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Max Winter

Die Kehrseite der Medaille

Feuilleton

Arbeiter-Zeitung Nr. 204 vom 28. 7. 1901

Karlsbad, Ende Juni.

Da sitze ich nun und verschnaufe einige Tage von der harten Arbeit eines Spazierganges durch die kleinen, oft recht schmutzigen nordwestböhmischen Städtchen und Dörfer, in denen die Kaolinerde, die der Boden in reicher Fülle birgt, zu Porzellan verarbeitet wird. Da sitze ich und – Herr Pupp verzeihe mir die Sünde – schaue hinter die Coulissen des Weltkurortes.

Herr Pupp? Pardon! Ich habe vergessen, vorzustellen. Herr Pupp ist der größte Hotelier, der größte Cafetier, der größte Restaurateur Karlsbads, er besitzt eine Badeanstalt, Häuser im Werthe einer Million – und den Einfluß eines souveränen Herrschers. Seine Methode, Reichthümer zu erwerben, ist typisch für Karlsbad. Pupp ist Karlsbad und Karlsbad ist Pupp. Schaut Einer also hinter die Coulissen Karlsbads, so muß er Herrn Pupp in die Karten sehen, und darum der Appell an ihn, daß er mir die Sünde verzeihen möge, denn ihn geht es an, ist er doch das böse Beispiel, das alle in der Hoffnung auf gleichen Erfolg nachahmen.

Nirgendwo als in der lieblichen, prächtigen, schönen Stadt Karlsbad können die Gegensätze so aneinanderprallen. Die Stadt ist an beide Ufer der Tepl hingebaut, die sich noch im Weichbild der Stadt mit der Eger vereinigt. Das Teplthal ist eng. Eigentlich nur zwei Straßenzüge bilden die Stadt, zwei Straßenzüge, einer zur Rechten und einer zur Linken der Tepl. Die Querstraßen sind winkelige Berggäßchen, durch die man von jedem Punkte der Stadt in fünf Minuten mitten im kühlen Wald sein kann, im Hochwald, durch den wohlgepflegte, schattige Promenaden führen, zu lauschigen Plätzchen und zu herrlichen Aussichtspunkten. Unten in den Straßen fluthet tagsüber wahrhaft großstädtischer Verkehr, mehr noch, fluthet der internationale Verkehr einer Weltstadt, und fünf Minuten davon umfängt dich das heilige Schweigen des Hochwaldes, das freilich gar oft von dem Genäsel eines faden Kerls im weißen Flanellanzug gestört wird, des Hochwaldes, dessen würziger Duft sich nicht selten mit dem Gestank der Riechwässer mischt, mit denen sich Männlein und Weiblein besprengen. Sie freilich nennen es Odeur.

Auf der «Alten Wiese» ist ein Getriebe wie am Wiener Graben, und da man auch dieselben Firmen dort findet – freilich ist aus dem Karl immer ein Charles und aus dem Heinrich ein Henry geworden –, fühlt man sich versucht, zu glauben, Karlsbad sei ein liebreizender Vorort Wiens, der die Annehmlichkeit für sich hat, daß er dem internationalen Kurpublikum den Abstecher nach Wien erspart. Die prächtigen Palais sind von unten bis oben von reichen Fremden besetzt. Steigt man aber in einem der winkeligen Häuser der abseits liegenden Berggäßchen zur Dachhöhe, so findet man hier arbeitsame, fleißige Menschen in drangvoller Enge zusammengepfercht in Dachstübchen, die ihnen Werkstatt, Wasch- und Kochraum, Kinderspielzimmer, Speise- und Schlafzimmer zugleich sind. Hier hausen Männer und Frauen, Erwachsene und Kinder, Meister und Gesellen oft ihrer Zehn und zwölf in einem Raum, der kaum für Einen Luft hat, denn das schmale Dachbodenfensterchen oder selbst ihrer zwei können nicht genügen.

Vorne im Spiegelsaal des Grand Hotel Pupp findet der verwöhnte Kurgast nicht selten das Theuerste für ungenießbar, und rückwärts im Mariengäßchen versammeln sich Nachmittags Proletarierweiber, die die Küchenabfälle um schweres Geld erstehen.

So drängen sich in Karlsbad dem, der sehen will, auf Schritt und Tritt Gegensätze auf, die wohl krasser nicht gedacht werden können. Das größte Elend und der größte Luxus wohnen dicht beisammen. Königin ist die Ausbeutung, die man hier in allen ihren Daseinsformen kennen lernen kann. Ausgebeutet werden – und das ist ein demokratischer Zug – nicht nur die einheimischen Armen, sondern auch die fremden Reichen. Der Gesammtprofit fließt in die Taschen der Pupp und Konsorten, die es nur zu gut verstanden haben, sich zu Herren der Situation zu machen. Einige kleine Bilder sollen uns vermitteln, wie es um Arm und Reich in Karlsbad bestellt ist.

*

Das System Pupp soll uns zunächst beschäftigen. Wir bummeln in dem Schwarm der Kurgäste über die «Alte Wiese» dem Lauf der Tepl entgegen. Plötzlich weitet sich der Platz. Ein in Hufeisenform gebautes Palais umschließt ihn. Wir sind mitten im Bereich des Königs Pupp, wir stehen auf dem Vorplatz des Grand Hotel Pupp, eines Baues mit 350 Zimmern und 231 Fenstern Gassenfront. Aus einem Fenster im ersten Stockwerk schlagen die Flügel der Spitzenvorhänge heraus.

«Schließlich hat der Pupp ja recht, wenn er hohe Preise verlangt. Es ist bei ihm ja doch alles wie aus dem Schachterl!» sage ich zu meinem Begleiter, einem geborenen Karlsbader. «Die Instandhaltung eines solchen Hotels allein erfordert Unsummen. Schau’n Sie nur die blühweißen Vorhänge an, was schon das Putzen dieses Zeugs kostet.» Mein Begleiter lachte. «Das kann ich Ihnen genau sagen. Eine Krone für das Fenster. Dem Pupp kostet es aber nichts.» – «Nichts?» – «Ja, nichts!» – «Wie ist das möglich?» – «Sehn Sie, das ist das System Pupp, das jetzt in Karlsbad immer mehr an Ausbreitung gewinnt. Kein Karlsbader Hotelier oder größerer Hausbesitzer bezahlt das Vorhangputzen. Das müssen die Wäscherinnen umsonst besorgen, gleichsam als Draufgabe dafür, daß ihnen Herr Pupp gnädigst gestattet, daß sie für die Kurgäste waschen dürfen. Jede hat ihre Abtheilung, ihren Trakt, ihr Stockwerk, und was es da an Kurgastwäsche zu reinigen gibt, bekommen diese Frauen zugewiesen. Dafür aber müssen sie im Herbst die Vorhänge abnehmen und putzen, über den Winter aufbewahren und im Frühjahr wieder aufmachen. Das ist die Provision, die Herr Pupp für das Sommergeschäft von ihnen verlangt.» – «Aber, das sind doch arme Weiber, und Pupp ist Millionär.» – «Ganz recht so! Eben deshalb sind sie gezwungen, diese Robot zu leisten, und dank der verschiedenen Robot und dank den glücklichen Spekulationen ist Pupp Millionär.»

Auf einem zweirädrigen Karren schiebt ein Mädchen einige Kannen Milch an uns vorüber. «Sehen Sie,» sagte der Karlsbader, «da haben Sie wieder eine, die dem Pupp Geschenke macht.» – «Na, sie wird ihm doch nicht die Milch schenken?» – «Das wohl nicht, aber ihre Arbeitskraft. Dafür, daß Pupp ihr die Milch abkauft, muß sie täglich beim Geschirrabwaschen mithelfen. Pupp erspart dadurch die Küchenmädchen. Das ist eine ganz schöne Milchprovision. Wie es den Kellnerinnen und Cafémädchen geht, können Sie selbst einmal erfragen.»

Wir waren mittlerweile bis zu dem großen Cafégarten gekommen, der vom Puppschen Restaurant durch die Straße getrennt ist. Ein Garten von der Größe des Hütteldorfer Brauhausgartens nimmt uns auf. Tiefer Schatten lagert auf den Tischen, über die rothe Kaffeetücher gebreitet sind. Eine Nummer, das heißt eines der vierzig bis fünfzig Cafémädchen, heißt uns willkommen. Auf ihrer schwarzen Blouse hat sie eine Messingnummer angeheftet. «Was wird gefällig sein?» Nicht allzu rasch erscheint das Mädchen mit dem Gewünschten. Sie hat einen weiten Weg zurückzulegen. «Sind Sie schon lange bei Pupp?» – «Das xte Jahr» – «Na, da müssen Sie ja schon ein ganzes Vermögen erspart haben.» – Vermögen? Wovon? – «Nun, vom Lohn, Trinkgeld, und was sonst noch abfällt.» – Das Mädchen sah mich an wie einen, der irre redet: «Lohn? Gibt’s bei Pupp nicht, und das Trinkgeld, das will verdient sein. Kunden, die mehr als fünf Kreuzer geben, sind rar. Und davon müssen wir noch wegzahlen. Alle Monate 4 Kronen für das Inventar.» – Das müssen sie noch dem Pupp zahlen, der Ihnen keinen Lohn gibt? – «Ja, zum Herbst wird dann abgerechnet, aber man kriegt selten was zurück.» – Aber sonst müssen Sie dem Pupp nichts schenken? – «Nein. Nur die Kaffeewäsche müssen wir nach der Saison umsonst flicken.» – Ich dank schön!

Der Karlsbader lachte. «Sehen Sie, so geht es weiter auf Schritt und Tritt. Fragen Sie dort das Mädchen, das in der Blechbüchse Oblaten feilbietet – auch sie muß dem Café Pupp Perzente zahlen, und schau’n Sie die Stellwagen an, wie sie hinaushumpeln zum Kaiserpark. Das Projekt einer elektrischen Bahn mußte fallen, weil Pupp es so wollte, und dort, wo das Kaiserbad steht, sollte ein Kurhaus gebaut werden. Es blieb ungebaut, weil Pupp es so wollte. Im Großen und im Kleinen – überall müssen die Prinzipien der Anständigkeit, oft auch muß das öffentliche Interesse dem Geldsack der Familie Pupp weichen. So wie Pupp machen es heute auch die anderen. Kein Hotelier, kein größerer Hausbesitzer gibt seinen Kellnern und Kellnerinnen, seinen Stubenmädchen und seinen Lohndienern einen Kreuzer Lohn. Sie alle müssen sich mit dem Trinkgeld bezahlt machen, sie alle sind darum kriecherisch, korrumpirt und nicht selten auch – feil. Fragen Sie nur herum, haben Sie nur Ihre Augen offen.»

Ich that, wie mir gerathen wurde.

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Perzente vom Trinkgeld. Ein reicher Russe benützte den Nachtstuhl. Er war einsichtig genug, das Dienstmädchen dafür separat zu entlohnen. Täglich bekam das Mädchen einen Gulden Trinkgeld. Es währte nicht lange, und die Hausfrau erfuhr davon. «Einen Gulden täglich? Das ist für den Trampel zu viel!» so dachte sie und nöthigte das Mädchen unter der Drohung der Entlassung, ihr, der Gnädigen, von dem Lohn für die appetitliche Arbeit eine Krone täglich abzuliefern. Das Geld riecht nicht!

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Prinzessin Chimay und der Stückmeister. Prinzessin Chimay bewohnt sammt ihrem «Rigo», von dem die Karlsbader Blätter sogar mittheilen, wann er Billard spielt, im Westend-Hotel mehrere Räume. Sie soll – die Hotelrechnungen habe ich nicht gesehen – für sich und ihre Begleitung eine tägliche Pension von 700 Kronen zahlen. In einem der winkeligen Berggäßchen stieg ich bis zum Dach, um das «Heim» eines Stückmeisters zu besichtigen. Es besteht aus einem kleinen Zimmerchen und einer Küche und dient dem armen Kleinmeister, seinem Gehilfen, einem Lehrling, seiner Frau und vier Kindern, also acht Personen, als Wohn- und Arbeitsraum. Er zahlt dafür 240 Kronen Jahreszins, also ein Drittel dessen, was die Zigeunerprinzessin an einem Tag verbraucht. Der gewöhnliche Preis für ein Zimmer in Westend ist per Woche 140 bis 300 Kronen.

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Die Zinswucherer feiern überhaupt Orgien in Karlsbad. Ein Geschäftsmann erzählte mir, daß er für seinen Laden vor zehn Jahren nur 800 fl. zahlen mußte, und dann klagte er, daß seine Miethe heuer 5000 Kronen, also das Dreifache, beträgt, und diese mußte er für das ganze Jahr im voraus erlegen. Zu dem Kapital kommt also noch der Zinsenverlust. Einheimische bekommen überhaupt nur unter größten Opfern ein Lokal. Sie thun am besten, wenn sie sich an einen in Wien seßhaften Agenten wenden, die die Vermiethungen für Karlsbad besorgen, denn der Karlsbader Hausherr vermiethet grundsätzlich lieber an Fremde. Schuld ist daran sein – Lokalpatriotismus. Er empfindet nämlich, wie wahnsinnig das System der Ausbeutung ist, das er sich zurechtgelegt hat, und genirt sich, einen engeren Landsmann, vielleicht gar einen, der mit ihm auf der Schulbank gesessen, also auszubeuten. Das Geschäft der Wiener Agenten blüht, weil der Karlsbader Hausherr nicht ins Gerede kommen will, wenn ein Geschäftsmann zugrunde geht, weil er die hohe Miethe nicht erschwingen kann. Diese Vermiethungsmethode ist das verblümte Geständniß: «Ich bin ein Wucherer, möchte aber als Ehrenmann erscheinen!»

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Wohnungen für Kurgäste. Das Hauptkontingent der Fremden in Karlsbad bilden die Kurgäste, wirkliche und eingebildete Kranke, die hier Heilung suchen und dank der Heilkraft der Quellen auch finden. Ihre Zahl zählt nach Zehntausenden, und nicht viel kleiner ist die Zahl der Touristen, die dem weltberühmten Kurort einen Besuch abstatten. Alle diese wollen untergebracht sein, wollen Wohnung finden. So kommt es, daß in Karlsbad jeder vermiethet, der das Kapital hat, sich eine größere Wohnung, ein Stockwerk oder vielleicht gar ein Haus zu miethen.

Auch viele Aerzte sind so eingerichtet, daß die Kurgäste, die ihre Hilfe in Anspruch nehmen, gleich bei ihnen wohnen können. Bei der Sorge, die viele Menschen – je reicher sie sind, desto mehr – um ihren Kadaver haben, ist es den Aerzten nicht schwer, gute Vermiethungsgeschäfte abzuschließen. Einige Hm! Hm! bei der Ordination, einiges Kopfschütteln, ein kleiner, unschuldiger Rath, der sich wie zarte Besorgniß anhört, und – das Zimmer ist vermiethet. «Hm! Hm! Sie sollten nicht zu viel Treppen steigen. Ruhe! Schonung, mein Lieber. Wo wohnen Sie denn?» – Im Haus «Rothköpfiger Schwan». – «So, so.» – Drei Treppen hoch! – «Na, da haben wir’s ja, drei Treppen!! ... Pause ... Das ist ja ein Verbrechen bei Ihrem Zustand. Und dann diese steilen Treppen im «Rothköpfigen Schwan». Das dürfen Sie sich nicht zumuthen.» – Wenn ich nur mehr bekannt wäre, es ist aber so schwer, etwas Passendes zu finden. – «Wenn es sonst nichts ist, diese Sorge will ich Ihnen abnehmen. Ich habe gerade ein Zimmer frei, wenn es Ihnen paßt ... Bitte, meine Frau wird Sie geleiten.»

Am selben Tage noch muß sich der «Rothköpfige Schwan» nach einem neuen Mieter umsehen. Der Arzt hat aber sein «freies» Zimmer vermiethet. Freilich haben es nicht alle Aerzte so bequem. Junge Aerzte müssen oft sechs bis acht Jahre darben, ehe auch sie eine Praxis bekommen.

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Eine Kindergeschichte. Wie es oft den Vermiethern ergeht, davon weiß der kleine Viktor zu erzählen. Den ganzen Sommer über sind die nicht selten kinderreichen Familien der privaten Vermiether in eine oder zwei Dachbodenkammern gedrängt, die einzigen Räume im Hause, die man einem Fremden nicht gut anbieten kann, und die Kinder müssen engelsbrav sein, denn die Kurgäste brauchen Ruhe. Die Kranken sind reizbar, nervös und würden ein nächstesmal nicht einkehren, wenn sie durch den Lärm der Kinderstube belästigt würden. Die meisten Karlsbader Kinder sind darum den Sommer über Stiefkinder. Auch dem kleinen Viktor geht es so. Sonst ist er überall im Hause zu finden, von der dritten Etage bis zum Keller tollt er und gibt seinen Ueberschuß an Kraft in allerlei Allotria kund. Im Sommer aber heißt es schön still sein, und er paßt sich auch den strengen Gesetzen an. Eines Tages ist er aber aus der Kinderstube unter dem Dach verschwunden. Man ruft ihn, sucht ihn, keine Antwort. Da dringt ein eigenthümliches, eintönig rollendes Geräusch an das Ohr der schon geängstigten Mutter. Sie geht dem Schall nach und kommt bis zur Rumpelkammer auf dem Hausboden. Da sitzt der Kleine auf einer alten Kommode nach Türkenart und schlägt die auf den Beinen aufgestützte Trommel, daß es eine Freude ist. Und da ihn die erstaunte Mutter fragt, warum er sich hieher verkrochen hat, sagt er ihr: «Einmal im Sommer hab’ ich mich austrommeln wollen.» Armes Kind!

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So reiht sich Bild an Bild, eines anmuthiger als das andere. Für heute genug. Ein zweiter Brief soll von dem Kuchelfleisch und anderen Karlsbader Delikatessen handeln.

 

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