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Max Winter

Das Glas und die Wissenschaft

Solidarität Nr. 32 vom 9. 8. 1900

Liebe «Solidarität!»

Du hast unlängst an alle deine Freunde und Mitarbeiter den Ruf ergehen lassen: «Die Festnummer kommt! Alle Mann an Bord!» Der Ruf drang zu mir, und so setzte ich mich in einer ruhigen Stunde hin, um mir etwas von der Seele zu schreiben, was ich schon lange sagen wollte, ohne daß ich dazu eine passende Gelegenheit gefunden hätte. Du bist zwar ein Weib, aber ein starkes Weib, und darum wirst du auch eine kleine Zurücksetzung vertragen. Ich will zunächst daher nicht von dir sprechen; nicht von dir der starken Tochter, sondern von deinem kurzlebigen Vater, dem «Glasarbeiter», der – ein richtiger Glasarbeiter – kaum noch zu voller Blüthe gediehen, schon ins Gras biß. Er kam zwar nicht, wie diese, auf «Pfarrers Schleifmühl», aber es wurde ihm das nicht viel bessere Los beschieden, in den Sarg eines Rothleinenbandes gezwängt, in einer Bibliothek begraben zu werden, wo er einst der nagenden Arbeit der Zeit ebenso erliegen wird wie alles Irdische. Vorläufig freilich kann die Zeit noch lange nagen, trotzdem er sein Recht auf den Tag verwirkt hat, lebt er dennoch. Ich habe viel in diesem Band geblättert, manch einen Artikel darin gelesen, geleitet von dem Interesse, zu erfahren, welche Sprache die Arbeiter-Schriftsteller und die Arbeiter selbst in den Anfängen der gewerkschaftlichen Bewegung führten. Angeregt wurde ich dazu durch das Motto, mit dem der «Glasarbeiter» in die Welt ging.

Es ist ein gar schönes Wort:

«Das Glas verhalf der Wissenschaft zum Siege; die Wissenschaft wird dafür die Sklaven des Glases befreien.»

Das ist klare Erkenntniß und tiefgegründete Zuversicht. Von wem ist es? Ich habe nicht darnach geforscht. Irgend einem hellen Kopfe entsprungen, war es mehr geeignet denn jedes andere Wort, das unbestimmte Wollen der Glassklaven in bestimmte Bahnen zu lenken, war es mehr als jedes andere Wort geeignet, die Gebirgssöhne zum Denken anzuregen.

Das Glas verhalf der Wissenschaft zum Siege ... Wer könnte dies bestreiten? Wohl der nur, der noch nie den Chemiker vor seinen Retorten, der noch nie den Physiker, den Ergründer der Naturgesetze und deren Erforscher, den Naturforscher, an der Arbeit gesehen, wohl nur, der noch nie die Werkstatt des Astronomen betreten oder von ihr gelesen hat. Das Glas als Retorte, physikalisches Werkzeug, als Mikroskop und als Linse im Fernrohr hat der Wissenschaft und durch diese der Menschheit unendliche Dienste, ungekannte und in ihrer ganzen Größe unfaßbare Dienste geleistet. Wodurch als durch das Glas hätte die Menschheit je Kenntniß erlangt von ihrem körperlich kleinsten und dennoch größten Feinde – von dem Kommabazillus, so genannt, weil dieses winzigste Thierchen, in vieltausendfacher Vergrößerung durch ein Mikroskop gesehen, die Form eines Beistriches, eines Kommas hat. Hätte das Glas der Wissenschaft und dadurch der Menschheit sonst keinen Dienst erwiesen, so wäre es schon werth, unter den Kulturfaktoren an erster Stelle zu stehen. Es hat aber noch viel mehr gethan. Dem Glase danken wir kleinen Menschlein die Kenntniß dessen, was in den Regionen ober uns vorgeht, das Glas rückt uns um Millionen Meilen den Gestirnen am nächtlichen Himmel näher, das Glas und die immer mehr vervollkommnete Technik in seiner Behandlung haben gerade heuer der herrlichen astronomischen Wissenschaft einen Behelf gegeben, wie ihn die Welt noch nicht kennt. Das Riesenfernrohr in der Pariser Weltausstellung, der eigentliche Clou der Jahrhundertrevue, hat eine Sammellinse von 125 Zentimeter Durchmesser. Die Glasarbeiter können sich den Koloß vorstellen, sie wissen, was für einen Riesenkuchen krystallhellen durchscheinenden Glases man da zuerst gießen mußte, und wie viel Geschicklichkeit, Thatkraft und unermüdliche Ausdauer die Glassklaven aufbringen mußten, ehe sie diesen Kuchen zur Linse geschliffen und polirt hatten. Es ist die größte Linse, die bisher erzeugt wurde – aber in einem Saale neben dem Riesenfernrohr, das im optischen Palais der Ausstellung eine vorläufige Heimstätte gefunden hat, ist gezeigt, daß die Glasmacher schon wieder um einen Schritt weiter vorwärtsgekommen sind. Es ist dort ein Glaskuchen von 150 Zentimeter im Durchmesser ausgestellt, und bald wird das Pariser Riesenfernrohr nicht mehr das größte sein. Es ist nur ein vorläufiger Triumph, der Dank der fortschreitenden Technik in der Behandlung des Glases bald überholt sein wird...

«Die Wissenschaft wird dafür die Sklaven des Glases befreien!»

Die Zuversicht dieses Wortes wird nicht zu schanden werden. Die Wissenschaft, die den Werdegang der Welt verfolgt und daraus die ökonomischen Gesetze ableitet, deren muthige Vertreter durch das gesprochene und geschriebene Wort die frohnende Masse aufklärten und unermüdlich weiter aufklären, jene Wissenschaft, die die hygienischen Gesetze fand und sie einer Welt voll Eigennutz zum Trotz durchzusetzen versucht, diese Wissenschaft und ihre Vertreter sind es, die den Glassklaven reichlich vergelten, was sie für die Wissenschaft geleistet haben und noch leisten. Sie leisten die Vorarbeit, die das Proletariat zum Sieg führen wird; sie geben den Offizieren und Korporälen der proletarischen Armee das geistige Rüstzeug zu dem schweren Kampfe; sie sind es auch, die den Arbeiter aus der dumpfen Werkstatt in die Studir- und Schreibstube zwangen, damit er dort zu Nutz und Frommen seiner Schicksalsgenossen lerne, eine scharfe Feder zu führen. Das hat schon heute die Wissenschaft für die Glassklaven gethan, und wie diese nicht aufhören werden, der Wissenschaft zu dienen, so wird auch die Wissenschaft stets der beste Freund des Proletariats bleiben.

Das, meine liebe «Solidarität», wollte ich mir von der Seele herunterschreiben. Das Leitwort, das deinen seligen Vater, den «Glasarbeiter», so sympathisch gemacht hat, dich, seine kräftige Tochter, hat es stark gemacht, nicht nur zu einer Vorkämpferin der Glassklaven allein, sondern... welchen Gemengen von pulverisirter Erde oder solchem Mineral durch ihre Kunst und ihre Kraft wieder neues Leben geben. Daß du erstarken und weiter Tausenden Wegweiser und Begleiter sein mögest durch den Dornenbusch, hinter dem die Befreiung winkt, das meine liebe, wünscht dir zu deinem zehnten Wiegenfeste

Max Winter.

 

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