treibt man es hinaus, dann muß man ihm auch Ersatz bieten.

Die vielfach verbreitete Meinung, daß nur Lumpenproletarier in den Schänken verkehren, ist falsch. Die Lumpenproletarier sind mit ihrer Roheit, die auch der Fernstehende empfindet, wohl die aufdringlichste, aber nicht die häufigste Erscheinung in der Schänke. Ich scheue mich nicht, es auszusprechen, daß soweit meine Erfahrungen reichen, die ich in den nachfolgenden Bildern wahrheitsgetreu, ohne Schminke wiedergebe, die überwiegende Mehrheit der Gäste Proletarier sind. Ich habe freilich – und diesen Einwand muß ich selbst erheben – eine Schänke zur Beobachtung gewählt, in der strenges Regiment herrscht und wo die professionellen Nichtsthuer und Krakehler ausgeschlossen sind. So kam ich – das «Deutsche Volksblatt» wird jubeln – in eine Schänke, die fast sozialdemokratisches Gepräge trägt, in der die «Arbeiter-Zeitung» aufliegt und in der die Gäste selbst arbeitsscheue Nichtsthuer nicht dulden. In anderen mag wohl Lumpenproletariat sich umkugeln, aber auch in anderen Schänken sind Proletarier, arbeitende Menschen, die Mehrzahl der Gäste. Um dies zu ergründen, setzte ich Montag Abends in einer Brigittenauer Schänke – diese gelten in Fachkreisen als verrufen – meine Beobachtungen fort. Noch ein Einwand könnte erhoben werden, nämlich der, daß ich nur an einem beliebigen Tage, vielleicht gar an einem sogenannten soliden Tag in der Schänke war. Um dem zu begegnen, machte ich meine Studien an vier verschiedenen Tagen, zu verschiedenen Stunden und in verschiedenen Schänken. Aus der Eintheilung der Arbeit geht hervor, daß ich Donnerstag Mittags, Samstag Abends, Sonntag Früh und Montag Abends in Schänken war, und zwar Donnerstag, Samstag und Sonntag in einer Margarethner, Montag in einer Brigittenauer Schänke.

In der Margarethner Schänke habe ich Eines gelernt, nämlich, wie durch zwei einfache Mittel den Auswüchsen der Schänke wirksam begegnet werden könnte. Das Schlafen in den Schänken darf nicht geduldet und Angetrunkenen darf kein geistiges Getränk mehr verabreicht werden. Dahin müssen die Schänker gebracht werden, die heute noch vielfach gewissenlos genug sind, elend entlohnte, schwache Personen als Schankgehilfen anzustellen, die nicht die Möglichkeit haben, diese beiden Ursachen der schlimmsten Auswüchse zu beseitigen. Vielleicht geht es im Wege einer Verordnung, vielleicht erkennen die Schänker selbst, daß es in ihrem ureigensten Interesse gelegen ist, aber jedenfalls wäre eine solche Maßregel wirksamer als die Sperrung an Samstagen und Sonntagen, wodurch vielen armen Teufeln der letzte Zufluchtsort genommen wird, die wirklichen Trinker aber gar nicht beeinträchtigt sind, weil sie sich ihren Branntwein nach Hause tragen werden.

Nun, in die Schänke!

Donnerstag Mittags.

Frühjahrssorgen. An der Längsbank nahe am Schanktisch sitzt ein Fünfziger. Ein grau gesprenkelter Vollbart umrahmt sein fleischiges Gesicht. In der Rechten hält er einen Hammer. Um diesen dreht sich momentan das Gespräch. Es sind drei Maurer im Lokal. «A urndtlicher Maurerhammer kos’t achtzig Kreuzer bis an Guld’n,» meint der eine. – «Der muaß aber aushalten,» so der zweite. – «Meiner halt’ no, i muaß m’r ’n nur scharfmachen lassen.» – Nun mischt sich auch der Alte ins Gespräch. «Was zahlst denn dafür?» – «Zwölf Kreuzer, siebene fürs Scharfmachen und fünfe fürs Anstageln.» – «Wo denn?» – «In der Scheibumastraß’n*) Numero zehne.» – «An an Samstag kummen oft zwatausend Maurer hin zum Scharfmachen,» renommirt der erste, um die Güte seiner Quelle zu preisen. Sie sprechen noch viel darüber, bis das Gespräch auf die Arbeitslosigkeit kommt. Der eine kann nicht arbeiten, weil am Bau kein Sand ist. «Der Hundling laßt kann Sand net führ’n ...» so theilt er die Ursache seiner augenblicklichen Arbeitslosigkeit seinen Fachkollegen mit.

*

Ein alter Buchdrucker betritt während dieser Reden das Lokal, um hier Mittagsrast zu halten. Daß er die Schuhe mit Fetzen umwickelt hat, läßt ihn als Schneeschaufler erkennen. Der Ausschänker kennt den Graubart seit Jahren, begrüßt ihn beim Namen: «die Ehre, Herr ... was kann ich dienen?» und ohne abzuwarten, was der Gast wünscht, ruft er in bestimmten Tone: «Thee, sehr heiß!» Der Alte ist zum Schanktisch getreten und nimmt den inzwischen eingeschänkten Thee zum Gasometerkasten, neben dem er sich auf der niedrigeren anstoßenden Bank niederläßt. Der Gasometerkasten ist sein Tisch. Während er um 5 kr. Abschnitzeln und ein Brot aus seinen Taschen kramt und zu essen beginnt, erzählt mir der «Herr Fritz», so wird der Ausschänker allgemein genannt, die Lebens- und Leidensgeschichte des alten Buchdruckers. Er ist 54 Jahre alt und kann in seinem Gewerbe keine Beschäftigung mehr finden. Um leben zu können, packt er da und dort an, wo ein paar Kreuzer für ihn herausschauen. Bis vor kurzem war er «Zettelvertheiler» für zwei Margarethner Firmen. Für das Austheilen von 20.000 Zettel, womit er in einem Tag fertig werden mußte, bekam er einen Gulden. Er hatte aber die Arbeit verloren, da sich ein Konkurrent erboten hatte, dasselbe um 90 kr. zu leisten. So ist er seit Sonntag Schneeschaufler, ohne einen Kreuzer Geld in der Tasche, denn die christlich-sozialen Bezirksgrößen von Margarethen wollen mit dem Schneeschaufeln den armen Leuten wirklich aushelfen. Sie nehmen sie zwar nur für den Tag auf, zahlen sie aber erst am Samstag. Sie wollen haben, daß die Proletarier am Samstag wirklich ein «schönes Stück Geld» auf die Hand bekommen, damit ihnen auch geholfen sei. Von Sonntag Früh bis Samstag Abends sind es sieben Tage, also gibt es sieben Gulden Lohn. Damit ist den armen Leuten wirklich geholfen, und es ist krasser Undank, wenn der alte Buchdrucker, da er jetzt zum Schanktisch tritt, um noch ein «Frackerl um drei» auf Borg zu nehmen, meint: «Wann i z’ Haus wär’ und net Schneeschaufeln thät, hätt’ i wenigstens a Einbrennsuppen.» Er meint damit, daß er dann bald irgendwo durch eine kleine Hilfeleistung einige Sechserln verdient hätte, die er zum Brauen einer Einbrennsuppe hätte verwenden können, während er als Schneeschaufler gezwungen ist, in der Branntweinschänke sein Mittagsbrot zu nehmen. Sonst hat er nirgends Kredit. «Herr Fritz» schreibt ihm nicht nur die Getränke auf, sondern er gibt ihm auch noch Baargeld, damit er sich etwas zu essen kaufen kann. Er zeigt mir die Wochenrechnung. Von Sonntag Früh bis Donnerstag Mittag hat der Alte den Betrag von 1 fl. 40 kr. alles in allem verzehrt. Wie er lebt? Zum Frühstück einen heißen Thee, Mittag Abschnitzeln, Thee, Brot und Schnaps, Abends einen Thee und um 3 kr. «Brotabschnitzeln», besser Ueberbleibseln vom Bäcker: Scherzeln, verschmähte Anschnitte, speere Stücke etc. Mehr tragt es ihm nicht, wenn er seinen sonstigen Verpflichtungen am Samstag nachkommen will. Daß er selbst diese kargen Bissen hat, dankt er dem Branntweinschänker, denn die Herren von Margarethen sind ja Wohlthäter, die erst am Samstag zahlen. Für diese Wohlthat freilich muß der Schneeschaufler ein Uebriges thun. Er muß um zwei Stunden täglich länger arbeiten als die Schneeschaufler anderer Bezirke, die Tag für Tag ausgezahlt werden. Seine Arbeit geht von 6 Uhr Früh bis 6 Uhr Abends, die der anderen von 7 Uhr Früh bis 5 Uhr Abends. Bei dieser Methode war es freilich möglich, schon am Mittwoch von 450 seit Sonntag arbeitenden Schneeschauflern 380 zu entlassen und nur 70 weiter arbeiten zu lassen. Es gehörte dazu nur eine starke Zuversicht auf Thauwetter und auf die Gutmüthigkeit der Wiener.

Bevor der Alte geht, kommt er mit einem Zettel zur Schank, auf dem er seine Schulden notirt. Er vergleicht damit die Aufschreibung des Herrn Fritz und schleicht dann gedrückt von dannen.

*

Dem Branntwein verfallen. Auf der Längsbank schlaft Einer. Sein Kopf ist ihm auf die Brust gesunken. In der Verkürzung ist von seinem Antlitz nur ein betrenzter starker brauner Schnurrbart zu sehen, der schlaff herabhängt. Der Schänker weckt ihn. Er faßt ihn hart an der Schulter: «Schlafen gibt’s bei uns net!» Der Trunkene hebt den Kopf. Verglaste Augen. Verfallenes Gesicht. Die Backenknochen treten stark hervor. Die Augen scheinen sich jetzt mühsam zu weiten, sie zeigen Verständniß für die Situation. «Gehen S’ denn gar net arbeiten die Wochen?» sagt Herr Fritz zu ihm. «Glei, glei,» lallt der andere schwer, «jetzt dauert’s ja net mehr lang.» – «Da bei uns werd’n die Klavier aber net schön poliert werd’n ... « sagt wieder der Schänker. Der andere plättet seinen blauen Schurz, so ... mechanisch. Es ist, als wollte er sich durch die Erinnerung an die Arbeit jetzt sofort zur Arbeit richten. Im nächsten Moment besinnt er sich aber und tritt an den Schanktisch dicht heran: «No a Stamperl, Herr Fritz, dann geh’ i,» verspricht er einschmeichelnd. «Sö hab’n scho gnua. Eing’schenkt wird Ihna nix mehr.» Zögernd nimmt er die zwei Doppelhellerstücke vom Schanktisch wieder an sich. «Alser nix?» fragt er resignirt. – «Nix!» – «Dann brauch’ i dö zwa Kreuzer a net; soll i’s auf d’ Straßen schmeiß’n? Wann S’ m’r nix einschenk’n, gut ... aber furtgehn thua i net.» Er wankt zu seinem Sitzplatz hin. Der Geist des Widerspruchs ist in dem Mann erwacht. Schwer setzt er sich nieder. Herr Fritz ruft ihm nur noch zu: «Da bleib’n können S’, aber das wissen S’, schlafen gibt’s bei uns net, und a ka Krawallmachen ...» Dann wendet er sich anderen zu. Der Trunkene versucht noch drei-, viermal das Herz des Schänkers zu erweichen, er bekommt dabei nochmals zu hören, daß er lieber arbeiten gehen solle, da er die ganze Woche noch nichts gearbeitet habe. Das kümmert ihn aber nicht. Er setzt seine Obstruktion fort, bleibt sitzen und gelangt endlich auf Umwegen zu seinem Ziel. Ein anderer theilt mit ihm sein «Frackerl». Da er das Sechzehntelliterfläschchen absetzt, lächelt er verschmitzt, so als ob er der Ueberwinder wäre. Um halb 2 Uhr schleicht er still von dannen. Er war drei Stunden in der «Gifthütte» gewesen. Für diesen Mann ist die Schänke das.

*

Treue Freundschaft. Der nächste der das Lokal betritt, ist ein alter Mann. «D’ Ehre, Herr Frey! ... Um vier Kreuzer an von der Höh’!» Indem Herr Fritz dies sagt, langt er in das zweithöchste Fach der Stellage, auf der die Flaschen stehen, und nimmt eine herunter, deren Etiquette die Marke «Marasquin» weist. Der Alte zahlt schweigend, nimmt sein Glas und setzt sich zum Tisch. Dort sitzt er wohl eine Stunde lang, ohne ein Lebenszeichen von sich zu geben. Trüb in sich versunken, nimmt er nicht Antheil an dem was um ihn her vorgeht. Nur einmal wird er lebhafter. «Der is eh nur weg’n ’n Domino g’storb’n ...» sagte Einer. Da horchte der Alte auf, ob das Gespräch etwa fortgesetzt wird. Dann, als keiner den Faden weiterspann, sank er wieder in sich zusammen. Der, von dem eben die Rede war, war sein bester Freund. Achtguldenpfründner wie er, konnte auch er sich keinen anderen Lebensgenuß schaffen als täglich ein Gläschen und täglich ein Spielchen Domino, das beide nichts kostete. Der Schänker hatte ein Spiel und lieh es gern den ruhigen Alten, die sich damit über manche trübe Stunde hinweghalfen. Da fand sich ein Gregorig, der den Schänker anzeigte. Dieser mußte nun das Spielen einstellen; wenn es ihm auch leid that, den beiden Alten ihr anständiges, ruhiges Spielchen zu nehmen, das nie um Geld, immer «nur» um die Ehre ging – wie die ungeschickte Phrase lautet – so konnte er doch nicht anders handeln. Er wäre mit der Polizei in Konflikt gerathen und hätte unbedingt den Kürzeren gezogen. In einer Amtsstube fragt man nicht viel nach dem Warum. Spiel ist Spiel. Auch Domino ist ein Spiel. Spiele sind aber untersagt, daher ist auch das Domino untersagt, wenn es auch die einzige Zerstreuung zweier alter Pfründner bildete, die sonst nichts hatten. Der Andere ist daran gestorben – er ist geblieben. Der Arzt hatte zwar gesagt, daß es die tückische Influenza gewesen sei, die ihn hinweggerafft, aber der 74jährige Straßenkehrer, dem das Armenamt die «Pension» auszahlt, glaubt nicht an diese neue Krankheit, er glaubt den Anderen, die meinen, daß er aus Kränkung über die Entziehung des Domino gestorben sei. Ihm selbst geht es ja ans Herz. Zuerst das Domino und dann den Partner und Freund verloren, das waren für den Alten zwei harte Schläge. Nun sitzt er stumm und niedergedrückt beim Tisch. Damals aber, als er in der Schänke unvermuthet die Todesanzeige angeheftet gesehen hatte, weinte er wie ein Vater um sein Liebstes, krampfhaft, wohl eine Stunde lang, und die übrigen Stammgäste hatten Mühe, ihn zu beruhigen. Erst allmälig kam Ruhe über ihn, als er hörte, daß die Stammgäste eine Ehrung des Verstorbenen planen. Der Schänker zeigte mir eine Liste, einen großen mit ungelenken Zügen beschriebenen Sammelbogen, auf dem Beträge von 5 bis zu 40 kr. ausgewiesen waren. 12 fl. 50 kr. hatten sie zusammengebracht. Sie kauften darum einen mächtigen Kranz mit einer schwarzen breiten Moiréeschleife. Auf dieser stand in goldener Schrift: «Letzter Gruß von den alten Freunden.» An dem Leichenbegängniß betheiligte sich eine Deputation der Stammgäste, zehn Mann hoch, geführt vom Herrn Fritz. Der Tochter des Verstorbenen – sie ist Punktirerin in einer Druckerei – war es erquickende Labsal, daß die Freunde ihren Vater im Tode nicht vergessen hatten.

Wer aber seinen Elendsbruder gar nicht vergessen kann, ist der alte Frey. Er hat in ihm alles verloren, was er auf dieser Welt noch hatte ...

*

Der «Passagegast» ist die laufende Kundschaft in der Branntweinschänke. Er ist zumeist fremd in dem Lokal, kommt, trinkt sein Glas beim Schanktisch und geht wieder. In einer halben Minute ist das Geschäft erledigt. Man trifft unter den Passagegästen die verschiedensten Typen, zumeist Gewohnheitstrinker, die glauben, ohne Branntwein nicht leben zu können. Andere wieder, die sich zu ihrer schweren Arbeit «Kraft» holen, trotzdem es ja längst erwiesen ist, daß der Alkohol nicht Kraft gibt, sondern daß er höchstens vorübergehend die Lebensgeister aufpeitscht.

Der erste «Passagegast», der mir begegnet, ist gleich so Einer. Er ist Kohlenausträger, wie ich dem Gespräch entnehme. Er ist ein junger kräftiger Mensch. Der Schänker begrüßt ihn beim Namen. Er ist also so eigentlich ein Mittelding zwischen laufender Kundschaft und Stammgast. «Viere Korn mit Rum.» Während des Einschänkens fragt ihn Fritz: «Wie geht’s mit die Butten? San s’ scho leichter wurd’n?» – «A belei, im Winter hab’n m’r net so viel z’thuan g’habt wia jetzt. Gestern war’s net amal so arg wia heut.» – Er setzt an, leert das Glas auf einen Zug und geht mit einem «Adjee» fort.

Nicht viel später kommt ein «Passagegast» in die Boutique mittagessen. Um «3 kr. Korn» erkauft er sich das Recht, auf der Bank sitzen zu können. Er hat sich Wurst und Brot mitgebracht. Beides zieht er aus den Taschen seines schwarzen Ueberziehers und beginnt nun sehr ökonomisch und diskret zu essen. Er öffnet das Wurstpapier nur, um eine Wurstscheibe herauszunehmen, schließt das Paket dann wieder bricht ein Stück Brot ab, darauf legt er die Wurst und läßt nun beides im Mund verschwinden. Das Wurstpaket hält er mit der Hand verdreht. Es ist so, als ob er sich schämen würde, daß er beim Branntweiner Mittag hält. Der Schänker kennt ihn nicht. Der Kleidung und dem Benehmen nach scheint er ein Kommis oder Agent zu sein. Vielleicht ist er auch ein kleiner Beamter.

Manch Einer kommt in die Boutique, um sich Auskunft über die Adresse irgendeines Geschäftes der Nachbarschaft zu erbitten. Er benützt die Gelegenheit, um ein Stamperl zu trinken. «Stamperl Allasch! Bitt’ schön, können S’ mir net sagen, wo da der Spengler Haller is?» – Wie elektrisirt rufen alle durcheinander: «Da glei ums Eck ... Da gengan S’ da umi und dann da vüri in der Gass’n, glei das zweite Haus links ... Der Haller? Der Haller? Aber natürli’! Da schau’n S’, wann S’ da aussakummen, gehen S’ links abi...» So tönen drei, vier Stimmen zugleich durcheinander. Der Auskunftsheischende bedankt sich und geht. Sein Stamperl hat er getrunken. Ein Anderer will wenig später wissen, wo man da in der Gegend die transportablen Oefen zu kaufen bekommt. Auch das wissen alle, sowie der Fragende weiß, daß ein Stamperl «Danzinger mit Rum» drei Kreuzer kostet. Er fragt nicht nach dem Preis, sondern legt das Geld hin, wie man dem Bäcker für eine Semmel zwei Kreuzer hinlegt. Er braucht also wohl öfter beim Schänker Auskunft.

*

Eine Demonstration für die Kohlengräber. In dem Lokal hängt rechts vom Schanktisch eine alte Lithographie, auf die man zuweilen stößt. Es ist ein Erinnerungsblatt an die Grubenexplosion, die sich am 2. August 1869 am Plauenschen Grund ereignete und viele Opfer forderte. Das Mittelbild stellt den Gang zur letzten Schicht dar. Die Grubenproletarier nehmen auf offener Straße von Weib und Kind Abschied. Sie sollten sie nicht mehr sehen. Um das Hauptbild sind die Abbildungen der Schächte gruppirt. Dieses Bild, sonst kaum beachtet, spielte während des Bergarbeiterstreiks eine große Rolle. Es gab immer wieder Anlaß zu Debatten über die Gefahren der Grube und damit über die Berechtigung des Streiks. Das auf den Rahmen des Bildes geklebte ständige Mahnwort der «Arbeiter-Zeitung»: «Arbeiter und Arbeiterinnen, gedenkt der streikenden Bergleute» verfehlte seine Wirkung nicht. Woche für Woche konnte Herr Fritz einen Sammelbetrag abführen. Der Streik war zu Ende – ohne Momenterfolg. Die Proletarier, die in der Schänke ihre Erholung suchen, fühlten mit ihren Brüdern in den Gruben und bewiesen dies durch eine intime Demonstration, die bezeugt, wie schmerzlich sie alle es mitempfunden haben, daß die Kohlengräber ihre Forderungen nicht durchgesetzt haben. Einer von ihnen brachte einen Fetzen schwarzen Organtin, und mit diesem umflorten sie zum äußeren Zeichen ihrer Trauer das Erinnerungsbild. Noch heute hängt der schwarze Flor zu beiden Seiten des Rahmens.

*

Mittag. Draußen tönen Fabrikspfeifen. Wenige Minuten später fluthet der Strom der Arbeiter durch die Straßen. Hunderte eilen in ihre Behausungen zum Essen. Keiner kehrt in der Schänke ein. Nur ein junger Arbeiter bringt ein Fläschchen zurück, in dem er zu Ehren des Namenstages einer Arbeiterin am Morgen «Kaiserbirn» (einen süßen Damenschnaps) mitgenommen hatte.

Erst als der Strom der Heimeilenden draußen verrauscht ist, betritt wieder ein junger Arbeiter das Lokal: «An Ueberzieher um drei.» Der Schänker stellt ihm ein Sechzehntelliterfläschchen leichten Kümmel hin. Er trinkt ihn auf einen Zug und geht so schnell wie er gekommen ist. Er ist Stammgast der Schänke und macht täglich Früh, Mittags und Abends hier kurze Station, wenn er zur Arbeit oder von seiner Arbeit nach Hause eilt. Je nach der Witterung verlangt er einen «Ueberzieher», «Winterrock» oder «Regenmantel». Er will damit offenbar sagen, daß es das Warmmachen ist, was ihm am Schnaps so verlockend ist. Da er auch im Hochsommer Früh, Mittags und Abends seinen Kümmel trinkt, wird es das Warmmachen allein wohl nicht sein, was ihn in die Schänke zieht.

Zu dem alten Buchdrucker gesellen sich noch einige Schneeschaufler, die hier Mittag halten. Auch sie kramen fette Abfälle aus der Tasche. Der eine trinkt dazu einen «Reinländer» um zwei Kreuzer – es ist dies reiner Kornbranntwein –, der andere einen Korn mit Rum, ein dritter ein Gläschen mit purpurner Flüssigkeit: Weichsel mit Rum. Unter ihnen ist auch ein jüngerer Buchdruckereihilfsarbeiter, der für die Bleikrankheit so empfänglich ist, daß er immer schon nach acht bis vierzehn Tagen seine Arbeit verliert. Erst in der Vorwoche verlor er die letzte «Kondit», wie er im Buchdruckerjargon erzählt. Dann frettet er sich halt durch, so gut oder eigentlich so schlecht es geht: Im Sommer zumeist bei Bauten. Jetzt ist er Schneeschaufler.

Auch ein Maurer ist unter den Mittagsgästen, ein sogenannter «Küfler» oder «Küfelmaurer». Nicht Meister, nicht Geselle. Aber selbstständig. Er übernimmt kleine Ausbesserungsarbeiten, wo er sie bekommt. Gar oft ist da der Schänker Arbeitsvermittler. Um eine solche Vermittlungsangelegenheit dreht sich das Gespräch, das Herr Fritz mit einem Dienstmädchen führt, das um Rum in die Schänke kommt. «Na, warum haben S’ denn heut nicht die Küche herrichten lassen? Hat’s der Gnädigen net paßt?» «Nein, weil der Emil krank ist.» – «Der Maurer verliert aber seinen Tag, er hätt’ wo anders eine Arbeit g’habt.» Das Mädchen zuckt mit den Achseln und geht. Zwischen Thür und Angel umspielt ein freundliches Lächeln ihren Mund. Einer der Gäste, die beim Tisch saßen, mußte ihr es abgerungen haben. Der «Küfler», der das Gespräch mitangehört hatte, sagte nun bestätigend mit leichtem tschechischen Anklang im Dialekt: «Is eh war, hätt ich an Arbeit g’habt»... Dann abwehrend und sich tröstend zugleich: «Mach ich’s halt muring.» Ein anderer ruft ihm zu. «Macht nix, jetzt geht’s scho’ furt bis nach Allerheiligen.»

Um halb 1 Uhr etwa betritt ein kräftiger Dreißiger die Schänke, in der ihn alle kennen. Der Schänker reicht ihm wie einem Freunde die Hand. Unter seinem Arbeitskleid trägt er ein blaues Hemd. Seine derben Hände sind harthäutig und schwielig. Er ist, wie mir der Schänker sagt, seit fünfzehn Jahren in einer Gumpendorfer Fabrik Silberpolierer. Ein seltener Typus an solcher Stätte. Alles an ihm scheint Kraft, Zielbewußtsein. Der Schänker erzählt mir, daß er jetzt erst im Arbeiterbildungsverein lesen und schreiben lernt, daß er aber doch alles weiß, was in der «Arbeiter-Zeitung» steht. Um diese lesen zu können, lernt er jetzt. Heute dankt er die Kenntniß dessen, was in der Zeitung steht, seinen Arbeitskollegen, die während der Pausen aus der Zeitung vorlesen. Mit Hilfe seines guten Gedächtnisses merkt er sich alles und ist daher über alle öffentlichen Vorgänge stets unterrichtet. Er ist Alkoholiker. Mittags und Abends Stammgast, doch scheint in ihm die Kraft zu wohnen, sich losreißen zu können. Er trinkt zwei Thees und wohl auch noch einen Schnaps.

*

Ein Politiker. Unterdessen tritt ein Fünfziger an den Schanktisch heran. Während des Wiener Ausnahmezustandes «wegen politischer Umtriebe» aus Wien für beständig abgeschafft, erlangte er unter dem Regime Friebeis durch eine Entgleisung des Amtsschimmels die Zuständigkeit und lebt seither wieder unangefochten mit seinen Kindern vereint in Wien. «Herr Fritz» kennt ihn seit einigen Jahren und er stimmt auch gleich den Ton an, den der Alte am liebsten hört. «Hab’n S’ heut scho’ die ,Arbeiter-Zeitung’ g’lesen?» – «’n Leitartikel,» gibt der Alte zurück. – «Na, was sag’n S’ zu der Gemeinheit von Vergani?» – «Was nutzt das all’s ... mit der Zeitung allan kummt m’r den net auf. Wissen S’, wer da klagen sollt’? d’ Gewerkschaftskommission.» – «Aber dö hat ’r ja net beschuldigt, er schreibt ja nur immer: Die Größen in der Partei, die Führer, die Sozialdemokratie.» – «Dann bleib’n nur Watschen übrig ...» wirft ein dritter ein, der bisher dem Gespräch ruhig zugehört. – Der Alte wehrt ab: «Dö Falloten sollen schreib’n was woll’n, in derer Indianerzeitung. Er soll si’ meld’n, wenn er si’ traut. Die Zeitung muß do wiss’n, wer dös einigeb’n hat. I will mi’ gar net aufregen.» – Der Silberpolierer: «Zahlert si a aus weg’n der Bagasch. Is ja all’s nur G’schäft. Schaun S’ ’s an, a Christlich-Sozialer, der jüdische Ratenagenten für sich arbeiten laßt, und der Steiner fahrt in Ostrau mit der jüdischen Equipasch zur Versammlung ...»

*

Der «Binderloisl». Die Maurer sind wieder einmal oben auf. Sie machen Zukunftsmusik. Die Aussicht auf baldige Besserung des Wetters und damit auf den Beginn der Bauzeit läßt sie immer und immer wieder von den besseren Tagen träumen, die auch für sie dann kommen. Dann ist die Fretterei des Winters zu Ende. Die Fabel von der Grille und Ameise wird von ihnen durch ein neues Beispiel belegt. Während die Ameise der Fabel im Sommer fleißig arbeitet und genügsam lebt, um etwas für den Winter zu erübrigen, frißt sich die Grille Tag für Tag ihr Ränzlein voll und zirpt dann nach Herzenslust, anstatt für den Winter vorzusorgen. Die drei Maurer spotten über einen Vierten, Abwesenden, den Binderloisl, der im Winter demüthig zu den Ameisen (sie meinen damit sich selbst) betteln komme, im Sommer aber «groß» thue. Der «Küfler» erzählt: «Wenn er kummt in an Wirtshaus, verlangt er an Speiskart’n. (Nachspottend): Was hab’n S’ denn? – A frisch Gulaschel und an Beuschl wärns da. – Hörn S’ auf mit den Gulasch und Beuschl, hab’ mi eh alle Täg. I möchte an Fleisch essen.» Die andern lachen. Der Silberpolierer mit. Jetzt gibt er eins zum Besten in seiner kurzen Art: Der Binderloisl im Winter (mit bittender Miene): Geh’n S’, leichen S’ m’r zwa Kreizer auf an Branntwein. Im Sommer (keck und übermüthig): An Branntwein? A Krügl a Kühl’s. Das muaß aber g’schwind sein. Mir hab’n ka Zeit net ... Weil die Maurer eh schon so populär san mit der G’schwindigkeit!» – Da alles lacht, scheint der Silberpolierer den Ton gut getroffen zu haben.

*

Verschämte und unverschämte Alkoholiker.

Nr. 1. Eine Diurnistenfigur. Alt, verschrumpft, melirtes Haar, abgeschabter schwarzer Salonrock. «I bitt’ schön, um drei an Kamillenschnaps.» – «Um drei an Kamillen für die Brust» sagt Herr Fritz lächelnd. «Ja, sie glaub’n’s net, der Kamillen wirkt Wunder. Wo wär i scho mit mein’ Brüsterl.» Trinkt auf einen Zug und geht. Das ist ein verschämter Alkoholiker.

Nr. 2. «Was kann ich dienen?» – «’m drei Prominzen.» – «Fehlt’s wo?» – «Na, der Aeulkohol macht’s. Z’weni Aeulkohol hab i in mir. (Er trinkt.) Ah ! No ans. I war’ eh scho lang ins Spital ’gangen, aber i hab’ denkt, sie pumpen m’r ’n Aeulkohol wieder aussa, und i hab’ wieder nix drin.» Er trinkt das zweite Glas aus und geht. Das ist ein unverschämter Alkoholiker.

Nr. 3. Liebt die Dämmerstunde. Etwa 30jährige elegante Dame, ein wenig aufgedonnert. Schottischer Kragen. Lackschuhe. Braune Glacé. Lorgnon. Dem Aeußern nach Choristin oder Tänzerin. In der Sprache norddeutscher Anklang. Schüchtern: «I bitte um fünf Kreuzer Rum.» Sie bekommt ein «Dezi», einen Zehntelliter, den sie auf einen Zug austrinkt. (Wehleidig.) «Ich hab’ so Magenweh ... geben Sie mir halt noch eins.» Sie trinkt, zahlt und geht. Das ist wieder eine verschämte Alkoholikerin. Sie hat täglich Magenweh, ist daher Stammgast.

Nr. 4. Kommis. Schwarzer Winterrock. Ziemlich neuer Hut. Nett. Er verlangt nach alter Gewohnheit einen «Kumillen». Früher einmal schützte er stets Magenweh vor. Der Schänker weiß es und servirt mit den Worten: «Einen Kamillen gegen Magenweh.» Der andere wehrt ab. «I trink’n gern.» Trinkt das Fläschchen aus und verlangt noch rasch einen «Slivovitz um zwei», den er ebenso rasch trinkt. Dann geht er. Der hat auch schon die Scham überwunden.

Nr. 5. Ein Bürger mit Schmerbauch. Fünfziger. Er verlangt ein Stamperl feinen Liqueur. «Bitte, was für einen?» – «Geben S’ halt her, was Sie haben; ich kenn die Schnäpse nicht.» – «Vielleicht Kaiserbirn, Allasch, Kümmel, Marasquin?» – «Hör’n S’ m’r auf, dö san zu süß, geben S’ m’r halt a größer’s Stamperl Rum.»

*

Das Kaffeehaus des Arbeiterpensionisten. Der ehrsame alte Bürger und der «aufrechte» Geschäftsmann vom Grund gehen nach dem Essen ins Kaffeehaus auf ihren «Tapper», oder sie lesen zu ihrem «Schwarzen» ihr «Blattl», oder wieder andere – dieser Typus ist freilich schon im Aussterben – setzen sich in ihr weichgepolstertes Eck, der «Schan» bringt die «Mirschamene», und sie haben nun zwei Stunden lang kein wichtigeres Geschäft, als den Meerschaumkopf der Pfeife anzurauchen. Darauf sind alle ihre Gedanken gerichtet. Mit der Regelmäßigkeit einer Maschine paffen sie einige kurze Züge vor sich hin, saugen dann, wenn die Pfeife schon wieder mehr Rauch gibt, etwas länger am Mundstück, heben den Meerschaumkopf zu den gespitzten Lippen und blasen ihn gleichmäßig mit dem Rauch an. Eine selten friedliche Beschäftigung. Der Proletariergreis kann im Alter kein so beschauliches behagliches Dasein führen, er muß sich glücklich preisen, wenn es ihm im Alter so gut ergeht wie dem alten Herrn Kastner, der täglich um halb 2 Uhr in das Schanklokal humpelt. Ein Fuß ist ihm gelähmt. Er ist ein «pensionierter» Klaviermachergehilfe. Schon vor 25 Jahren hat er den Vortheil der Organisation erkannt und hat sich dem Fachverein der Klavier- und Instrumentenmacher angeschlossen. Von diesem bezieht er, seit er arbeitsunfähig geworden ist, eine wöchentliche Altersunterstützung von vier Gulden. Damit bestreitet der alte Mann alle seine Bedürfnisse. Dazu gehört auch seine Zeitung. Um diese lesen zu können, geht er zum Branntweiner, wo er um 3 kr. «Korn» trinkt und damit das Recht erwirbt, einige Stunden auf der Bank sitzen und die Zeitung lesen zu können. Es trifft sich dabei auch Gelegenheit zu anderer Unterhaltung. Auch so ein «altes Leut» ist ja noch mitunter zu Jux und Scherz aufgelegt. Einem alten, gleichfalls arbeitslosen Monteur fällt eben jetzt, da sich der Klaviermacher behaglich auf der harten Bank zurechtsetzt, das Aufsatzl der Pfeife herunter. Der gestanzte Blechring rollt in die Nähe Kastner’s. Dieser hascht danach mit seinem Krückstock und sucht den Monteur zu verhindern, es aufzuheben. Er ist zu unbeholfen dazu. Der Monteur hebt lachend den Blechring auf. Während er sich die Pfeife bei dem kleinen Gasflämmchen neben der Thür anzündet, sagt er lachend: «Alter Ding, spielt si a no wia a klein’s Katzl. Kann eh net kräul’n.» Kastner lacht. Er hat seine Unterhaltung damit gehabt, und der Andere hat es gemüthlich aufgenommen. Dann greift er nach der «Arbeiter-Zeitung» und versenkt sich in sie. Findet er Anlaß dazu, dann erzählt er gerne den jungen Gästen, wie sie sich ihr Alter sichern sollen. Er rathet jedem, der Gewerkschaft beizutreten: «Es kann über die Nacht was kommen!» Um 3, halb 4 Uhr erhebt er sich und geht ruhig wie er gekommen ist nach Hause. Er bleibt nie länger, kommt immer nüchtern und geht immer nüchtern. Ihm ist die Branntweinschank wirklich nur der Ersatz für das unerschwingliche Kaffeehaus.

*

Orangenhausierer sind die nächsten Gäste. Wieder ihrer zwei; wieder ein Alter, dessen langes, ungeschorenes Haar unter dem «Schmalzhüatl» nicht Platz findet und in fetten Strähnen hervorquillt, und ein Junger, der Europa schon größere Konzessionen macht. Er versteht auch das Geschäft besser, denn bevor er Schnaps begehrt, bietet er dem Schänker Orangen feil. Herr Fritz spricht mit ihm slovakisch. Es gibt eine komplizirte Auseinandersetzung, da sie durchaus aus einer Flasche trinken wollen, trotzdem der Preis (5 kr.) nicht theilbar ist. Zum Glück finden sie später den Ausweg, daß auch der andere ein Frackerl zahlt, so daß jeder 5 kr. zu entrichten hat. Sie bleiben nicht lange ohne Gesellschaft. Eine Slovakin mit Holzspielerei gesellt sich zu ihnen, nachdem sie vorher «um drei Kümmel mit Rum» in zwei Zügen getrunken hat. Sie gibt jedem die Hand, und nun wird der jüngere Slovak Gemüthsmensch. Sein Orangenkorb weckt in ihm keine Erinnerung an die Heimat, wohl aber der Korb der Kollegin. Da sind alle die Originalspielsachen aufgehäuft, mit denen auch er sich als Kind gespielt. Begehrend langt er nach den rohbemalten Sachen, nach der blau-rothen Gans, nach der hölzernen Flöte, nach der steifen Holzpuppe und nach der grobgeschnitzten Wiege, in der ein ebenso grobgeschnitztes Kind liegt, alles aus einem Stück, unzerbrechlich. Um Wiege und Kind feilscht er dann mit der Kollegin. Er hat sich seines zweijährigen Kindes erinnert, dem er damit eine Freude bereiten will. Mit «stiri kraicari» – 4 kr. – sind sie handelseins geworden. Ein Schimmer von Freude huscht über sein schmutziges Gesicht, da er nun mit dem Spielzeug zum Schanktisch tritt und um ein Stück Papier und um Spagat zum Einmachen bittet. Beides bekommt er. Umständlich, wie ein Kleinod, wickelt er den Schatz in Papier, bindet das Paket und schiebt es dann in seine innere Rocktasche.

*

Ueber die Gasse wird den ganzen Tag über zumeist nur Rum geholt: Rum zum Thee. Gewöhnlich kommen die Frauen darum, sehr oft auch Kinder. Täglich nach Tisch kommt der Vater zweier Volkssängerinnen, und holt um 6 kr. Rum für seine Töchter, die dann Abends wieder ihr «harb’s Duett»

Mir san zwa Matsch’lsdurfer
Von der Sunnseiten

von der «Pablatschen» herunterschmettern. Ein alter Blinder Fiaker, der Abends Stammgast im Lokal ist, singt dasselbe Lied, aber in der Einzahl, hie und da gern, wenn er gut aufgelegt ist. Das muß aber vor 7 Uhr sein, denn um diese Stunde kommt sein braves Weib von der Arbeit nach Hause und holt ihn von dem Ort seiner einzigen Zerstreuung, die er noch hat, ab. Sie öffnet die Thür, ruft «Karl!» in das Lokal, worauf sich der Blinde erhebt und zur Thür tappt. Draußen nimmt ihn die Frau unter den Arm und führt ihn in die Wohnung. Sie gönnt dem Blinden das bischen unschuldige Zerstreuung, das Einzige was ihm noch geblieben ist.

*

Eine Theefabrik. Gegen 4 Uhr kommt ein Mann in die Schänke zu sonderbarem Zweck. Er fragt, ob kein Thee zu haben sei. Herr Fritz kennt ihn gut. Er ist Einkäufer einer Wiener Theefabrik. Nach dem alten ausgekochten Thee ist sein Begehr. Den kauft er kiloweise zusammen, um ihn durch geeignete Präparation nochmals als «billigen Thee» in den Handel zu bringen. Die feuchten Theeblätter werden zuerst getrocknet und geschnitten. Dann werden sie mit einer dünnen Gummilösung bespritzt, wodurch bewirkt wird, daß sie sich zusammenrollen. Mit etwas ungebrauchtem Thee vermischt, kommen sie dann in den Handel als ein wohl nicht gesundheitsschädliches, aber ganz minderwerthiges Produkt, das der arme Teufel gar oft als vollwerthig bezahlen muß. Heute hat der Mann kein Glück. Der Schänker hat keinen alten Thee. Ohne etwas zu nehmen, geht der Einkäufer wieder zur nächsten Schänke, wo er vielleicht mehr Glück hat.

*

Samstag Abend.

Nach Arbeitsschluß. Die Neunstundenarbeiter sind um 5 Uhr frei. Von ihnen kommen etliche ins Lokal. Der große Strom zieht vorüber. Alle haben es eilig. «Um drei Tupf an Rum, aber g’schwind.» – Na, na, brennt’s denn? – «Das net, aber i muaß sunst z’lang wart’n in Volksbad.» Ein zweiter verlangt «g’schwind an Lack», weil er noch zum Friseur gehen will. Ein dritter Arbeiter kauft Thee und Rum «für morgen Früh». Ein Vierter will den Regenguß abwarten. Er gehört in die Gruppen der noch Verschämten. Spricht mit Niemandem, trinkt aber zwei Glas. Gegen 6 Uhr versammeln sich so ziemlich alle Stammgäste. Der alte Buchdrucker, der auch heute als Schneeschaufler arbeitete, kommt tropfnaß herein. Er legt den vom Regenguß angesaugten Winterrock ab und geht dann zur Schank um einen Frack. Er zahlt zugleich seine Wochenrechnung. Sie macht alles in allem gegen zwei Gulden aus. Diesen Betrag wendete er in sieben Tagen zum Leben auf. Er gibt seinen Rock von Hand zur Hand, damit die anderen wiegen sollen, wie schwer er durch das Regenwasser geworden. Der Gußregen gibt überhaupt Anlaß zum Gespräch. Kurz nach 6 Uhr kommen abermals Fabriksarbeiter, unter ihnen der Silberpolirer, der sofort wieder seinen Stammplatz in der linken Ecke einnimmt. Er zahlt später dem alten Buchdrucker ein Frackerl. Ein etwa 45 Jahre alter Fabriksarbeiter begehrt um vier Kreuzer Danzinger mit Rum. Den trinkt er. Um sechs Kreuzer Thee und ein Flaschl Rum nimmt er für daheim mit. Er legt ein neues Fünfkronenstück auf die Schank. «Heut’ hab’n m’r s’ zum erstenmal kriegt», sagt er. Ein anderer drängt sich heran um es zu sehen. «Hab’n S’ vielleicht zwa? ... Sonst hätt’ i m’r ans eing’wechselt.

Es kommen nun der Reihe nach ein Agent, ein Bankdiener, ein Stockdrechsler, ein Kutscher (der einen «Sechser-Thee» verlangt, also einen stärkeren), ein Anstreichergehilfe, ein Stabzieher, ein Schlosser, ein Schuster, der bei den Schneeschauflern arbeitet, ein Tischlermeister, der Donnerstag Mittags einen zur Reparatur bestimmten Deckel im Lokal abholte und ein Gläschen mit den Worten ablehnte: «Nach’n Essen paßt ka Schnaps», ein Etuimacher, der das Kunststück des Papierspaltens zum Besten gibt, ein Installateur mit großem Demokratenhut und endlich ein Kastenpolitirer.

In dieser bunten Gesellschaft gibt es nun hundert Dinge zu hören und zu beobachten. Das ganze Lokal ist gefüllt. Da und dort bilden sich Gruppen, die miteinander sprechen, politisiren, sich ihr Leid klagen, Pläne schmieden. Zwischendurch drängt sich ein kleiner Junge. «Um Viere Rostopschin mit Rum.» Dabei stellt er ein Trinkglas hin. Er zahlt mit einem Fünfkronenstück. «Für wen g’hört’s denn, Kleiner?» – «No, für’n Vatern!»

Der Stabzieher erzählt, daß er Dienstag einen alten Stammgast des Lokals, der fünfundzwanzig Jahre in einer Fabrik war, als Schneeschaufler getroffen habe. «Er hat g’rad Haufen auseinanderg’wurfen. Ich hab’ mi net hintraut, ich hab m’r denkt, er wird si schenir’n, wann i ’n anred’. Da hat ’r mi g’seg’n und hat mi selber zuhig’rufen. Er hat m’r erzählt, daß ’r mit an Rausch ins G’schäft kummen is, und da is ’r sofurt entlass’n wurd’n. Is a net schön nach fünfundzwanzig Jahr.»

Der Schlossergehilfe, dem er diese Geschichte erzählt, nimmt kaum Antheil daran. Ihn beschäftigt Wichtigeres: «Mir hat von der Frau Hofer tramt. 55 Jahr is alt, am 25. Is ihr Namenstag, und auf der Bahr hab’ i’s liegen g’seg’n, san Todt und lebendig 47. Jetzt bin i neugierig, ob s’ außakummen san, dö Nummero.»

Der Stockdrechsler erzählt von dem schauderbaren Zustand der Aborte im Hause Nr. 32 in der Mollardgasse, worauf nach der saftigen Schilderung einer die Bemerkung macht, «ob si da die Sanitätspolizei net dreinlegen könnt’ «. Die Anzeigen nützen nichts, weil der Hausherr immer früher vom Erscheinen einer Kommission verständigt wird.

Einer verkündet für sich eine eigene Rauschtheorie, Er lallt: «An’ Rausch, daß m’r umkugeln than, hab’n m’r a no net g’habt. Daß m’r a biss’l ang’strat san, ja ... aber mehr is net nothwendi’.» Ein anderer animirt seinen Spezi mit den Worten zum Trinken: «Is all’s ans trink m’r no ans! Wir kommen alle nachanand am Zentral.» Ein Dritter: «Ah, weil Samstag is, geb’n S’ m’r no ans.»

Hier politisirt eine Gruppe. Der Tischlermeister ist dabei. Es ist natürlich vom Lueger die Rede. «Den geht’s so bei die Sozialdemokraten, wie ’s den Engländern bei die Buren geht,» sagt der Tischler; die anderen lachen. «Oder den Liechtenstein sei Red’, wia’s uns jetzt um ’n Bart gehen (nachspottend): Der ehernen Hand des Arbeiters muß geholfen werd’n. I war amal unt’ beim Hamberger, bei aner Red’ von Liechtenstein. Wia ’r kumm’n is, da hab’n glei’ die Jungg’sell’n zum Spiel’n ang’fangt.» – «Was war’n denn das für An’?» – Dö, vom Katholischen ...»

*

Ein tapferer Proletarier. Gewiß einer der sympathischesten Gäste der Schänke ist der Herr Wilhelm. Er ist körperlich verunstaltet. Am Rücken trägt er einen Höcker. Wie er sich den geholt haben mag? Wer weiß es? Es fragt auch keiner danach. Er ist bei allen wohlgelitten. Alle kennen seine Geschichte, alle wissen, daß er sich tapfer und ehrlich durchs Leben schlägt und daß er die Zeiten der Arbeitslosigkeit besser zu überwinden versteht als andere. Er ist Glasergehilfe und seit Jahren bei einem Bauglaser beschäftigt. Mit der Bauzeit beginnt auch seine Arbeit. Dann hat er ständigen Verdienst bis Allerheiligen. Von da ab wieder bis Ostern mag er sich sein Brot suchen, wo er es findet. Und er findet es zur Noth immer. Schneearbeit und Zettelvertheilen sind seine Haupteinnahmsquelle. Gibt es diese Arbeit nicht, dann sucht er sich andere. Er ist findig. Langsam streicht er durch die Gassen, bis er irgendwo eine zerbrochene Fensterscheibe entdeckt. Dann geht er zu der betreffenden Partei und trägt sich an, die Tafel zu ersetzen. Die bequeme Gelegenheit benützen viele und beauftragen ihn damit. Nun rückt er mit seinem Betriebskapital – einigen Sechserln – heraus, kauft eine Scheibe und schneidet sie ein. Einige Kreuzer fallen dabei für ihn ab, genug für seine kargen Bedürfnisse. Dabei ist er hilfsbereit, gefällig, intelligent und immer frohen Muths, trotz des Elends, das ihn ja jeden Winter ohne seine Schuld verfolgt. In der Schänke ist er bescheiden und trinkt wenig. In ihr bringt er die langen Winterabende am billigsten zu. Er ist Bettgeher und würde seinen Quartierleuten höchstens zur Last fallen, wenn er die Abende «daheim» verbringen wollte. Das Bettgeherwesen – oder anders gesagt – der Mangel eines eigenen Wohnraumes treibt viele Proletarier Abends in die Schänke. Viele sehnen sich nach einem «Daheim», ohne es erreichen zu können. Diesen die Schänke zu nehmen, ohne ihnen durch öffentliche Leseräume, Theeanstalten, Unterhaltungslokale oder durch Hebung ihrer Lebenshaltung Ersatz zu bieten, wäre grausam und unrecht. Fast alle anwesenden Arbeiter sind «Bettgeher». Die wenigsten haben eine Wohnung.

*

Kehraus! Um 8 Uhr wird es immer lauter in der Schänke. Mit Ausnahme einiger Stammgäste, die den ganzen Abend hier zubringen, haben die Gäste schon einigemale gewechselt. Einer der Stammgäste ist besonders laut. Der Schänker stellt ihn resch ab. «Andredl, was schreien S’ denn so? San S’ im Krowotischen?» Der Angeschriene gibt keine Antwort und geht eingeschüchtert in zwei Minuten fort. Eine Frau holt ihren Mann. Er gibt ihr den Schlüssel und – bleibt. Immer unverständlicher wird das Stimmengewirr. Es dauert aber nicht lange, so lichtet sich das Lokal. Um 9 Uhr sind noch etwa zehn Gäste anwesend. Wenn der Schänker dann um halb 10 Uhr aufzuspritzen und auszukehren beginnt, dann wissen auch diese, daß es ernst wird mit dem Schluß. Dadurch, daß er seine Gäste zur Solidität zwingt, sie nicht schlafen läßt im Lokal und Angetrunkenen nichts mehr einschänkt, trifft der Schänker die große Kunst, daß er nie Streit, nie Exzesse in seinem Lokal hat. Die Stammgäste selbst halten auf strenge Ordnung. Sie dulden nicht die professionsmäßigen «Pülcher» in ihrem Lokal, sondern nur arbeitende Menschen. Bei anderen Geschäften ist dies wohl anders. In manchen muß fast täglich die Polizei interveniren. Diese Boutiquen liefern dann das kriminalstatistische Material für die Schädlichkeit der Branntweinschänken. Um 10 Uhr wird gesperrt, und der Schänker hat nun sechs Stunden Ruhe. Um 4 Uhr morgens beginnt der Tanz von neuem.

Sonntag Morgen.

«Drahrer.» Um den «Drahrern» zu entgehen, sperrt Herr Fritz am Sonntag Morgen gewöhnlich erst um 6 Uhr früh auf. Auch dann bleiben sie ihm ja nicht aus. Palmsonntag kam es anders. Um 3/4 5 Uhr pochten einige Markthelfer an die Thür; der Schänker mußte auf und das Lokal öffnen. Es waren anständige Gäste. Ihnen auf dem Fuße folgte aber eine «Drahrergesellschaft», die des Bösen schon zu viel gethan hatte. Namentlich einer der «Herren» schien mit dem Straßenkoth gar zu nahe Bekanntschaft gemacht zu haben. Sein schwarzer Winterrock war nur an der Brustseite als solcher zu erkennen. Der Rücken war eine einzige Kothkruste. Der Schänker empfing die Herren nicht gerade freundlich: «Meine Herren, Sie haben genug; in diesem Zustand würden Sie bald einen Rausch bekommen, und das gibt’s bei uns nicht.» – «Das möchte’ i seg’n, daß S’ uns nix einschänken,» sagt der, der vorhin das Rinnsal mit seinem Bett verwechselt haben mußte. «Da drah’n m’r die Bude um!» – «Bitt’ schön’, fangen S’ glei an, daß m’r bald firti wird’n!» sagt der Schänker und entwaffnet damit den Schreier. Zugleich ist er schon neben ihm, öffnet die Thür und stellt ihn sanft hinaus. Zu den anderen sagt er zurückkommend: «Wird nichts mehr eing’schänkt, meine Herr’n!» Der Hinausgestellte geht zu einem Wachmann sich beschweren, aber es nützt ihm nichts. Die anderen verlassen kleinlaut das Lokal.

Nach und nach kommen übernächtige Arbeiter. Meist sehr jugendliche. Einer schläft vor Ermüdung ein. Sofort ist Herr Fritz bei ihm: «Wann woll’n S’ denn aufg’weckt werd’n?» fragt er ihn. – «Um siebene,» sagt der junge Bursch, aber eine Minute später geht er. Zwei Händler mit Palmbuschen machen ein Geschäft. Ein Uebernächtiger kauft sich einen «g’weichten Buschen» und schluckt drei Palmkatzerln, «damit er Glück hat». – «Schlick lieber ’n Lueger, du Tepp, der is zwar no unverdaulicher, aber die Palmkatzerln bleib’n d’r a im Magen liegen.» So geißelt sein Nachbar den Aberglauben.

Um 6 Uhr kommt ein kleiner Bub. Er holt um «sechse Rum und um drei an Thee». Unter dem Arm hat er das «Extrablatt». Ein sonst stets solider Tischlergehilfe, der Abends im Vorbeigehen sein Gläschen trinkt und sofort geht, kommt übernächtig herein. «Ja, was is denn das heut mit Ihnen?» fragt Herr Fritz. Er hat mit seinem Weib einen Streit gehabt und war deshalb über Nacht ausgeblieben. Gleich darauf kommt der Zeitungsausträger und bringt die «Arbeiter-Zeitung» und das «Neue Wiener Tagblatt». Jeder der anwesenden Gäste nimmt sich ein Stück Zeitung und liest. Diese Gruppe trifft ein junges Ehepaar an, das reisefertig das Lokal betritt. Sie kaufen ein Fläschchen Alpenkräuter und einen «Reisecognac» und gehen. Nach und nach machen auch alle Hausmeister der Umgebung ihre Morgenvisite. Auch zwei Staatstelephonarbeiter, die Sonntagsdienst haben, kommen. Sie gesellen sich zu einem Laternanzünder, der schon früher im Lokal war. Ein zugrunde gegangener Schneidermeister, ein Friseurgehilfe, der alte Monteur, ein Greisler und christlich-sozialer Agitator, der auf dem Weg zum Markt hier ein Standerl macht, um 3 kr Rum trinkt und wieder geht, und noch andere sind Frühstücksgäste. Sie lesen zu ihrem «Frackerl» die Zeitung. Die gewöhnlichen Stammgäste kommen am Sonntag später.

Montag Abend in der Brigittenau.

Um auch eine Bude kennen zu lernen, in der wilderes Element verkehrt und wo weniger stramme Ordnung gehalten wird, besuchte ich Montag Abend noch eine Brigittenauer Schänke. Zuerst scholl mir nur tschechisches Stimmengewirr entgegen. Erst allmälig gewann ich über die laut debattirenden Gruppen einen Ueberblick. Hier stand eine Gruppe von tschechischen Schneidergehilfen, die politische Sorgen hatten. Sie stritten mit einem Tischlergehilfen, der sie immer und immer wieder aus dem Geleise brachte. Schließlich sonderten sich die Schneider ab. Jetzt sprachen sie vom Geschäft. Der eine, der einen zum Abliefern fertigen Ueberzieher am Arm trug, mußte beim Maßnehmen Pech gehabt haben. Er demonstrirte sehr lebhaft dem andern, wie er dabei vorgegangen war. Er bediente sich dabei eines Zentimeterbandes. Der närrische Tischler gesellte sich mittlerweile zu einem Taglöhner des Militärverpflegsmagazins, der mit seinem Lohn von 1 fl. 30 kr. für ein Weib und zwei Kinder die Hauptsorge zu tragen hat. Seine Frau ist Hemdknopfnäherin und verdient 3 fl. wöchentlich. Er selbst behält sich für seinen Wochenbedarf 1 fl. 80 kr., die er oft schon in der Samstagnacht anbringt, oft aber auch kleinweis verbraucht. «Anderl, sing’, und dann is’s aus, dann bring i den Guld’n achtz’g Kreuzer a in aner Nacht an.» Den Tischlergehilfen, der sich in das Gespräch mischen will, fertigt er mit den Worthen ab: «Was willst denn, Mistwagenkondukteur!» Roh geht es auch hier nicht zu, wenigstens nicht so roh, als man im allgemeinen annimmt. Der Kehraus vollzieht sich so friedlich als in dem Margarethener Lokal, und Montag gibt es doch «Blaumacher»!

*

Moderne Literatur. Zum Schluß eine Intimität. Im Gespräch mit Anderl ereignete sich Folgendes: Ich lehnte am Schanktisch und notirte mir hie und da ein Wort. Anderl kam dadurch zu dem falschen Schluß, daß ich «von der Polizei» sei. Ich betheuerte meine Unschuld. Der andere ließ sich nicht irre machen. «Wir kennen ja a unsere Leut’!» sagte er pfiffig. – «Sie irren sich! Ich möchte’s nicht leugnen. I bin net von der Polizei,» betheuerte ich nochmals. – «Schreib’n S’ vielleicht a Stuck?»

*) Schönbrunnerstraße. zurück

 

Bibliographie Startseite