Max Winter
Vagabonden
Feuilleton
Arbeiter-Zeitung vom vom 28. 10. 1900
Vagabonden! Die Menschen unterwegs sind es, die ewig Unstäten, die Nomaden der kapitalistischen Wirthschaftsordnung, die Kulturzigeuner, die die breiten Straßen gern meiden, oft meiden müssen, die Herumgestoßenen, denen die schlechteste Herberge zum herrlichsten Palast wird, der das Köstlichste birgt worauf Tag für Tag ihres Wanderlebens immer von Neuem ihre Sorge gerichtet ist: das Obdach. Ein Dach über dir gibt dir doch ein gewisses Gefühl der Sicherheit, der Ruhe, des Geborgenseins, der Sorglosigkeit, es läßt dich armen, gehetzten Menschen doch auf Momente das Jammerdasein vergessen und die Furcht überwinden vor dem grausamsten Gesetz, dessen Anwendung auf dich dir jeden Augenblick bevorsteht. Dann winkt dir ein anderes Obdach, das einzige, das der kapitalistische Staat den Mühseligen und Beladenen, den Ausgestoßenen und Herumgepufften bietet: das Gefängniß. Ewig auf der hastenden Flucht vor diesem, ewig auf der Jagd nach Brotkrumen und einigen Groschen, mit denen das freiwillige Obdach erkauft werden kann, das sind die Menschen und das ist ihr Leben, das uns Hans Ostwald in seinem Buche*) schildert.
In einer Selbstanzeige bezeichnet er als Zweck seines Buches, die Vagabunden, ihr Milieu, ihre Leidenschaften und Schwächen so zu schildern, wie er sie gesehen hat. Ostwald hat scharf hingesehen, gut, oft fein beobachtet, und er verstand es auch, die Detailmalerei zu einem fesselnden Gesammtbilde zu vereinigen. Diese Vorzüge allein machen das Buch lesenswerth. Die «Vagabonden» können aber mehr beanspruchen – sie sind nicht nur lesenswerth, sondern man muß sie gelesen haben, wenn man ein Bild von unserer heutigen Kultur gewinnen will. Daß der Kapitalismus mit seiner «von Gott gewollten Ordnung», mit dieser seiner auf Kanzeln und Parlamentstribünen als «ewig» vertheidigten Ordnung diese Kulturzigeuner zuerst erzeugt, um sie dann ruhelos durch Hunger und Nachtquartiere in Pfützen vorwärtszupeitschen, bis sie endlich doch dem Gefängniß verfallen, das gehört zu dem Gesammtbilde unseres heutigen Kulturzustandes, so wie die Schilderungen des Lebens der reichen Müßiggänger, die vom Marke des Volkes zehren, nichts schaffen und alles genießen. Während nun die moderne Literatur diese und andere Typen in vielen Exemplaren schildert, wird der künftige Kulturforscher Mühe haben, ein Gesammtbild von dem Landstreicherleben zu gewinnen. Schilderungen, die wahr wirken sollen, müssen aus dem vollen Leben geschöpft sein. Darin liegt aber die Schwierigkeit, gerade dieses Leben zu schildern. Wer sich da nicht mit hineinlebt, wer sich nicht wenigstens eine Zeit lang als Glied der Vagabundengemeinde fühlt, wer nicht selbst den Fluch solchen Lebens am eigenen Leib verspürt und unter dem gewissen Zwange lebt, der kann nicht tiefer sehen, vor dem werden sich auch die polizeischeuen Landstreicher hüten, und sie werden ihm ganz falsche Bilder vorgaukeln. Ostwald war Stromer, war eine Zeitlang Einer von der Gilde, und darum konnte er tiefer sehen und erlauschen, was anderen Ohren ewig verschlossen bliebe. Was bis Ostwald über das Leben der Vagabunden geschrieben wurde, waren falsche Gelegenheitsschilderungen oder Skizzen einzelner Erlebnisse von der «Walz», die in der sozialdemokratischen Kalenderliteratur oder in Festschriften Aufnahme fanden. Es waren Erinnerungen von «Walzbrüdern», die, später in den Bannkreis sozialdemokratischer Agitation gezogen, es gelernt hatten, mit der Feder umzugehen und nun irgendein markantes Erlebniß aus ihrer Handwerksburschenzeit zum Besten gaben. Ein Gesammtbild war daraus nicht zu gewinnen. Anders Ostwald! Bei ihm ist man versucht, zu glauben, daß er schon in seiner bitteren Wanderzeit, die ihn als Goldschmiedgesellen durch ganz Deutschland und durch die Schweiz brachte, daran dachte, diese Erlebnisse schriftstellerisch zu verwerthen, und daß er damals schon die Behelfe für sein späteres Werk sammelte. Wem die Schriftstellerei mehr als Handwerk ist, für den gilt, was für den Maler gilt, der die Natur wiedergeben will. Er muß bei jedem Pinselstrich die Natur immer und immer wieder vor sich haben. So geht es auch dem schildernden Schriftsteller. Nur jene Schilderung wird gut sein, die fast im Augenblick des Erfassens schon in den Begriff umgesetzt ist. Der Maler darf keine Photographie, der Schilderer kein Stenogramm wiedergeben, und dennoch sind Photographie und Stenogramm, besser gesagt, die flüchtig im Augenblick des Erfassens eines Bildes zur Unterstützung des Gedächtnisses hingeworfene Skizze oder das Schlagwort unerläßliche Bedingungen zum Gelingen des Werkes. Durch diese Ursprünglichkeit unterscheidet sich nun Ostwald von den Gelegenheitsschilderern, bei denen man nie recht weiß, wo die Dichtung aufhört und die Wahrheit – sehr oft die geschminkte Theaterwahrheit – anfängt. Was er nun schildert? Alles, von der ersten bitteren Sekunde der Erkenntniß, da er im Wald einige übermüthige Pensionatsgänschen begegnet, die ihn ob seines Elends höhnen, indem unter dem Gekicher der übrigen die frechste ihr Jäckchen über die Schultern wirft und hinterrücks seinen eiligen Gang, seine Bewegungen, ins Lächerliche verzerrend, nachahmt, alles von dieser bitteren Erkenntniß, daß er zu den Ausgestoßenen gehört, die nur die Faust im Sacke ballen dürfen, bis zu dem Nachtlager in dem Schlackenberge der schlesischen Kohlenindustriegebiete, das ihm, dem Herabgekommenen, köstlich dünkte. Alles, von dem Moment, da er bald nach seinem Ausmarsch aus dem lustigen Zuruf einer Fabriksarbeiterin: «Na, warum ziehste denn nich de Strimpe und de Stiebeln ooch aus? De Fußsohlen kosten doch nischt!» erkennt, daß er wirklich zu den Herumgestoßenen gehört, «zu denen, die sich untereinander mit dem vertraulichen Du anreden» – alles, von diesem Moment bis zu jenem, da ihn doch der Greifer (Geheimpolizist) erwischt und er vor den jungen, etwa dreißigjährigen Menschen geführt wird, den sein Talar als Richter kenntlich macht und der sich in seinem Weisheitsdünkel von den Landstreichern nasführen läßt, den Arbeitslustigen, der nicht das Heucheln gelernt hat, streng, den Arbeitsscheuen, der ihm ein Stückchen vorweint, milde und einen wehrlosen Krüppel, den seine Narrheit zum «Tippelbruder» gemacht hat, barbarisch beurtheilt. Das «Ich» in der Schilderung Ostwalds bekommt drei Tage zudiktirt.
Alles was dazwischen liegt, macht den Inhalt des Buches aus: Das Leben in den Pennen, wie in der Sprache der Kunden (Vagabonden) die Herbergen heißen, das Zusammenfinden auf der Landstraße, die Ausweisleistung vor den Gendarmen (das «Flebben»), das Kohldampfschieben (Hungern), das vergebliche Suchen nach Schenigelei (Arbeit), das Spannemannmachen (auf Ungeziefer suchen lassen), die Angst vor den Bienen (Läusen), die dem Herumgestoßenen zum völlig Ausgestoßenen machen, der aufs Plattmachen (Nächtigen im Freien) angewiesen ist, das Einkaufen der Linkmichel (Neulinge) in die Gilde durch das «Schmeiß’n einer Leuchtkugel», wie das Bezahlen eines Viertelliters Kornbranntwein genannt wird, das Klinkenputzen (Betteln), die ewige Angst vor dem «Teckel» (Gendarmen), der Schmutz und die Unsauberkeit in den meisten Herbergen, das gegenseitige Vertrauen der Vagabunden und endlich das Zusammentreffen mit Tippelschicksen (Frauenzimmern, die auf der Walze sind und immer einen Beschützer, den Schecks, mit aushalten. Als das erstemal die Rede darauf kommt, meint der Tippelbruder Ostwalds warnend: «Nee, nee, es ist schon besser, Du gehst den Schicksen aus dem Wege. Wenn Du erst mal Ungeziefer hast – dann ist nischt mehr zu wollen. Denn mit dem Ausbrennen – na, da sind nachher deine Weitchen (Hosen), deine Kreuzspann (Weste) und dein Wallmusch (Rock) futsch. Und wenn Du erst soweit runter bist, in keene Heimath mehr darfst, immer in den Schnapspennen auf der Ofenbank oder im Rauscher (Stroh) schlafen mußt – weest Du – lieber ’n Strick.»
Und dann die Menschen selbst, die die Gilde der Kunden bilden. Gutartige und Böse, Unglückliche und Narren, Fleißige und Arbeitsscheue, verschüchterte Kinder des Elends und Hochstaplernaturen, die ihr Talent im Kleinen verbrauchen müssen, bis ihnen der große Wurf gelingt – alle untereinander wohl roh im Verkehr, verwildert, aber ehrlich.
Wie sie in das Leben gerathen? Als Glieder der großen industriellen Reservearmee, als Arbeitslose, die in der Fremde ihr Glück versuchen wollen, als Handwerker, die ein Stück Welt kennen lernen und Erfahrungen sammeln wollen, ehe sie sich dauernd niederlassen, andere wieder aus Lust an dem ungebundenen Leben, aus Hang zum Vagabundiren. Und wie sie zusammenkommen, Alte und Junge, und wie sie schließlich in der linken Winde, in der Zwangsarbeitsanstalt, verkommen, nachdem sie vorher einigemale im Kittchen (Gefängniß) gewesen, bis sie endlich im Chausseegraben oder in der Theewinde (Krankenhaus) den Strapazen des entbehrungsreichen Kundenlebens erliegen. Das sind tieftraurige Menschenschicksale, die da geschildert werden. Da gleich ein Maschinenbauer, der schon vier Jahre mit wenigen Unterbrechungen unterwegs ist, immer auf der Landstraße.
«Ich wollte ihm nicht glauben, daß er schon so lange ohne Arbeit sei. Da zeigte er mir seine Papiere. Als Maschinenbauer war er zum letztenmale vor vier Jahren thätig gewesen. Inzwischen hatte er hier und da aushilfsweise als Möbelträger und Kohlenschipper gearbeitet – immer nur, um nicht wegen Arbeitsscheu angehalten, um nicht ins Arbeitshaus gesteckt zu werden. Er wäre wohl gern wieder in eine Fabrik gegangen. Aber sie hätten ihm nichts Rechtes zugetraut, weil er schon so lange außer seinem Berufe war. Traurig fügte er hinzu, daß es nun für ihn immer schwerer werde, wieder in seinen Beruf einzutreten. Je länger er unterwegs sei, je weniger traue man ihm zu. Und er traue sich auch selbst schon nichts mehr zu. Man verliere zuletzt den Glauben an sich selbst und werde träge, die Unternehmenslust verschwände, und schließlich fühle man sich in dem ungeregelten, fragwürdigen Kundenleben am wohlsten. Man könne sich gar nicht mehr an eine gleichmäßige Arbeit, an ein geordnetes Dasein gewöhnen. Man richte sich gewissermaßen als Kunde ein. Und so werde man wider Willen so ein echter Stromer, wie es ja auch manche gebe, die das nicht erst zu werden brauchten, die von früher Jugend an auf der Landstraße liegen, aus reiner Lust am Wandern, vollkommen unfähig, sich schaffend zu bethätigen.»
An anderer Stelle schildert ein anderer diese Sorte, ihr Jammerdasein aus der Umgebung heraus, der sie entsprossen, erklärend und entschuldigend: «Das ist von frühauf verkommen, verkümmert und verwahrlost, hat wohl schon als Kind oft hungrig ins Bett, das heißt in einen Lumpenhaufen kriechen müssen – für die is ja so’n Kittchen (Gefängniß) dat reene Schlaraffenland. Bloß im Frühjahr wollen sie immer wieder raus. Da kribbelt’s ihnen in den Füßen, da müssen sie tippeln. Daher kommt auch, daß im Winter verhältnismäßig wenig alte Stromer unterwegs sind, wenn auch mehr walzen.»
Auch die Rechnung eines Kaufmannes (Häringsbändigers), der mit 224 Mark am 1. April von Baden nach Berlin gereist war, um dort sein Glück zu versuchen, veröffentlicht Ostwald. Immer mehr schmilzt der Fonds zusammen. Nach drei Monaten Arbeitssuche in Berlin reist er mit dem Rest seines Vermögens (31 Mark) nach Hamburg, wo er am 1. August immer noch 8 Mark 50 Pfennig hat. Nun beginnt er seine Effekten zu verkaufen, einen schwarzen Anzug, eine Goldkette, zwei Ringe. Am 1. September geht er wieder nach Berlin zurück, um am 1. Oktober wieder bei einem Baarstand von 2 Mark anzulangen. Nun wandern Wäsche, Uhr und Mantel ins Versatzamt – am 1. November hat er 2 Mark und einen Hausierschein in der Tasche –, schließlich muß er doch losgehen. «Ein verzweifeltes Ringen, um sich auf der Oberfläche zu halten! Unausgesetzte Versuche, das lecke Schiff an den bergenden Strand zu bringen, und doch zurückgeschleudert von der Brandung ...» In der Rechnung kehren regelmäßig unter den Ausgaben die Posten: Inserate, Porto, Stiefel ..., die spezifischen Auslagen der Arbeitsuchenden wieder. Trotz alledem und alledem das gehetzte Wild auf der Landstraße, das schon einmal gebundene Reiseroute nach seinem Heimatort bekam. «Ja, was sollte ich denn dort –! Da konnte mir auch kein Mensch helfen. Meine Alten sind todt. – Was sollte ich in dem kleinen Nest?» So tippelt er weiter, putzt Klinken und macht Fackelei (schreibt Bettelbriefe), wenn er sich noch «die schlaue Pfote» (gute Hand zum Schreiben) erhalten hat. Besser als dem alten Kaufmann ergeht es den Katzhoffs (Schlächtern), den Lehmern (Bäckern), den Schlossern und Hobeloffizieren (Tischlern) den Galgenposamentierern (Seilern), kurz den Angehörigen solcher Berufe, die in kleineren Städten Arbeit finden. Die haben es nicht nöthig, alles zu verkündigen (verkaufen), was sie können, ihren Berliner (Reisebündel), ihre Luppert (Uhr), ihren Schneidling (Messer), ihren Stenz (Stock) und schließlich ihre Lauseharke (Kamm). Mit ein bischen «duften Kohl» (Pflanz vormachen), beim Betteln kommen sie schon durch und «Klempners Karl», «Spitzkopp», «Blankhut», Landdragoner» oder «Teckel» – wie der Gendarm abwechselnd heißt – kann ihnen so leicht nichts anhaben.
Manchmal geht es allerdings auch den Gendarmen an den Kragen, wenn sie es gar zu arg treiben. So schildert auch Ostwald eine Szene, wie der Tippelbruder Leichtfuß dem Gendarmen, der vorher einen anderen Elendsbruder fast zu Tode gehetzt hatte, eine Faust voll Schnupftabak in die Augen schüttet und ihn dadurch vom Roß abwirft, das durch einen Stockhieb auf die Hinterbeine wild geworden ist. Dann stürzt er sich auf den ohnmächtigen Gendarmen und prügelt ihn mit dem Stock.
«Erst auf meinen Ruf kam er zu sich. Als ich ihn fortziehen wollte, sagte er:
Lass’ mich! Lass’ mich! Wie das Vieh hetzen sie uns, wie das Vieh!
Er biß die Zähne zusammen und bebte wie in einem Fieberanfall. Thränen liefen ihm über die Backen.
Wie er den armen Kerl gehetzt hat! Stieß er noch hervor.
Dann ließ er sich von mir fortziehen.
Diese Szene zählt zu den freudigen Erlebnissen. Wohl auch Weihnachten in der «christlichen Herberge», in der auch der Jünglingsverein seine Sitz hatte. Eben wurde ein Jüdischer Häringsbändiger aus der guten Stube gejagt, in der die Sänftlinge (Betten) standen, weil der «Vizeboos» in seiner Staude (Hemd) «Reichskäfer» gefunden hatte, und er jammerte eben: «Auf die Pritsche darf ich ja nicht. Ich bin ja lungenschwach,» da drang der Gesang der christlichen Jünglinge an Aller Ohr:
Allein Gott in der Höh’ sei Ehr’
Und Dank für seine Gnade,
Darum, daß nun und nimmermehr
Uns rühren kann kein Schade.
So reiht sich Bild an Bild, wenig schöne, meist traurige, wüste, häßliche – der ganze Jammer des Vagabondenlebens, die ganze Gemeinheit mitleidloser Menschen zieht an uns vorüber.
Max Winter.
*) Hans Ostwald: Vagabonden. Berlin: Cassirer 1900. zurück
|