Max Winter
Pariser Spaziergänge
I: Arbeiter-Zeitung Nr. 186 vom 9. 7. 1900
Paris ist heuer das Sehnsuchtsziel vieler Tausend. Aber nur wenigen ist es gegönnt, ihre Sehnsucht zu stillen. Die überwiegende Mehrheit muß ihre Sucht nach der Seine unbefriedigt lassen, und doch wäre es in mehr als einer Beziehung wünschenswerth, wenn eine Massenwanderung nach dem Seinebabel möglich wäre. In Paris ist ungemein viel zu lernen, namentlich für die Wiener, die immer Großstädter zu sein glauben, weil sie Bewohner einer großen Stadt sind. Von einer großen Stadt aber bis zu einer wirklichen Großstadt ist noch ein weiter Weg. Wie groß dieser Abstand ist, wird der leicht herausbekommen, der, stets geneigt zu Vergleichen mit Wien, Paris durchstreift. Schon was sich rein äußerlich jedem, der nur den Willen dazu hat, aufdrängen muß, ist so viel, daß man damit einen Maßstab dafür gewinnt, was Wien noch alles zur Großstadt fehlt. Das Leben in den Pariser Straßen ist lehrreich. Es gibt Antwort auf viele Fragen. Was ist es mit der Rauch- und Staubplage, was mit den Bädern, mit der Luftverbesserung, mit dem Straßenlärm, mit dem Verkehr in den Straßen, mit der Reinigung und Beleuchtung der Straßen, wie sind die Straßenarbeiter geschützt, wie die Kinder, wie die Thiere? Auf all diese und noch auf viele andere Fragen bekommt der Fremde in Paris Antwort, ohne daß er zu fragen braucht. Er muß nur mit offenen Augen durch die Straßen wandern, er braucht nur sehen wollen.
Zunächst einige Verkehrsbilder.
Versetzen wir uns in die Prater-Hauptallee. Ein herrlicher Frühlingssonntag lockt ganz Wien ins Freie. Es ist Nachmittag. In ununterbrochener Kette und in drei- und vierfacher Reihe fahren die Miethwagen und Equipagen ihre geputzten Insassen nach beiden Richtungen: zum und vom Lusthaus. Die arme Plebs, die zu Fuß laufen muß, hat Mühe, die Fahrbahn zu übersetzen, und von Zeit zu Zeit gebieten die Wachorgane den Kutschern Halt, um dem Strom der Fußgeher zu seinem Rechte zu verhelfen. All dieses Gedränge von Lohn- und Privatwagen, das wir in Wien nur an einigen wenigen Sonntagnachmittagen an einem einzigen Punkt beobachten können, ist in noch viel höherem Maße in Paris Tag für Tag an hundert Punkten zu beobachten. Nicht nur die mehr als 17.000 einspännigen Miethwagen erfüllen die Boulevards, Avenuen und Straßen, die von einer vernünftigen Stadtverwaltung durchwegs zu schattigen Alleen umgestaltet wurden, sondern auch ungezählte Privatwagen, tausende von Automobils, riesige mit zwei, drei und vier Pferden bespannte Omnibusse mit Dachsitzen, Breaks mit 20 und mehr Sitzen, zumeist mit vier, fünf und auch sechs Pferden bespannt, die der Kutscher von seinem hohen Dachsitze aus sicher und geschickt lenkt, durchfahren in drei- und vierfacher Reihe nach jeder Richtung die Straßen in einem Tempo, das sich in Wien nur Fiaker erlauben dürfen. Zwischendurch lanciren Radfahrer geschickt ihre Räder, theilnehmend an dem allgemeinen Wettkampfe der Verkehrsmittel. Jeder will der Erste sein und setzt seine ganze Geschicklichkeit daran, in dem Gewirre von Rädern und Karren dem anderen vorzukommen.
Kommt in Wien ein Kutscher mit seinem Gefährte dem Wagen des anderen nur nahe, so gibt es heilloses Geschimpfe auf beiden Seiten und zum Schluß die bezeichnende Handbewegung um den Hals, wenn das «Häng di auf!» das Ohr des anderen nicht mehr erreichen könnte. In Paris kann man keine einzige Fahrt machen ohne solche anscheinend gefährliche Situationen, aber im Vergleich zu Wien wird man nur äußerst selten das unfläthige Geschimpfe zu hören bekommen. Jeder baut eben auf seine eigene und auf die Geschicklichkeit des anderen. In Wien ist fast bei jedem Kutscherstreit an belebten Punkten sofort ein Wachmann zur Stelle, der glaubt, einschreiten zu müssen und oft keinen anderen Effekt erzielt, als daß er eine Verkehrsstörung hervorruft dadurch, daß er die zwei streitenden Kutscher zum Anhalten ihrer Wagen bestimmt – in Paris kümmert sich kein sergeant de ville um streitende Kutscher und die Polizei hat nun eine Vorschrift erlassen, um die eventuelle Wirkung von Zusammenstößen abzuschwächen. Die auf den Dächern sitzenden Kutscher müssen angeschnallt sein, damit sie nicht bei einer unvermutheten Erschütterung des Wagens von ihrem Sitz geschleudert werden. Dieser feste Sitz gibt aber andererseits den Kutschern eine solche Lenksicherheit, daß trotz dem zehnmal stärkeren Verkehr, trotz der bedeutend größeren Geschwindigkeit des öffentlichen Fuhrwerks weniger Unglück geschieht als in Wien.
Der Pariser Wachmann ist der Musterbeamte für den Straßendienst. Bei Straßenkreuzungen stellt er aber auch ganz seinen Mann. Ohne Säbel, ohne den schweren Helm, der ihm namentlich im Sommer zur Qual werden müßte, steht er in seiner einfachen Uniform, auf dem Kopfe eine Kappe, auf seiner «Rettungsinsel», und hält als einzige sichtbare Wehr in der Rechten einen kurzen keulenartigen Stock, der neben der wenig auffallenden Uniform das einzige äußere Abzeichen seiner Würde ist. Aber dieses einfache Abzeichen wird mehr respektirt, als die schneidige Wehr der Wiener Polizisten.
Während ein Wiener Wachmann – natürlich hoch zu Roß – zwischen den Wagen herumreiten und fast jeden einzelnen Kutscher speziell «anschnauzen» zu müssen glaubt, um die Wagen zum Stehen zu bringen, hebt der Pariser Sergeant einfach seinen Stock, und im Nu stehen die Wagen in der Richtung, in die er seinen Stock hält.
Während der Wiener Wachmann in der Regel nur die Kutscher zum Anhalten zwingt, wenn eine Hofequipage in Sicht ist, ist der Pariser Wachmann dahin instruirt, die Wagen anhalten zu lassen, so oft es im Interesse des Verkehrs der anderen Fuhrwerke und der Fußgeher nöthig ist. Während der Wiener Wachmann auf seinem Straßenposten oft keine andere Sorge hat, als Schnellfahrer zu erwischen, freut sich der Pariser Sergeant der Schnellfahrer, weil dies eine raschere Abwicklung des Verkehrs möglich macht und wir wetten, in Paris würden viel eher jene Vehikel beanstandet werden, die zu langsam fahren, zum Beispiel die meisten unserer Einspänner und die zumeist mit Schindermähren bespannten Omnibusse. Sie würden als Verkehrshindernisse angesehen werden, die nur den Zweck haben Thiere zu quälen, und würden sehr rasch vom Schauplatz verschwinden, damit dem anderen Fuhrwerk nicht die Möglichkeit benommen ist, schnell vorwärts zu kommen.
Aber auch die Fußgänger sind geschützt.
Bei großen Kreuzungspunkten, dort wo sich zwei Boulevards durchschneiden oder wo eine Avenue einen Boulevard kreuzt, steht in jeder Straßenmitte auf der «Rettungsinsel» ein Wachmann und diese vier Organe regeln auch den stärksten Wagenverkehr mit so viel Ruhe und so sicher, daß es für den an Wiener Verhältnisse gewöhnten Mann ein Vergnügen ist, das Bild zu beobachten. So oft den Wagen in der einen Straße nach beiden Richtungen Stillstand geboten ist, können die Wagen der Kreuzungsstraße die Stelle passieren. Zugleich ist aber auch den zu beiden Seiten angesammelten Fußgängern Gelegenheit geboten, die Straße zu übersetzen. So kommen sie ohne Gefährdung ihrer geraden Glieder hinüber. An anderen Punkten, zum Beispiel an den vielen runden Plätzen, Zentralpunkten, in die ähnlich wie am Wiener Praterstern sechs, sieben frequente Straßen einmünden, ist es oft schwer, dieses System streng durchzuführen. Da müssen dann die Fußgänger verteufelt aufpassen, daß sie nicht niedergestoßen werden. Auch gewandte Menschen haben zu thun. Wie erst Frauen, die durch ihre Kleidung verhindert sind, gewandt zu sein, Kinder, die die Gefahr nicht kennen, und endlich das gebrechliche Alter! In Wien mit seinem ganz geringen Straßenverkehr müssen die Zeitungen täglich von überfahrenen Greisen, Greisinnen, Frauen und Kindern berichten – in Paris sind alle diese Unfälle trotz des höheren Verkehrs viel seltener. Auch dies hat seine Ursachen. In Paris kann man es, so oft man will, beobachten, daß Wachorgane schwache Menschen – Frauen, Kinder und Alte – durch das dichteste Wagenspalier sicher geleiten. Sie heben nur den Stock, die Wagen stehen, und die Menschen sind nicht der Gefahr ausgesetzt, gerädert zu werden. In Wien hatte der Schreiber dieser Zeilen, der sehr viel in den Straßen herumkommt, erst ein einzigesmal Gelegenheit, einen Wachmann zu beobachten, der durch das Gedränge von Fuhrwerk einen alten Mann über die Straße geleitete. Wie sehr ihn dieser Vorfall frappirte, mag daraus hervorgehen, daß ihm heute noch alle näheren Umstände geläufig sind. Der Vorfall spielte sich vor etwa drei Monaten an der Ecke der Alserstraße und Spitalgasse ab, der Geführte war anscheinend ein Pfründner, und der Wachmann hatte die Nr. 32.
Das Kapitel: Ueberfahrene Kinder ist in Wien unerschöpflich. In Paris sind die Kinder geschützt. Weitab vom Zentrum, fast schon an der Peripherie der Riesenstadt, in der Rue du Faubourg St. Antoine, ganz in der Nähe des Place de Nation, befindet sich – um nur ein Beispiel aus vielen herauszugreifen – eine Reihe von kleinen Kinderspielplätzen. Plötzlich ist die Häuserreihe der Hauptstraße durchbrochen und man sieht einen Bauplatz zu einem schattigen Kinderspielplatz mit Sandhaufen und frischem Grün umgewandelt. Gegen die Straße zu ist der Platz durch ein Eisengitter abgeschlossen. Eine fürsorgliche Gemeinde denkt an die Kinder und schafft in den dichtbevölkerten Stadtvierteln auf diese Art gewissermaßen Oasen in der Verkehrswüste der Großstadt – Oasen zum Schutze der Kinder; sie folgen einander in kurzen Zwischenräumen, und alle sind von lebensfrohen Kindern bevölkert, die hier den Ueberschuß an Kraft austollen können, ohne ihre Gesundheit oder gar ihr Leben daran wagen zu müssen. In dem gartenarmen Wien ist das Gros der Kinder auf die Straße als Spielplatz angewiesen. Wen könnte es da wundern, daß der Polizeirapport Tag für Tag meldet, daß ein oder mehrere Kinder überfahren wurden. In Wien werden Kinderschutz- und Rettungsgesellschaften gegründet, die die zum Glück doch vereinzelten Kinder retten, die unter der Zucht entmenschter Eltern zu leiden haben – die einfachsten Schutzvorkehrungen aber für die vielen tausend Proletarierkinder, die allen Gefahren der Straße ausgesetzt sind, unterläßt die Gemeinde zu treffen. Das Pariser Beispiel ist geradezu mustergiltig, wie man es machen muß, wenn man die Kinder der Armen vor den schlimmsten Gefahren der Straße bewahren will.
In Wien werden für jeden solchen Unfall die armen Eltern verantwortlich gemacht, die, zumeist zum Erwerb außer Haus gezwungen, keine Möglichkeit haben, die Kinder zu beaufsichtigen. Sie sind gezwungen, sie entweder in die engen Proletarierwohnungen zu sperren und sie dort unbeaufsichtigt gleich schlimmen Gefahren auszusetzen – man denke nur an das bei allen Kindern so beliebte Zündeln – oder aber sie der Straße zu überlassen. Kinderspielplätze kennt ja Wien nicht. Nur einige Bezirke sind so glücklich, leicht erreichbare Kinderspielplätze zu haben. Die Kinder der Landstraße und Leopoldstadt haben den Prater und eine Reihe von Gärten, ebenso die der Inneren Stadt und der Wieden. Die von Hietzing, Meidling und Rudolfsheim haben Schönbrunn. Der Arbeiterbezirk Margarethen aber, der von den besten Männern unserer Zeit – Strobach und Lueger – im Gemeinderath und Reichsrath vertreten ist, entbehrt jedes Parks, und nur wie zur Ironie steht in der Reinprechtsdorferstraße zwischen zwei noch nicht verbauten, steinbesäten schattenlosen Mulden eine Tafel, auf der zum Erstaunen aller gelesen werden kann: Kinderspielplatz. Solche Scherbenwiesen oder «Stanerwiesen», wie sie der Volksmund nennt, hat Wien mehrere; schattige und für die Kinder gefahrlose Spielplätze hat Wien außer den natürlichen – Prater und die wenigen alten Gärten – so gut wie keine. Einstens waren doch noch die Linienwallgründe da, heute ist dort nach Lueger ein Steinhaufen, auf den der Herr freilich nunmehr sehr stolz ist.
Ist aber wo in Wien ein grünes Fleckchen, so steht gewiß bei jedem Grashalm ein Wachmann und weiß es dank seiner Autorität stets zu verhindern, daß sich einer auf dem zur Ruhe einladenden Plätzchen niederlasse, dort seine Mahlzeit halte, dort seine Kinder spielen lasse. Im heurigen Frühjahr wurde im Prater eine Frau arretirt, weil ihr Enkelkind auf einer an die Hauptallee grenzenden Wiese einige Frühlingsblüten pflückte und zum Sträußchen wand. Der Berittene, der die Arretirung aussprach, war der Meinung, die Kleine eröffne auf der Bank einen – unbefugten Blumenhandel. So vernichtet kleinlicher Polizeigeist die unschuldigsten Kinderfreuden. Wer in Paris an einem Montag durch Bois de Boulogne kommt, den weitläufigen Park, der nahe ans Herz der Stadt heranreicht, den Park, in dessen breiten Fahralleen Tag für Tag das eleganteste Paris spazieren fährt oder reitet, der wird einer Schaar von Lumpensammlern begegnen, die mit einem kurzen Spieß bewehrt, alle Wurst- und Käsepapiere aufheben, die sie im Gehölze finden.
Bei uns müßte sich – nebenher gesagt – der Lumpensammler um jedes einzelne Papier bücken. Nur ein schmaler Streifen gepflegter frischgrüner Wiese liegt zwischen dem Gehölz und der Allee. Das Gehölz selbst gehört dem Volk zur Erholung für seine Sonntagnachmittage. In Wien sind solche Gelage in der Nähe der Hauptallee nur bei den berühmten Metternichschen Festen gestattet. In Paris sind die Wiesen im Bois abgetreten. Was schadet’s? Das Bois ist darum nicht weniger reizend und es diente nicht nur reinem Schönheitszweck, sondern dem Volke zur Erholung.
Gewinnen wir einmal einen Blick von der Höhe.
Wir sind in Wien auf dem Stefansthurm. Vor uns das starre steinerne Meer – dahinter gleich einem grünen Kranz Wiens herrliche Umgebung, der Wienerwald, der Prater, die Donau, der Bisamberg – alle die reizenden Punkte, die der städtische Bodenwucher noch nicht sich angeeignet hat. In Paris besteigen wir das 300 Meter hohe Konstruktionswunder, den Eiffelthurm. Vier Aufzüge haben uns immer höher und höher gebracht, jetzt sind wir am höchsten Plateau. Tief unter uns liegt die Stadt, die sich schier unendlich dehnt: uns zu Füßen die Seine mit ihrem lebhaften Dampferverkehr und dahinter zum Greifen nahe, das Bois mit seinen zwei Teichen, die breiten Straßen, Platanenkronen ragen an die Dächer heran, überall ist das häßliche Steingrau von frischem Grün durchbrochen. Und darin kriechen Ameisen – Menschen! Wohin das Auge blickt, grün ist überall die Farbe der Dekoration. Das rauchschwarze, staubgraue Wien – das grüne Paris! So stellt es sich dar. Wir werden in einem weiteren Artikel noch mehr Ursachen kennen lernen, warum es so ist und sein muß.
II: Arbeiter-Zeitung Nr. 192 vom 15. 7. 1900
Der richtige Oesterreicher muß in Paris unbedingt gemüthskrank werden. Er wird auf Schritt und Tritt einer Respekt-, ja Zuchtlosigkeit begegnen, die dem an den Polizeistaat Gewöhnten ganz unbegreiflich erscheinen muß. Ich denke jetzt nicht etwa an die Verkäufer und Verkäuferinnen jener Photographien, die in dem keuschen Oesterreich nur in den Archiven der Landesgerichte einzusehen sind, die in Paris aber ganz öffentlich mit dem Aufwand aller Stimmmittel auf den Boulevards feilgeboten werden, ich denke nicht an jenen Mann, der auf dem Boulevard des Italiens das Trottoir eines der vornehmsten Cafés betritt, und von Tisch zu Tisch gehend – eine intime Szene aus dem Boudoir einer Cocotte – hübsch in Terrakotta ausgeführt – feilbietet und dabei – verzeihen Sie, Herr Bobies – den dargestellten Gegenstand mit aller Deutlichkeit bezeichnet, ich denke nicht an die Mutoskopsalons von Paris, in denen nicht die Segenspendung durch den Papst zu sehen ist, sondern wieder nur Bilderserien, die bei uns glücklichen Oesterreichern in den Bereich des § 516 fallen – ich denke an so viele andere Zügellosigkeiten der Pariser Fremdenindustrie schon deshalb nicht, weil ich – zu meinem großen Schmerz – die Beobachtung gemacht habe, daß die Oesterreicher gar nicht so polizeifromm sind, wenn sie nur den Staatsanwalt ferne wissen. Alle diese Dinge und noch vieles Andere, so die grelle Beleuchtung sehr vieler Hausthornummern zur Nachtzeit – womit eigentlich den «Liebe»girrenden ein wegweisendes Licht aufgesteckt wird – alle diese Dinge, wie gesagt, lassen sich die Oesterreicher in Paris gefallen, und was die öffentliche Begünstigung der Bordellwirthschaft anlangt, so sprechen wir nur ein öffentliches Geheimniß aus, wenn wir sagen, daß bedauerlicherweise diese Reform zunächst die einzige sein wird, die die Wiener Polizei auch bei uns einführen wird. Aber es gibt Anderes, viel Schlimmeres, was das schwarz-gelbe Blut in Wallung bringen muß.
Da kommt plötzlich ein Tramwaywaggon dahergerast durch irgendeine Avenue – die inneren Boulevards sind aus ästhetischen und Verkehrsrücksichten davor bewahrt geblieben, in Eisenschienen gelegt zu werden – und tutet ganz erbärmlich. Der Kutscher tritt auf seinem hohen Dachsitz einen Gummiballon, worauf der Warnungslaut dumpf und kurz durch die Straße tönt. Wir vermissen das liebliche schrille Pfeiferl, das man in Wien den ganzen Tag über hören kann, und sehen unwillkürlich nach dem Munde des Kutschers. Er hat kein Pfeiferl drin stecken, wohl aber eine Pfeife, aus der er während der Fahrt gemüthlich schmaucht. Das ist doch unerhört? Respektlos gegen die Fahrgäste, die die Innen- und die Dachsitze besetzt haben? Respektlos! Zuchtlos! Schon ruft der gelernte Oesterreicher in uns nach der Polizei, daß sie einen solchen Unfug auf Grund einer berühmten Verordnung aus dem Jahr 1854 verbiete – aber wir besinnen uns noch zur rechten Zeit. Wir gedenken eines Vorfalls, dessen Zeugen wir vor nicht allzu langer Zeit waren. Es war in Wien. Spät Abends – nach 10 Uhr – führte uns der Weg noch zur Nordwestbahn. Ein Mariahilfer Tramway-Omnibus nahm uns auf dem Sitz neben dem Kutscher auf. Verschlafen hielt der junge Kutscher das Leitseil in der Hand – die Pferde trotteten den gewohnten Weg in gewohnter Schnelligkeit dahin. Am Stefansplatz beorderte der Expeditor den Wagen noch zur Venedig-Tour, das heißt er mußte von der Nordwestbahn noch in den Prater fahren, dort bis 2 Uhr warten und konnte dann erst nach Rudolfsheim zurückfahren. Der Kutscher hatte die Nacht vorher aus «Dienstesrücksichten» nur zwei Stunden schlafen dürfen, und nun stand ihm das gleiche Schicksal bevor. Er schreckte aus seiner Schlaftrunkenheit auf, griff mechanisch in den Sack und entnahm einer Blechtabatiere eine Zigarette. Er besah sie eine Weile, rollte sie zwischen den flachen Händen, vergewisserte sich, ob er Zündhölzchen hatte, und – steckte die Zigarette hinters Ohr, um bis zur Nordwestbahn weiter zu nicken. Rauchen durfte er nicht, trotzdem es gar nicht genirt hätte, und als ich ihn fragte, ob er rauchen wolle, meinte er zustimmend: «...da thät’ i mir do den Schlaf a bißl vertreiben.» Im Interesse der Verkehrssicherheit wäre es in diesem einzelnen Falle also sogar sehr gut gewesen, wenn der Kutscher hätte rauchen können. Die Passagiere wären nicht ganz dem Instinkt der Pferde ausgeliefert gewesen. In den menschen- und fuhrwerksleeren Straße ist zwar kein Unglück geschehen, es hätte aber leicht der Fall sein können. Die Verantwortung hätte dann natürlich nicht die Ausbeutergesellschaft getroffen, die ihr Fahrpersonal zu sechzehn- und siebzehnstündigem Dienst zwingt, sondern den Kutscher, der aus Uebermüdung nickte und seine Schlaftrunkenheit nicht durch das Rauchen einer Zigarette bekämpfen durfte. Das Rauchverbot für Kutscher ist in Wien Polizeivorschrift. In Paris hat sich die Polizei um andere Dinge zu kümmern.
Dort ist es – weil wir schon bei dem Omnibusfuhrwerk sind – zum Beispiel Polizeivorschrift, daß auch die Kondukteure dieser Vehikel während der Fahrt eine Sitzgelegenheit haben. Bei uns sind die Omnibus- und Tramwaykondukteure – aus Respekt gegen die Fahrgäste – verhalten, alle Fahrten stehend mitzumachen. Ausgenommen sind davon nur jene wenigen Glücklichen, die noch mit den alten ausrangirten Stellwagen fahren, die beim rückwärtigen Coupé seitlich eine erhöhte Stufe haben, die auch als Sitz gilt. In Paris gehört zu dem Inventar der meisten Wagen ein Feldsessel, den der Kondukteur aufklappt, so oft er einige Minuten der Ruhe hat. Wir sehen darin vernünftigen Arbeiterschutz.
Das Kapitel Tramwayüberfüllung ist in Paris unbekannt. Denken wir uns in die Zeit der letzten Wiener Ausstellung, der Jubiläumsausstellung, zurück, bei der doch schon einigermaßen für die Beförderung von Massen vorgesorgt war, und erinnern wir uns dabei der Stürme, die es Sonntag für Sonntag, ja Tag für Tag auf die Tramwaywaggons gab. Wie viel Schirme und Stöcke wurden in diesem täglichen Gedränge zerbrochen, wie viel Hüte eingedrückt, Kleider zerrissen, Kinder und Frauen verletzt, wie viel Uhren wurden abgezwickt und wie viel Geldbörsen gezogen! Der Skandal war in Permanenz und ist es heute noch immer an allen frequenten Punkten. Anstürme auf die Tramway kann man täglich erleben. Stellen wir uns dagegen in Paris zum Pont de Alma, wo eines der Hauptthore der Ausstellung ist, und beobachten wir, wie sich hier der Verkehr nach Schluß der Ausstellung, wo hunderte den Thoren entströmen, abwickelt. Wir hören nicht quitschen, schreien, fluchen, wir sehen keine brutalen Szenen und doch wird alles befördert. Wohl sind auch andere Verkehrsmittel da. Stellwagen nach mehreren Routen haben hier Halteplätze, eine Pferdebahn führt vorüber, die oft mit vier und fünf Waggons fahrenden Züge der mit komprimirter Luft getriebenen Straßenbahn Versailles-Louvre hält hier, und auch die Metropolitain, die Pariser Untergrundbahn, die in elegant ausgestatteten elektrischen Zügen bald die ganze Stadt unterfahren wird, um in Vincennes ihr Ende zu finden, hat hier einen unterirdischen Bahnhof. Theilstrecken werden schon befahren. Außerdem stehen in langer Reihe Einspänner und Automobils bereit. Ein Stellwagen ist angekommen. Nun kann der Sturm losgehen. Thatsächlich wird auch der Wagen von etwa hundert Menschen umringt. Aber kein Gedränge. Der Kondukteur ruft, auf der rückwärtigen Platform stehend, Nummern aus. 451 ... 452 ... 453 ... 454 ... so oft er eine Nummer aufruft, löst sich aus dem Gewirre der Leiber eine Hand, die ein kleines Kärtchen in die Höhe hält. Die anderen Wartenden machen Platz, und der Kartenbesitzer steigt ein. Er übergibt dem Kondukteur das Kärtchen. Darauf ist die eben gerufene Nummer geschrieben. Der Kondukteur weist ihm den Sitz an, nach Belieben des Passagiers und nach Maßgabe der vorhandenen Plätze entweder im Innern des Wagens oder auf dem Dache. Eine Handbewegung genügt zur Verständigung. Der Wagen ist voll. Schon wird der nächste Wagen umringt. Wieder dasselbe Schauspiel. Woher nehmen die Leute die Karten, durch die das Einsteigen so schön geregelt wird, durch die es unmöglich wird, daß die Rücksichtslosen und Brutalen zuerst und oft allein befördert werden? Auch darüber erhalten wir Aufschluß. Es ist eine Expeditionshütte am Platze, darin ein Schalter, vor diesem ein Queue, den jeder passiren muß, wenn er sich auf einen Stellwagen- oder Tramwayplatz vormerken will. Auch hier ist kein Gedränge. Jeder nennt das Ziel seiner Fahrt und erhält die entsprechende Nummer, die ihm dann seinen Platz sichert, den er erst im Wagen bezahlt.
Bei direkten Fahrten bekommt er kein Billet, «das er bis zum Schluß der Fahrt aufzubewahren und auf Verlangen dem Kontrolor vorzuweisen hat». Man zahlt den Dachsitz mit 15 Centimes, den gepolsterten Sitz im Innern des Wagens mit 30 Centimes. Die Kontrole wird automatisch besorgt. Der an jedem Wagen angebrachte Kontrolapparat wird an den Stationen und Umsteigeplätzen von einem Gesellschaftsbeamten abgelesen und geprüft. Die Fahrgäste werden nicht belästigt, und die Kontrolore wagen nicht ihre geraden Glieder daran, um ihren Dienst zu erfüllen. Die Sorge um das Billet wird den Passagieren nur im Umsteigverkehr aufgehalst.
Die Anlage von Kopfstationen im Pendelverkehr macht in Wien immer einige Schwierigkeiten, in Paris ist die Zahl solcher Endstationen mitten in der Stadt sehr groß, und wieder ist es eine sehr einfache Einrichtung, die das Umkehren der Tramwaywagen sehr leicht macht. In Paris wird nicht erst umgespannt, sondern es sind an solchen Pendelstationen Drehscheiben angebracht, die es ermöglichen, daß der Wagen in wenigen Sekunden in die andere Richtung gebracht wird. Die Pferde drehen ihn auf der Scheibe in die neue Richtung.
So sehen wir in Paris beim Massenfuhrwerk eine Anzahl von einfachen Einrichtungen, die den Verkehr sicher regeln, Kutscher und Kondukteure, Fahrgäste und Fußgänger schützen und vor allem eine rasche Beförderung möglich machen. Die Wiener sollen es nachmachen, wenn sie es treffen!
III: Arbeiter-Zeitung Nr. 199 vom 22. 7. 1900
Wer die ersten beiden Schilderungen über den Pariser Straßenverkehr gelesen hat, den muß gelindes Gruseln überkommen, wenn er sich vergegenwärtigt, wie sehr die Gesundheit der Menschen unter einem solchen Riesenverkehr leiden muß. Zehnmal stärkerer Verkehr muß auch zehnmal mehr Staub und zehnmal mehr Lärm erzeugen, und das muß sich den armen Menschen auf Lungen und Nerven legen und ihnen den Aufenthalt in der gepriesenen Stadt verleiden. Fällt so einem Grübler nur die Favoritenstraße ein mit ihrem für Wien starken Verkehr, so muß sich das Gruseln in Schrecken verwandeln. Alle bösen Geister sind los. Ein mit Eisenstangen beladener Wagen wird von zwei starken Pinzgauern das «Bergerl» hinaufgezogen. Das Poltern der schweren Räder auf dem holprigen Pflaster mischt sich in das ohrenbetäubende Aneinanderschlagen der Eisenstangen, die natürlich ohne Strohunterlage auf den Wagen gebettet sind und überdies noch über den rückwärtigen Wagenrand hinausragen, damit die Stangen auch hier, durch das Gerumpel des Wagens in Schwingungen versetzt, aneinanderschlagen können. Natürlich fährt der Wagen zum Theil auf dem Tramwaygeleise. Schwer keuchen die Pferde die steile Straße hinan. Da nähert sich mit Pferdegetrab und Glockengeklingel ein Tramwaywagen, dessen liebliches, durch die ewige Erschütterung hervorgerufenes Fensterklirren Teufel rasend machen könnte – während wir glücklichen Wiener uns an diese Musik bereits gewöhnt haben. Der Lastwagenkutscher, der neben dem Handpferd schreitend, schlaftrunken dahintrollt, hört das Geklingel natürlich nicht. Sein eigener Wagen macht Lärm genug. Nun geht das Pfeifen los. Der Tramwayvorreiter pfeift und der Kutscher pfeift. Mit Peitschenschnalzen treiben sie die Pferde an. Ein Stellwagen, der die voraussichtliche Stauung sich zunutze machen will, verläßt das Tramwaygeleise, das er bisher benützt, und rüttelt die Fahrgäste mit jähem Ruck auf die holprige Straße, um der Tramway rechts vorzufahren. Fluchen und Peitschenknallen sind die begleitenden Stimmen zu dieser neuerlichen Orchesterverstärkung. Gleich darauf rast ein Gummiradler, alle überflügelnd, den Berg hinauf. Man hört nur das regelmäßige Trab-Trab der Pferdehufe. Von oben her kommen ein Post- ein Brot- und ein Stellwagen, die eine kleine Wettfahrt arrangiren. Kommt Einer ins Gedränge, dann beschimpft er die anderen. Der vierte, der mit ihnen wettläuft, überflügelt alle und macht sie einen Augenblick verstummen. Er nennt sich Wind und treibt die häßlichste Wienerin, die Frau Staubwolke, vor sich her, bei deren Nahen jeder seine Augen schließt, um sich dann die Sand- und Staubkörner aus dem Gesicht zu reiben. Innerlich befriedigt, sitzt nur der Automobilist auf seinem Vierradler und nimmt leicht und elegant die ansteigende Straße. Er tutet nur von Zeit zu Zeit. Seine schwarze Staubbrille und seine lederne Tourenjoppe schützen ihn vor der Unbill des Windes, und daß sein Automobil bei jedem Kolbenstoß einen Lärm hervorbringt, als würde eine Schaufel Sand auf die Erde geworfen, empfindet der Mann nicht. Seine Nerven haben sich diesem Geräusch schon angepaßt, und den Gestank des ausgestoßenen Dampfes zu genießen überläßt er auch denen, die hinter ihm kommen. Dazu gehört der Radfahrer, der entsetzlich klingelt, weil er sich einer Straßenkreuzung naht. Wir haben nun annähernd ein Tonbild des Wiener Straßenverkehrs gewonnen. Das Knarren, Knacken, Rumpeln und Poltern der Räder, das Aneinanderschlagen der Eisenstangen, das Getrappel und schwere Niedersetzen der Pferdehufe, das Klingeln der Tramwayglocken, das Klirren ihrer Scheiben, das Pfeifen, Fluchen und Peitschenknallen der Kutscher und Vorreiter, das Tuten und Sandwerfen der Automobilisten und endlich das schrill ängstliche Geklingel des Radfahrers – das gibt ein Höllenkonzert, das auf der Favoritenstraße leider normal ist. Es fehlt nur noch, daß irgendwo in Favoriten ein Brand wüthet und die Feuerwehr mit ihren schweren Wagen und Pferden und Trompetensignalen den Berg hinaufrast, daß ein Trainregiment in die dort gelegene Kaserne von einer Uebung heimkehrend sammt Bagage einzieht oder daß der schrille rollende Pfiff des Rettungswagens den flinken Pferden Raum schafft, damit sie das Wiedener Spital rasch erreichen. Und nun hört man: Das ist alles nichts, in Paris ist der Verkehr ein zehnmal so großer. Muß da nicht jeden Schrecken erfassen? Gewiß jeden, der nicht die Vorbeugungsmittel gegen den Straßenlärm und Straßenstaub kennt, die man in Paris anwendet. Sie sind die einfachsten der Welt: Geräuschloses Pflaster – unbeschlagene oder mit Kautschukhufen versehene Pferde – einige vernünftige Polizeivorschriften gegen den Straßenlärm und endlich eine gewissenhafte Reinigung – das heißt Waschung und fleißige Bespritzung der Straßen. Diese Pariser sind doch eigenthümliche Leute: Sie treffen die einfachsten Dinge.
Geräuschloses Pflaster! Wir treffen es in ganz Paris in allen Hauptverkehrsstraßen und in den meisten Nebenstraßen, und zwar ist Asphalt und Holzstöckelpflaster angewendet. Auf der Wiener Favoritenstraße ist nur ein ganz kleines Stück mir diesem nervenschonenden Pflaster versehen – das Stück, das vor dem Bezirksgericht und dem daran anstoßenden erzherzoglichen Palais liegt. Man scheint also auch in Wien den Segen des geräuschlosen Pflasters zu kennen. Aber die gewöhnlich Sterblichen – zum Beispiel die in derselben Straße in dem Krankenhaus Wieden gebetteten Proletarier – haben von diesem Segen nichts.
Unbeschlagene Pferde! Das kennt man in Wien überhaupt nicht und kann es nicht kennen, weil das Wiener Pflaster Eisenbeschlagung erfordert. Die armen Thiere wären den schlimmsten Qualen und raschester Abnützung ausgesetzt. So muß auch hier die böse That fortzeugend Böses nur gebären. Das lärm- und stauberzeugende Granitwürfelpflaster, das zum guten Theil die «Wiener Krankheit» auf dem Gewissen hat, muß die lärm- und stauberzeugende Eisenbeschlagung der Pferde nach sich ziehen. Horn oder Kautschuk könnten nie den harten Granit absplittern, mit Eisenhufen geht die Stauberzeugung wie von selbst.
Einige vernünftige Polizeivorschriften! In Paris darf das Stroh nicht in den Köpfen bleiben, sondern es muß zum Beispiel zwischen die Eisenstangen gebettet werden, die auf hohen Zweiradlern verführt werden. Das Lastfuhrwerk in Paris und seine Bespannung sind überhaupt recht eigenthümlich. Man sieht fast ausschließlich riesige Zweiradler mit meterhohen Seitenwänden. Die Räder gehen oft bis zum oberen Rand der Wände. Das vorgespannte Pferd läuft in zwei Stangen. Ist die Last für ein Pferd zu schwer, dann werden je nachdem ein, zwei, drei, ja auch fünf Pferde vorgespannt, und zwar nicht etwa paarweise, sondern eins vor das andere. Es ist gar nichts Seltenes, daß man solchen langen Zügen begegnet. Der Kutscher geht dann beim Kopf des Wagenpferdes und lenkt von hier aus sicher alle Vorspannpferde, die ruhig und mühelos die auf so viel Kräfte vertheilte Last ziehen. Pferdeschindereien, wie man sie in Wien täglich erleben kann, sind in Paris äußerst selten zu beobachten. Die Fürsorge für die braven Vierfüßler geht soweit, daß viele Pferde breitkrämpige, spitz aufgebaute Strohhüte tragen. So sind die Pferde wirksam gegen die sengende Pariser Sonne geschützt.
Das Kapitel Stauberzeugung und Straßenreinigung ist ebenso lehrreich für uns Wiener. In Paris ist nicht nur das stauberzeugende Pflaster vermieden, sondern man nützt auch das Wasser entsprechend, um Stauberzeugung hintanzuhalten. Kommt man bei uns in Wien durch Straßen, wo Bauten aufgeführt werden, so verschlägt Einem auch leichter Wind den Athem, denn er trägt Bausand, Ziegeltheilchen, Holzfasern, Kalkstaub und sonst noch manches mit sich. Eine entsprechende Bespritzung der Plätze vor den Bauten würde diese Staubreservoirs unschädlich machen. In Paris ist man so weit, in Wien besteht wohl auch die Vorschrift, aber die Indolenz der Bevölkerung und die Sparwuth der Unternehmer kümmern sich um die lästige Vorschrift nicht.
Die Art der Wiener Mistverführung hat auch ihren Antheil an der Verstaubung Wiens. Wer je bei der Floridsdorfer Brücke zu thun hatte, wird sich mit Schrecken der täglichen Mistwagenkolonnen erinnern, die von der Stadt her über die Brücke nach Donaufeld ziehen und dort den Mist auf freiem Feld zu Bergen thürmen, die wiederholt als Infektionsherde erkannt, dennoch geduldet werden. Paris verführt seinen vorher gründlich durchnäßten Mist mit Eisenbahnzügen auf das flache Land. Die Abfälle vom Tisch der Großstadt sind den ländlichen Bewohnern willkommene Gaben für die Düngergrube. Auch bei uns ist einmal das Projekt aufgetaucht, mit dem Wiener Mist das Marchfeld zu beglücken, und zwar sollte die Dampftramway Wien – Großenzersdorf die Verführung des Mistes besorgen, aber das Projekt scheiterte an dem kleinlichen Geist, der Wiens Verwaltung von je ausgezeichnet hat. Wie die Misteinsammlung in Paris besorgt wird, hatte ich nicht Gelegenheit zu beobachten. Aber auch das ist ein Zeichen. Ich ging und fuhr eine Woche lang mit offenen Augen durch Paris und sah keinen Mistwagen, wohl aber sah ich auf der Versailler Bahn einen Mistzug. Preisfrage: Wie viele Mistwagen würde ein Fremder, den gleiche Interessen nach Wien führen, in einer Woche hier finden? In Paris ist die Misteinsammlung also so geregelt, daß man davon nicht belästigt wird, daß man von ihr nichts merkt.
Wir kommen nun zu der größten Wiener Staubquelle, zu dem aufgegrabenen Wien. In Paris ist dieser Tage eine 16 Kilometer lange Theilstrecke der Metropolitain, der Untergrundbahn, dem Verkehr übergeben worden. Von dem Bau, der 15 Monate währte, merkte Paris nichts. Nur in einigen Morgenstunden wurde durch hiefür bestimmte Schächte das unten gewonnene Material zu Tage gefördert. Man vergleiche damit, wie Wien unter dem Bau der Donaukanallinie leidet, wie nun schon seit einem Jahre der wichtige Verkehrsplatz vor der Aspernbrücke Stück für Stück mit Brettern umnagelt ist, welche Kalamitäten im Verkehr bei der Ferdinands-, Augarten- und Brigittabrücke zu überwinden waren und heute noch mitgenommen werden müssen! Was hat die Lösung der Wiener Gasfrage seit Jahren für Unannehmlichkeiten im Gefolge gehabt? Das unterirdische Paris ist eine Welt für sich – schiffbare Kanäle vereinigen alle nöthigen Rohr- und Kabelleitungen, und jede Aenderung vollzieht sich im Verborgenen, ohne die Oberwelt zu belästigen -, das unterirdische Wien aber kann ohne arge Belästigung des hellen Tages nicht wachsen, sich nicht fortentwickeln. Immer und ewig aufgerissene Straßen und als Begleiterscheinung der mörderische Staub.
Wie er in Wien bekämpft wird, wissen wir. Der berühmte Spritzenschlauchschleuderer ist noch immer nicht durch die automatisch funktionirende Brause verdrängt, und auch die Ringstraßenbespritzung mit aufrollbaren, 100 Meter langen Schläuchen, zu deren Bedienung drei Mann erforderlich sind, muß der als unpraktisch erkennen, der die Pariser Einrichtung kennt. Hier wird auch mit fahrbaren Schläuchen gespritzt, aber die Schläuche sind nur etwa 6, 8 Meter lang und können ohne Behinderung des Straßenverkehrs leicht von einem Mann dirigirt werden, da sie auf zwei bis drei Räderpaaren, ähnlich den Rollschuhen, aufsitzen. Der Pariser Spritzenmann kann zwar nicht von einem Hydranten aus eine so große Fläche bestreichen, aber er ist dafür beweglich, und die genügende Anzahl von Hydranten macht die Absperrung der Straßen durch Schläuche überflüssig. Dazu hat jeder Spritzenmann einen verhältnismäßig kleinen Rayon. So kommt es dann, daß man in Paris fast nie ein so sonndurchhitztes Pflaster findet wie in Wien, dadurch wird aber auch der Staubansammlung wirksamer entgegengearbeitet als bei uns.
Die eigentliche Reinigung der Straßen wird in Paris bei Nacht besorgt. Die Trottoirs sind unterhöhlt, und unter ihnen fluthet das Wasser hervor, das eine gründliche Ueberspülung und Waschung der Straßen möglich macht. In dem Rinnsal läuft auch tagsüber immer ein Wässerlein, das den Staub entführt. Auch in Wien kennt man diese praktische und nothwendige Einrichtung, aber sie ist nur bei dem Omnibusstandplatz am Stefansplatz angewendet. Den Wienern ist diese hygienische Vorkehrung offenbar nicht wichtig genug. Die Wiener verstehen es doch auch nicht, für andere Bedürfnisse entsprechend vorzusorgen.
In einer Stadt mit großem Straßenverkehr müssen auch genügend viele Öffentliche Bedürfnißanstalten sein. Auch in dieser Beziehung ist Paris mustergiltig. Während auf der Mariahilferstraße in Wien von der Babenbergerstraße bis zur Rudolfsheimer Remise sammt der abseits im Esterhazypark placirten Anstalt im ganzen drei öffentliche Anstalten sind, sind auf ähnlichen Geschäftsstraßen in Paris, zum Beispiel auf den inneren Boulevards, aber auch in allen Avenuen und in allen breiten Straßen von hundert zu hundert Schritt solche Anstalten errichtet, die allerdings immer nur drei Plätze haben. Sie nehmen fast gar keinen Raum ein, sind diskret gebaut und lassen in ihrem Innern die berühmte Mahnung vermissen, «daß die Kleider noch vor dem Verlassen des Pissoirs zu schließen sind». Selbstverständliche Dinge verordnet nicht die Pariser Polizei oder Stadtverwaltung. Dagegen sind hier – wohin sie auch gehören – die gewissen Inserate der «Neuen Freien Presse» und des «Neuen Wiener Tagblattes» groß plakatirt. Die Wiener Aerztekammer würde es zwar – ob mit Recht oder Unrecht, wollen wir hier nicht untersuchen – als nicht standesgemäß erklären, wenn ein Arzt für «geheime Krankheiten» in den Pissoirs Blechplakate anschlagen lassen würde, des Inhalts zum Beispiel, daß im Cabinet Medical Rivoli, geleitet von einem Spezialisten der Fakultät, 67, Rue de Rivoli, eine rationelle Behandlung der Maladies Secrètes zu finden ist, daß die Konsultation 2 Francs kostet, und daß er dann zum schönen Schluß alle Krankheiten namentlich anführt, die er zu heilen im Stande ist – aber Thatsache ist, daß sich die Pariser Aerzte nicht darum scheren. Sie freuen sich eher ihrer geschmackvollen Kollegen, die die Reklame am richtigen Ort anzubringen wissen, während in Wien mit diesem richtigen Ort die Annoncespalten der bürgerlichen Presse verwechselt werden. Für die Bedürfnisse der Frauen ist in Paris ebensowenig öffentlich und unengeltlich vorgesorgt wie in Wien. Diese eigentlich natürliche Vorsorge werden sich erst die Frauen erwirken müssen, wenn sie einmal im Pariser und Wiener Gemeinderath sitzen. So hat auch Paris seine Mängel, deren schlimmster freilich der eben gerügte lange noch nicht ist.
IV: Arbeiter-Zeitung Nr. 206 vom 29. 7. 1900
Dem staub- und lärmfreien Paris haben unsere letzten Zeilen gegolten, das heißt wir haben die Wiener Staub- und Lärmquellen mit denen von Paris verglichen, und der Vergleich fiel sehr zu Ungunsten des holprig gepflasterten, ewig aufgegrabenen, schlecht bespritzten, nie gewaschenen, gartenarmen und staubreichen Wien aus. Dem Staub ist Paris gründlich zu Leibe gegangen und hat ihm fast alle Quellen verstopft, ebenso dem Rauch. Anders in Wien. Wer zum Beispiel an der Wiener Gürtelbahn wohnt, oder wer das Unglück hat, täglich die Stadtbahn benützen zu müssen, der kennt die eine Seite der Wiener Rauchplage, die weniger schlimme allerdings, weil die Stadtbahn ja doch Rauchverzehrapparate verwendet, wenn auch ungenügende. Wer aber in einem fabrikenreichen Vorort Wiens wohnt, zum Beispiel in Ottakring oder in der Brigittenau, der wird über die Wiener Luftverpestung schier verzweifeln. Unsere Lungen haben sich freilich schon daran gewöhnt. Aber wenn wir nur einen Tag – namentlich während der Woche – einmal im Grünen außerhalb der Stadt, irgendwo im Wienerwald oder in der weiteren Umgebung Wiens zugebracht haben, so empfinden wir bei unserer Rückkehr sehr deutlich die schlechte Luft. Eine schwere, dicke, rauch- und staubgeschwängerte Atmosphäre lagert über der Stadt. Die Luft ist zum schneiden, sagt dann der Wiener. Es gibt uns einen förmlichen Rückschlag, und nun empfinden wir es erst, wie elend die Wiener Luft ist. Dem Auge wird diese Pestluft nur aus größerer Entfernung wahrnehmbar. Ich suche zwar die Gelegenheit, an Sommermorgen den Wiener Dunstkessel von der Ferne zu sehen. Während draußen klarer, tiefblauer Himmel sich über der im Sonnenglanz des jungen Morgens lachenden Welt aufbaut, lagert über Wien eine Dunstwolke, undefinirbar blau-grau, undurchdringlich für den Blick. Es scheint von fern, zum Beispiel von der Elisabethhöhe des Bisamberges aus, als würde der ober uns blaue Aether sich über Wien mit dem Dunst verschmelzen. Das ist die Wirkung der Wiener Rauchplage. Ueber Paris lagert am Morgen ja auch Dunst, der Dunst der Großstadt, aber eine förmliche Dunstdecke ist in Paris unbekannt. Die Wiener Morgensonne strahlt nun wie durch einen dicken Schleier nieder – die Pariser ist hell und gar oft allzu freundlich. Das ist die Wirkung einiger vernünftiger Maßregeln der Pariser Gesundheitspolizei. In Wien hat den Herren im Rathaus die Rauchplage noch nicht zu denken gegeben. Das ist auch ein Unterschied zwischen Wien und Paris. In Wien kann jeder nur dann sein Leben riskiren, wenn ihm kein Wachmann zusieht – in Paris ist jeder Herr seines Lebens und eigener Hüter seiner geraden Glieder; er darf zum Beispiel von der Tramway, auch von der Dampftramway, abspringen, wenn er es trifft. Die Pariser Fischer dürfen in höchst gefährlichen Stellungen die Brückenpfeiler belagern, sie dürfen, um ihrer Fischereileidenschaft fröhnen zu können, die waghalsigsten Stellungen einnehmen, kein Sergeant de ville wird sie daran hindern, während in Wien solche Waghälse «aufgeschrieben» und vertrieben würden. In Wien wird die Volksgesundheit durch Staub und Rauch vergiftet, während Paris diese Vorsorge für die Gesammtheit in umfangreichster Weise getroffen hat. Es bedarf wohl keiner speziellen Entscheidung, welcher Schutz für den Staatsbürger der vernünftigere, bessere, wirkungsvollere ist.
Der Lärm in den Pariser Straßen ist ganz eigener Art. Aus einem gedämpften Grundton, der durch das Rollen der Räder auf dem glatten Pflaster und durch das fast lautlose Aufsetzen der Pferdehufe hervorgerufen wird, lösen sich fortwährend hellere Töne los: das verschiedentönige Tuten der Omnibuskutscher, Automobilisten und Radfahrer und das Schellengeklingel der Einspännerpferde. Um sich auf dem geräuschlosen Pflaster vernehmlich zu machen, haben die meisten Einspänner ihren Pferden Schellen um den Hals gehängt. Zu diesen Geräuschen gesellen sich noch die tausend Stimmen des Pariser Straßenhandels, der in einer Freiheit blüht, wie wir sie nicht kennen. Namentlich die Kolporteure der 142 Pariser Tagblätter und die Verschleißer der Boulevardwitze und Trics machen von ihren nicht immer schönen, aber stets ausgiebigen Stimmmitteln reichsten Gebrauch. Es gibt Stunden auf den großen Boulevards, wo man von dem Stimmendurcheinander ganz verwirrt wird. «La Präs!» «La Präs!» ruft hier einer das Journal «La Presse» aus. «L’ Concorde!», «L’ p’tit Republique!», «Le Matin!», «Le Temps!», «Figaro!», «L’ Aurore!», «Le journal de debattes!» schreien andere. Einer sucht den anderen durch Lungenkraft und Eilfertigkeit zu überbieten. Hier bietet einer den alten Boulevardspaß, die Nummer 1 des «Journal des Cocottes» aus, in dem die Pariser Lebedamen ihre zynischen Forderungen erheben, dort werden Schweinereien in Bild und anderer Darstellung, Produkte der Industrie, für keusche Fremde feilgeboten – kurz es ist ein Durcheinander von Stimmen, gezeigten und in die Welt geschrienen Anzüglichkeiten, offenen Unzweideutigkeiten – wie man es nur auf einem Pariser Boulevard erleben kann.
Durch das Wagengewirre schieben meist Frauen zweirädrige Karren, auf deren Platform sie schöne frische Kirschen zum Gupf gehäuft haben, oder die pikanten Trauben der Johannisbeeren, oder rothbackige Pfirsiche und Marillen. Andere bieten kleine Syphons, «Kracherln» mit Fruchtsäften an, und wieder andere fahren mit ambulanten Eiskästen herum, in denen sie Gefrorenes führen. Jeder dieser Geschäftsleute sucht sich auf besondere Art in Szene zu setzen, um den Ankauf seiner Waaren besonders empfehlenswerth erscheinen zu lassen. Thatsächlich ist auch alles frisch und gut und die Erfrischungen finden reißend Absatz. Das ist alles aufreizend appetitlich. Das Obst ist frisch und unverstaubt, als ob es eben erst vom Baum oder Strauch genommen worden wäre. Wer sich beim Anblick dieser Obstberge die fliegenumschwärmte Stellage vor einem Wiener Greißlergeschäft vorstellt und darauf die Körbe mit dem staubbedeckten Obst, den wird es doppelt reizen, von den hier so appetitlich dargebotenen Früchten zu naschen. Paris könnte ohne diesen Straßenhandel nicht existiren, es ist ohne ihn nicht denkbar - namentlich, daß überall Erfrischungen feilgeboten werden, die um ein, zwei Sous zu haben sind, ist für den Verkehr unerläßlich, ist mit eine Bedingung des lebhaften Treibens. Bei uns in Wien bereitet man jetzt einen Feldzug gegen die Hausirer mit Gefrorenem vor, die in hochsommerlicher Zeit willkommene Gäste sind, wohin sie kommen. Scheinheilig wird dieser Feldzug zwar damit begründet, daß diese Hausirer nicht reines Gefrorenes, sondern ein minderwerthiges Surrogat verkaufen, aber wenn man gleichzeitig hört, daß die Genossenschaft der Zuckerbäcker den Bezirksvertretungen, die sich diesem Kampf angeschlossen haben, den Dank ausspricht, so weiß man, wo der Hund begraben ist. Die Hausirer beeinträchtigen den Profit der Erbgesessenen, und darum sollen sie vom Schauplatz verschwinden. Wenn sie wirklich minderwerthige, gar schädliche Produkte verkaufen, dann trete das Marktamt in Aktion, aber man verbiete das Feilbieten von Erfrischungen nicht überhaupt. Nicht jeder ist so glücklich, wie die Auserwählten der Wiener Spießer, daß er das theure Gefrorene in der Konditorei oder im Kaffeehaus bezahlen kann.
Wir sind mit den Pariser Straßenbildern zu Ende und wir wollen nur noch die Sprache der Ziffern reden lassen. Mir stehen einige Daten aus den Jahren 1895 und 1896 zur Verfügung. Paris hat 43 verschiedene Omnibuslinien, die nach allen Richtungen die Stadt durchkreuzen und von denen ein Umsteigverkehr auf sämmtliche 60 Tramwaylinien gestattet ist. Befördert wurden auf diesen 185 Millionen Passagiere. Die Wiener Tramway- und Omnibusgesellschaften beförderten 1896 zirka 90 Millionen Menschen, das sind soviel, als in Paris die zirka 18.000 Droschken und die 32.000 Equipagen, die im Dienste des Publikums stehen, allein beförderten. Wien hat zur selben Zeit 973 Fiaker, 1521 Einspänner und 1091 Lohnkutscher, zusammen 3585. Rechnet man für diese, wenn man den Klagen der Lohnfuhrwerker glauben darf, je vier Passagiere täglich, so kommt eine Benützerzahl von 5,234.100 heraus. Nimmt man an, daß die vielbenützten Pariser Lohnfuhrwerke nur je fünf Personen täglich befördern, so kommt man schon auf eine Summe von 91,250.000 im Jahre. Freilich ist auch der Tarif kein so komplizirter wie in Wien. Der Pariser Droschkenkutscher führt im Wagen nicht einen dicken Band mit, der nahezu 13.000 Taxansätze enthält, sondern auf einem einfachen Blatt ist dargestellt, daß man innerhalb der Stadtwälle von 6 (Winter 7) Uhr Früh bis 12 Uhr 30 Minuten Nachts für eine Fahrt im Fiaker (sie sind alle einspännig) zu zwei Plätzen 1 Francs 50 Centimes, oder für die Stunde 2 Francs, zu vier Plätzen aber 2 Francs, respektive 2 Francs 50 Centimes zahlt. Die Nachttaxen betragen für eine Fahrt (zu zwei oder vier Plätzen) 2 Francs 25 Centimes oder 2 Francs 50 Centimes, für die Stunde 2 Francs 50 Centimes, respektive 2 Francs 75 Centimes. Ins Bois de Boulogne und in die angrenzenden Gemeinden außerhalb der Befestigungswerke zahlt man für die Stunde 2 Francs 50 Centimes zu zwei, 2 Francs 75 Centimes zu vier Plätzen. Dieser Zettel ist für den Einheimischen und Fremden gleich verständlich – der Streit mit dem Kutscher um die Taxe ist vermieden. Kein Mensch scheut sich, einen Wagen zu miethen, jeder weiß, daß er rasch und sicher befördert wird und zum Schluß keinen Streit hat. Die Kutscher sind höflich und zuvorkommend, förmliche Weltmänner gegen unsere Wiener Kutscher. Die Hauptsache für die Kutscher aber ist, daß sie dabei vollauf die Rechnung finden. Der Taxameter ist in Paris nicht zu sehen, er scheint dort auch überflüssig zu sein. Die einfache Taxe hat sich so eingelebt und sie regelt so sicher den Verkehr zwischen Kutscher und Fahrgast, daß der Taxameter nur als Kontrolapparat für die Unternehmer von Werth wäre. Da diese aber in dem Riesenverkehr vollauf ihre Rechnung finden, scheuen sie die hohe Ausgabe für die Kontrole.
Wir haben damit in großen Zügen ein Bild von dem Pariser Riesenverkehr gewonnen. In einem weiteren – voraussichtlich letzten Artikel – will ich noch ein Bild von dem Verkehr auf der Seine und auf Pariser Bahnhöfen entwerfen. Auch hier ist sehr viel zu sehen.
V: Arbeiter-Zeitung Nr. 213 vom 5. 8. 1900
Der Wiener, der nach Paris kommt, lernt ein für ihn völlig neues Verkehrsmittel kennen: Das Dampfschiff als Massenbeförderungsmittel innerhalb der Stadt. Die Seine bricht in trägem Lauf im Südosten von Paris, bei Charenton, in die Stadt ein. In großem Bogen schleicht sie durch die Stadt, die sie in der Südwestecke, knapp vor den Manöverfeldern von Issy, wieder verläßt. Sie berührt in ihrem Lauf mit dem rechten Ufer das XII., IV., I., VIII. und XVI. Arondissement, mit dem linken Ufer die Bezirke XIII, V, VI, VII, XV, im ganzen also zehn von den zwanzig Bezirken, in die Paris gleich Wien eingetheilt ist. Der Wiener Donaukanal berührt sieben Bezirke in seinem Lauf. Er könnte also, entsprechend ausgenützt und für die Ausnützung entsprechend tauglich gemacht, ebensogut der Träger von ungezählten kleinen Dampfern sein, wie es die Seine thatsächlich ist. Wie die Wiener wissen, sieht der Donaukanal aber außer dem täglichen Preßburger Schiff, außer dem Lokalschiff nach Krems und außer den paar Nußdorfer und Donaurundfahrtdampfern an Sonntagen nur zur Zeit der Wettrennen noch die Freudenauer Dampfer. In Ziffern gesprochen: Mit dem Donaukanalverkehr wurden 1895 nach beiden Richtungen 57.901 Personen befördert. Die Pariser Seinedampfer beförderten im selben Jahre 72 Millionen Passagire, das sind 1241 mal soviel, oder aber die Donaukanaldampfer sind nur ein zufälliges, meist zu Vergnügungsfahrten benütztes Verkehrsmittel, während die Seinedampfer sich wirklich voll und ganz in den Dienst des riesenhaften alltäglichen Verkehrs stellen.
Woran dies liegt? Zunächst wohl an der besseren natürlichen Eignung der Seine. Ihr Lauf ist träge, ihr Bett tief und etwa doppelt so breit als das des Donaukanals. In einer Zeit, da man Berge durchbohrt, Flußläufe abwendet und in neue Richtung zwingt, große Wasserstürze in den Dienst der Industrie stellt, ist es natürlich nur eine Frage des Geldes, den Donaukanal zu einer ebenso geeigneten Wasserstraße zu machen, wie es die Seine thatsächlich ist. Der Kanal kann tiefer, breiter und im Lauf so träge gemacht werden, so daß Dampfer ebenso rasch gegen, als mit dem Strom fahren können. Träger Lauf ist aber eine fast unerläßliche Bedingung für einen Verkehr, der sich bewähren soll. Das Dampfschiff muß nach beiden Stromrichtungen mit dem Tramway- und Omnibusfuhrwerk an Schnelligkeit konkurriren können, dann wird es auch von den Massen gesucht werden. Das Wiener Gesetz von den Ungereimtheiten bringt es natürlich mit sich, daß alles trägen Lauf hat, nur nicht der Donaukanal. Trotz des Gefälles aber wäre immerhin ein halbwegs entsprechender Massenverkehr auf dem Donaukanal möglich, wenigstens in der kurzen, dicht bewohnten Strecke von der Sofien- bis zur Brigittabrücke, wenn der Verkehr nicht das Privilegium einer Gesellschaft wäre. Diese Gesellschaft ist die Donau-Dampfschifffahrtgesellschaft, die genug gethan zu haben glaubt, wenn sie die hohen staatlichen Subventionen einstreift und im übrigen den Herrgott einen guten Mann – oder «alle fünf gerade» sein läßt. Würde die Donau-Dampfschifffahrtgesellschaft nicht ein förmliches Monopol haben, und würde ihre schauderbare Finanzwirthschaft nicht von der staatlichen Aufsichtsbehörde bemäntelt und beschönigt, zumindest aber stillschweigend gutgeheißen werden, dann wäre nicht nur der Donaukanal mit vielen und guten Personendampfern belebt, es würde dann auch möglich sein, Ausflüge in das herrliche Donaugebiet oberhalb Wiens zu machen. Dies alles ist nicht der Fall. Weder hat die Donau-Dampfschifffahrtgesellschaft genug noch genug gute Schiffe. Sie ist für einen Massenverkehr gar nicht eingerichtet. Sie nützt ihr Monopol rücksichtslos nach allen Seiten aus, läßt nur so viele und so schlechte Schiffe gehen, als es ihr beliebt, und diktirt zugleich Preise, die einen Massenverkehr von vornherein ausschließen.
In Paris theilen sich mehrere Gesellschaften in den Profit, der durch die Ausnützung der Wasserstraße zu holen ist. Die Bateaux Mouches (kleine Fliegen), die Anciens Bateaux, die Bateaux Parisiennes und die Anciennes Hirondelles (alten Schwalben) vermitteln den Personenverkehr auf kürzeren und längeren Strecken. Für jede Fahrt zahlt man an Wochentagen 10 Cents. Auf dem Dampfer durch Paris ist eine genußreiche, namentlich an heißen Tagen erquickende Fahrt, die dem Fremden zugleich Einblick in das vielgestaltige Verkehrsleben der Riesenstadt gibt.
Wir besteigen bei der d’Auteuilbrücke einen solchen Dampfer, um auf ihm entgegen dem kaum merklichen Strom Paris zu durchfahren. Wir lösten kein Billet, da wir keine Kasse sahen, und passirten anstandslos die Anlegebrücke. Mit uns vielleicht hundert Personen, die bald die vielen Plätze auf dem Verdeck besetzten. Namentlich jetzt zur Ausstellungszeit bietet sich vom Verdeck aus ein buntbewegtes, reizendes Bild.
Die Seine durchfließt das ganze Ausstellungsgebiet. Schon beim d’Auteuil sehen wir vor uns in der Geraden den Eiffelthurm stehen, der je näher wir ihm an den Leib rücken, desto imponirender wird. Rechts und links von ihm sehen wir eine Reihe der auffallenden Ausstellungsbauten, die blaßblaue Riesenkugel des Himmelsglobus, das Riesenrad, das noch um 40 Meter höher ist als das Wiener Riesenrad, im Hintergrund einen Ballon captiv. Der Dampfer geht rasch vorwärts. Jede Minute verändert das Bild. Im Schauen versunken, bemerken wir den Mann nicht, der mit der Ledertasche neben uns steht. Er macht sich bemerkbar und reicht uns dann, ohne zu fragen wohin wir wollen, ein durchlochtes Messingplättchen, auf das die Gesellschaftsfirma: Bateaux parisienne – Pariser Schiffe – eingepreßt ist. Der Preis? – Deux sous. – Wir geben ihm einen Kupferbatzen, 10 cents, und das Geschäft ist vorüber. Wir können wieder unsere ganze Aufmerksamkeit dem bunten Treiben vor und um uns zuwenden. Uns entgegen kommt ein Lastdampfer, der sechs beladene Holzschiffe dem Meer zuschleppt. Hinter ihm wird die Seine von sieben Personendampfern belebt, die alle, dicht besetzt, uns näher kommen oder vor uns der Stadt zueilen. Die Pfeiler von drei Brücken begrenzen den Horizont. Kähne mit nimmermüden Fischern, die im Sonnenbrand des Vormittags geduldig ausharren, um doch noch ein Fischlein an die Angel zu bekommen, sind da oder dort verankert, und an den Quais sind in schier unendlicher Kette die großen Holzschiffe aneinandergereiht, aus denen die Debardeurs, wie die Quaiarbeiter heißen, die Schätze fahren oder tragen, die die Schiffe bergen. Riesige Krahne heben hier Steinblöcke aus dem Schiffsbauch, dort schleppen weißbestäubte Menschen Mehlsäcke an das Land, hier werden wieder Kohlen ausgeladen. Stück um Stück wandert von Hand zu Hand. Die sonnengebräunten entblößten Oberkörper der Arbeiter sind mit einer Schichte Kohlenstaub belegt. Am linken Ufer, uns also zur Rechten, fährt über die Quais von Javel und Grenelle ein Zug der Chemin de fer des Moulireaux, der sonst beim Invalidendom, jetzt aber schon beim Marsfeld endet. Lastzugsgeleise führen knapp an der Seine, so die Verladung der Schiffsfrachten in die Waggons erleichternd. Immer näher kommen wir dem Herzen von Paris. Schon sind wir im Bereich des Marsfeldes und fahren nun zwischen den beiden Ausstellungsstraßen – der Rue de Nations und der Rue de Paris – zu dem zweiten großen Ausstellungsplatz im Bereich des Invalidendoms, aber noch immer hat der Verkehr nichts an seiner Lebhaftigkeit eingebüßt. Die Lastschiffe sind aus dem Bild verschwunden. Dafür passiren wir bei jeder Brücke, und zwar auf jeder Seite zwei Anlagestellen für die Dampfer, und an beiden Ufern beginnen nun die Bäder, einfachere und feinere, langgestreckte Bretterhütten und schwimmende Paläste. Bad an Bad. Dieses nur für Wannen, jenes für Schwimmer, hier eines ausschließlich für Damen, dort ein Bad, das dem Schwimmer und dem Badenden gleich gerecht wird. Die Bäder sind billig. Um 30 Centimes kann man ein Vollbad, um 50 Centimes schon ein warmes Wannenbad haben. Paris hat sehr viel Bäder. Denkt man sich angesichts dieser vielen Bäder an den Wiener Donaukanal zurück, an dessen Lauf ein einziges Bad ist und dieses weit draußen an der Grenze von Erdberg, so beneidet man wieder die Pariser. Weiter geht die Fahrt. Vor dem eigentlichen Alt-Paris zweigt sich die Seine. Die Inseln, auf der das Alt-Paris liegt, umfahren wir und kommen dann wieder in das Bereich des werkthätigen Paris, das schaffen muß, was das genießende Paris vonnöthen hat. Seefrachtdampfer, neben denen unser Schraubendampfer verschwindet, fahren an uns vorüber oder sind am Ufer verankert. An beiden Ufern rücken wieder die Schienenstränge von Bahnen heran, bis wir endlich beim Pont National das Schiff verlassen.
Auch Wien könnte seinen Donaukanal belebt haben, wenn der Donau-Dampfschifffahrtgesellschaft ein leistungsfähiger Konkurrent erwachsen würde, wenn beispielsweise die Stadt nach der jetzt eben vor sich gehenden Umwandlung des Donaukanals, den Werth der Wasserstraße erkennend, sie auch ausnützen würde. Dahin ist freilich noch ein weiter Weg – es muß erst ein anderer Geist in die Verwaltung dieser Stadt kommen, dann wird es auch hier anders sein. Dann werden nicht nur Dampfschiffe einen Millionenverkehr vermitteln, sondern der Donaukanal wird auch zu Badeanlagen ausgenützt werden, an denen Wien so arm ist.
Die nächste Umgebung von Paris – St. Cloud, Sèvres – hat einen Viertelstundenverkehr mit dem Dampfschiff, und die Seine-Ufer sind dicht belebt von Ausflüglern, die hier Erholung und Vergnügen suchen und finden. In Wiens Umgebung ist am oberen Donaulauf ein reizender Punkt, der in jeder anderen Großstadt an Sonntagen das Ziel vieler Tausender wäre. Wenn man in Wien aber jemand erzählt, daß man im «Tuttendörfl» war, so werden unter zehn gewiß neun fragen, was und wo das ist. Nur Einer wird wissen, daß das «Tuttendörfl» eine ziemlich primitive Restauration hart an der Donau zwischen Korneuburg und Langenzersdorf ist. Dennoch ist es ein herrlicher Punkt, der nur deshalb nicht gekannt ist, weil er zwischen zwei Verkehrswegen liegt, von keinem aber berührt wird. Hätte Berlin oder Paris einen gleich schönen Punkt in seiner Umgebung, es wäre längst ein Zehnminuten-Dampferverkehr dahin eingeleitet, es wäre längst nicht nur eine einzige Restauration dort, sondern ein «Etablissement» das Tausende fassen könnte. In Oesterreich liegt noch viel Geld auf der Straße, das niemand aufzuheben wagt! Ein kleinlicher Geist waltet in allem!
Der Pariser Fremdenverkehr ist sprichwörtlich. Wie ein Magnet zieht Paris ganz Europa an – aber es ist, wie wir gesehen haben, auch gerüstet, Millionen zu empfangen. Anders in Wien, wo es an allem und jedem hapert und wo nur Eines gut ist, was in Paris schlecht ist: das Trinkwasser. Das Pariser Trinkwasser ist warm und nicht ausreichend für die Riesenstadt. Dennoch nehmen es alle Fremden hin, wenngleich sie es nur mit Vorsicht genießen. Das schreckt niemand ab, so wenig wie das Wiener Wasser große Fremdenschaaren anlockt. Trotz seines guten Wassers kann Wien nur 252 ankommende Züge verzeichnen, während auf den großartigen Pariser Bahnhöfen in normalen Zeiten täglich 844 Züge einlaufen – trotzdem Paris ein so schlechtes Wasser hat. An dem Trinkwasser allein liegt es also in unserer alkoholseligen Zeit nicht. Kein Vernünftiger wird leugnen, daß dennoch Paris eine ebenso gute Wasserquelle wie Wien zu wünschen wäre, und daß gutes Wasser für die Pariser eine ebenso große Wohlthat wäre, wie es für uns Wiener ist. Viel dringender aber als Paris das Wasser würde Wien gleich glänzende öffentliche Einrichtungen brauchen, die den Verkehr gleich sicher und gleich gut regeln. Glückliche Pariser!
m.w.
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