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Max Winter

Karlsbader Delikatessen

Feuilleton

Arbeiter-Zeitung vom 4. 8. 1901

Karlsbad, im Juli 1901.

Gestern war ich im Mariengäßchen. Es zweigt von der «Alten Wiese» ab und führt am Hinterhaus des Puppschen Grand Hotels zur Marienkapelle, neben der eine Tafel den Zugang zum Chotek-Weg weist. Wie könnte es auch sonst sein, als daß, wer zum Chotek-Weg will, an einer Kapelle vorüber muß? Für uns Oesterreicher ist darin nichts Auffälliges. In diesem Gäßchen gibt Herr Pupp an jedem Nachmittag Vorstellungen als Wohlthäter der Menschheit. Nach dem Schauplatz braucht man nicht lange zu suchen. Er ist in ein kleines Geschäftslokal verlegt, das als Firmenschild nur die Bezeichnung trägt: Fleisch- und Fettverkauf.

Es ist drei Uhr Nachmittags, da wir über das holprige Pflaster des Gäßchens bergan bis zur Kapelle steigen. Vor dieser sind einige Stufen, auf denen ein paar Weiber und Kinder hocken. Vor ihnen stehen Rücken- und Handkörbe. Ein Blick in die Körbe belehrt uns, daß wir es mit Abgesandten jenes Theiles der Bevölkerung von Karlsbad und Umgebung zu thun haben, der trotz eifrigster Arbeit gezwungen ist, von den Brosamen zu leben, die von den Tischen der Reichen abfallen. Die abgehärmten Frauen und Kinder warten auf die Eröffnung des Ladens, in dem das mehr berüchtigte als berühmte Karlsbader «Kuchelfleisch» verkauft wird. In ihren Körben haben sie große Weißblechgeschirre, Lavoirs, Thonhäfen und «Reindln», die zur Aufnahme der Puppschen Hinterhausdelikatessen bestimmt sind.

Kuchelfleisch? Was ist das eigentlich? So wird mancher fragen, der von dieser Spezialität der böhmischen Kurorte und namentlich Karlsbads nur etwas läuten gehört hat. Da wir in einem gut verwalteten Staat leben – Gott sei Dank –, so kann ich mit einer offiziellen Erklärung aufwarten. Als «Kuchelfleisch» werden nach einem Gutachten des Obersten Sanitätsrathes «in Karlsbad jene Ueberreste gekochten und gebratenen Fleisches bezeichnet, die wegen ihrer Unansehnlichkeit nicht mehr angerichtet werden können ... und die selbst schon für das Dienstpersonal zu schlecht sind. (Ergänzung des Verfassers). Diese Ueberreste bestehen aus Sehnen, Bändern, Fett, hauptsächlich aber aus dem noch an den Knochen haftenden Fleische. Eine zweite Art der Abfälle in den Gasthausbetrieben bilden jene Speisereste, welche von den Gästen auf den Tellern zurückgelassen werden; sie sind zum Theile auch mit Gemüsen, Saucen, Mehlspeisen etc. vermengt, werden in besonderen Gefäßen gesammelt und als Schweinefutter abgegeben. Eine dritte Art der Abfälle betreffen solche Fleischsorten, welche nicht abgesetzt werden konnten, als: alte Braten, verdorbene Fleischwaaren der Delikatessenhändler und dergleichen.»

Ueber die Verwerthung dieser Abfälle stellte die Prager Statthalterei eingehende Erhebungen an, und sie brachte heraus, daß diese Abfälle gegen «geringes Entgelt» – wie gering es ist, werden wir noch sehen – an arme Leute abgegeben werden, daß «die Abgabe nicht nur direkt an die Konsumenten erfolgt, sondern daß sich allmälig auch ein schwunghafter Zwischenhandel entwickelt hat, durch den die Speisenüberreste der Karlsbader Gasthöfe bis in die entlegensten Ortschaften des Bezirkes und über dessen Grenzen hinaus gebracht und an die arme Bevölkerung dieser Gegend verkauft werden». Dabei kommt es jedoch nicht selten vor», daß die als Schweinefutter abgesetzten Ueberbleibsel «noch von den Abnehmern sortirt und die hiebei gewonnenen größeren Stücke als Kuchelfleisch weiter verkauft werden. Namentlich seien es diese Fleischreste, deren Genuß zu verhindern sei, da sie, mit bereits verdorbenen Speiseresten vermengt, rasch in Zersetzung übergehen und darum für die Gesundheit in höherem Grade gefährlich werden können. Aber auch die als Kuchelfleisch in den Handel gebrachten Abfälle der ersten Kategorie, die, rechtzeitig genossen, an und für sich sanitär ganz unbedenklich sind, werden dadurch, daß ihre Abgabe an die Konsumenten in Folge des Zwischenhandels verzögert wird, der Verderbniß ausgesetzt und können in diesem Zustande nicht minder gefährlich werden als die aus den als Viehfutter in den Handel gebrachten Abfälle gewonnenen Fleischtheile».

Der böhmische Landessanitätsrath sprach sich darum gegen jeden Zwischenhandel mit Kuchelfleisch aus und befürwortete namentlich ein strenges Verbot des Hausierhandels mit solchen Speiseüberresten. Dennoch haben hier im Mariengäßchen die Weiber «Bucklkörbe» mit und darin Gefäße, die bis zu 40 Litern fassen mögen. Die vor der Kapelle Sitzenden sind die ersten am Platze. Bald bekommen sie Zuzug. Vor dem Eingang zum Lokal selbst drängen sich nun die Weiber und die Kinder, ein Bild, das lebhaft an das Gedränge des Elends erinnert, das man in Wien an Samstag Nachmittagen vor dem Meidlinger Verkaufslokal der Sterilisirungsgesellschaft für sinnige Schweine beobachten kann. In Wien sind es städtische, hier ländliche Proletarierfrauen. Besonders eine Alte ist typisch. Unter ihrem kurzen geblumten Rock von unkennbarer Farbe sieht man zwei runzelige braune Füße, die in Halbschuhen stecken. Den Luxus von Strümpfen leistet sich die Alte nicht. In ihrem Rückenkorb, den sie nun an die Wand stellt, hat sie unter einem schmierigen Umhängetuch ein Weißblechhafen, wie man es zum Auskochen der Wäsche verwendet, und außerdem ein Blechlavoir. Das alles soll mit Kuchelfleisch gefüllt werden.

Jetzt öffnet sich die Eingangsthür des Verkaufslokals, und der Strom der Weiber ergießt sich in den Innenraum. Sie drängen sich alle zu dem Schalter, hinter dem zwei Mädchen und eine ältere Dame, die auf ihr gebleichtes Haar kokett ein Küchenhäubchen gesetzt hat, stoßen. Die Dame – vielleicht ist sie eine Pupp – hatte ich schon früher gesehen. Der Zugang zum Chotek-Weg führt über eine Stiege, die durch ein Geländer gegen den Küchenhof des Puppschen Etablissements abgeschlossen ist. An diesem Geländer stand ich, als die alte Dame im Hof erschien und einem Mädchen, das eine Schürze voll ausgepreßter Zitronenstückchen trug, einige Stücke abnahm. Sie wählte sich die größeren Stücke aus. Bei Pupp wird nichts weggeworfen, was noch halbwegs Werth hat. Selbst ausgepreßte Zitronen liefern noch die Schalen. Diese selbe Dame stand nun hinter dem Schalter neben der Verkäuferin und überwachte den Verkauf, das heißt sie nahm das Geld entgegen.

Der Parteienraum ist von dem Verkaufsraum durch eine Glaswand getrennt. An dieser hängt zur Rechten eine Tafel, die charakteristisch für das System Pupp ist, von dem ich in meinem ersten Brief sprach. Die Tafel lautet:

Fettverkauf
von heute ab
60 kr. per Kilo.

Fett zu 60 kr. das Kilo, das muß schon etwas Besonderes sein, so dachte ich und trat dicht an die Glaswand, um den Verkaufsraum überblicken zu können. In der rechten Ecke, gegenüber einem Aufzug, steht ein Kübel, der zu zwei Dritteln mit gestocktem Bratenfett von bräunlich-gelber Farbe gefüllt ist. In diesem Kübel wühlt mit beiden Händen das zweite Mädchen und schert, die Hände als Schaufeln benützend, Fettklumpen zusammen, die sie dann auf eine kleine Dezimalwage legt und den armen Frauen zuwiegt. 60 kr. – das Kilo Fett! Aus einem der Hickmannschen Atlanten war mir zwar bekannt, daß man Lebensmittel, die in Wien 1 fl. kosten, in Karlsbad – der theuersten Stadt Oesterreich-Ungarns – mit 1 fl. 12 kr. bezahlen muß, dennoch mußte ich den Preis von 60 kr. für ein Kilo minderwerthiges Fett enorm hoch finden. In Wien kostet ein Kilo reines Schweineschmalz 68 kr., ein Kilo Kernfett 36 bis 40 kr. und ein Kilo Kochbutter 1 fl. 20 kr. Das ist reines, ungebrauchtes Fett. Es kostet im Durchschnitt 76 kr. Man muß diesen Durchschnitt annehmen, weil in der Puppschen Küche zweifellos auch diese drei Fettsorten verkocht werden, der Inhalt des Kübels also ein Gemenge dieser Sorten darstellt. Die Karlsbader Proletarier müssen somit das Abfallprodukt einer Waare mit 60 kr. bezahlen, die in Wien in reinem Zustand im Detail 76 kr. kostet. Herr Pupp kauft im Großen ein. Er zahlt demnach keineswegs so hohe Preise wie es die Wiener Detailpreise sind – er verkauft die Produkte nur mit höherem Profit weiter. Daraus folgt: Pupp, der Wohlthäter der Armen, verkauft den Armen das Abfallprodukt so theuer, als ihn das reine Produkt zu stehen kommt. Wer subtrahiren kann, weiß also, daß ihm der eigene Fettverbrauch als Rest bleibt, den er umsonst hat. Was er in seiner Küche an Fett braucht, das zahlen ihm die Proletarier aus Karlsbad und Umgebung. Gäbe es nicht die Armuth, die nach den Brosamen haschen muß, dann müßte Herr Pupp auch das Fett bezahlen. Zum Glück für Pupp gibt es aber arme Leute genug, und da die Welt so weise und schön eingerichtet ist, kann Herr Pupp Schätze auf Schätze häufen und ist dennoch ein Wohlthäter, denn «mit Rücksicht auf den bedeutenden Nährwerth der Ueberbleibsel» – so meint der Oberste Sanitätsrath in seinem Gutachten – «ist deren Verwendung im Interesse der ärmeren Bevölkerung erwünscht». An das Interesse der Pupp und seiner Nacheiferer – fast alle Karlsbader Hoteliers, auch die völkischen Arbeiterfreunde, machen es so – braucht der Oberste Sanitätsrath nicht zu denken. Diese Herren wahren schon selbst ihre Interessen.

Die armen Leute, die sich da um den Schalter drängen, scheinen es gar nicht zu empfinden, daß sie ausgewuchert werden. Und schon gar nicht kommt ihnen der vermessene Gedanke, daß sie die Wohlthäter Pupps sind. Sie zahlen schon 70 kr. für dieses selbe Fett und sind heute froh, es so billig zu bekommen. Wo anders zahlen sie noch höhere Preise und darauf, ob das Fett rein oder schon mit allerlei Bratensäften durchsetzt ist, kommt es der Armuth nicht an, weil es ihr darauf nicht ankommen darf.

Nun kommt auch die knöcherige Alte daran. Sie schiebt ihr Blechhafen auf den Schaltertisch. «Sechsmal!» sagt sie dabei. Das Verkaufsmädchen fährt mit einem Porzellanteller in einen Berg von Fleischstückchen – Siede- und Bratenfleisch –, der vor ihr in einem Fleischtrog liegt, häuft den Teller mit dem Fleisch an und läßt dann das Fleisch in das Blechgeschirr der Alten gleiten. «Einmal, zweimal, dreimal ...» sie zählt dabei. Als der sechste Teller in dem Blechgeschirr verschwunden ist, sagt die Alte: «Noch einmal!» Sie wirft einen prüfenden Blick in das Hafen. Sie hat noch immer nicht genug. Auch eine achte Portion verschwindet in dem Gefäß, das sie nun weghebt und zu ihrem Rückenkorb trägt. In das Lavoir läßt sie sich Fett einfüllen. Einige Kilo. Die weißhaarige Dame hinter dem Schalter nimmt das Geld entgegen, die Alte richtet sich zusammen und humpelt hinaus. Mir ihr einige andere Frauen und zwei Mädchen. Eben als die «zerlumpte Gesellschaft» ins Freie tritt, kommt ein junger Mann in weißem Flanellanzug des Weges daher. Scheu tritt er zur Seite, um die Frauen passiren zu lassen. Er fürchtet für seinen Flanellanzug. Die Frauen nehmen von ihm nicht Notiz und gehen ihrer Wege.

Wohin? Hinaus auf die Dörfer. Nach Fischern hinüber, dem schmutzigen Fischern, wo das Elend daheim ist, hinaus nach Maierhöfen und Alt-Rohlau, wo die schlechtestgezahlten Glasarbeiter und die «Purzliner» mit ihren kinderreichen hungrigen Familien hausen. Sie wissen schon, wo ihre Kunden wohnen.

Kein Hausierhandel, kein Zwischenhandel mit Kuchelfleisch, so fordert es der Prager Sanitätsrath; der Oberste Sanitätsrath ging wohl dem Hausierhandel zu Leibe, den er als unzulässig bezeichnete, aber die Abschaffung des Zwischenhandels erscheint ihm nur als wünschenswerth. Der Oberste Sanitätsrath verkennt eben nicht die Schwierigkeiten, die sich einem solchen Verbot entgegenstellen. Er kennt nicht nur die sanitären Gefahren, seine Nationalökonomen wissen auch, daß der volkswirthschaftliche Ausfall nicht zu groß sein darf, daß Werthe nicht so mir nichts dir nichts vernichtet werden dürfen, und darum wird die Abschaffung des Zwischenhandels nur als wünschenswerth bezeichnet. Wenn jeder Proletarier selbst mit seinem Häferl um eine oder zwei Portionen kommen müßte, dann würden sich gar viele den Weg überlegen, gar viele würden sich den Zeitverlust berechnen und herausbekommen, daß sie das Abfallprodukt theurer zahlen müssen als ordentliches Fleisch, und Herr Pupp und die anderen Karlsbader Hoteliers müßten ihre Waare ganz den Schweinen überlassen. Darum die Duldung des Zwischenhandels, der für Proletarier rettet, was für Schweine zu gut scheint.

Die Weiber mit den Rückenkörben verlieren sich draußen in der geputzten Menge, in der geputzten, geschniegelten und gebügelten Menge, in der Schaar der Koketten und Cocotten, der welken Jünglinge und der Lebegreise, die ob aller Krankheit nicht vergessen, dieser Welt des Scheines ihre Konzessionen zu machen. Es ist eine Schaar Weiß in Weiß. Grau in Grau hebt sich davon das Elend ab, das bald wieder die schmalen Berggäßchen hinaufkeucht, um durch sein Erscheinen nicht die Harmonie der Behaglichkeit, des Luxus und des Wohllebens zu stören. Die Weißgekleideten beachten kaum die Grauröcke, und wenn sie einen Gedanken haben, so ist es wohl nur das selbstbefriedigende, einlullende: Diese alle leben von uns. Wenn wir nicht wären!... Dann bummeln sie weiter, gedankenlos, neuen Freuden entgegen, die darum nicht immer lauter sein müssen.

 

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