Bibliographie Startseite

 

Max Winter

Höhlenbewohner in Wien

Kulturbilder vom Bau des Winterhafens

Arbeiter-Zeitung Nr. 218 vom 11. 8. 1901

Zu dem großen Programm, das die Kommission für die Wiener Verkehrsanlagen auszuführen hat, gehört auch der Bau des Winterhafens in der Freudenau, der am sogenannten «Praterspitz», dort, wo der Donaukanal in den Strom ausmündet und die Praterinsel in eine Spitze ausläuft, angelegt wird. Die Arbeit besteht im wesentlichen darin, das Hafenbecken auszubaggern, seine Ufer zu mauern und das anstoßende Terrain – mit Unkraut bewachsene Sandflächen und sumpfige Auen – zu ebnen, das heißt bis auf die Höhe der Dämme aufzuschütten. Außerdem müssen Fahrstraßen zum Hafen angelegt und Raum für Verwaltungs- und Wohngebäude geschaffen werden. Das Terrain ist zur Rechten vom Donaukanal und zur Linken vom Donaustrom begrenzt. Es liegt, obwohl noch zum Stadtgebiet gehörend, weit außerhalb der städtischen Ansiedlungen und eine gute Wegstunde entfernt von den letzten Zinsburgen der Großstadt, die die Wohnhäuser des Proletariats sind.

Da der Hafenbau mehrere hundert Arbeiter erfordern mußte, mußte es auch eine Sorge der Sanitätsbehörden sein, auf die ordentliche Unterkunft dieser Menschenmassen bedacht zu sein. Ja, schon die gesetzgebende Körperschaft, die die Kommission mit ihren Befugnissen ausstattete, mußte darauf Bedacht sein, sanitäre Gefahren von der Großstadt abzuwenden, indem sie die zuziehenden Arbeiter vor solchen Gefahren schützte. Das Abgeordnetenhaus beschloß denn auch in seiner Sitzung vom 8. Juli 1892 auf Antrag des Gewerbeausschusses eine Resolution, in der die Regierung aufgefordert wird

3. auf die sanitären Verhältnisse und die Unterkunft der aus Anlaß der Ausführung der öffentlichen Verkehrsanlagen in Wien sich ansammelnden Arbeiter ihre Aufmerksamkeit zu richten, wenn nöthig Begünstigungen für den Bau provisorischer Unterkunftsbauten zu gewähren und die Aufnahme erkrankter Arbeiter in die bestehenden oder provisorisch zu errichtenden Spitäler zu sichern.

Zugleich beschloß das Abgeordnetenhaus ein Gesetz, womit ein spezieller Gewerbe-Inspektor für diese Arbeiten bestellt wurde. Der § 2 dieses Gesetzes lautet:

Dieser Gewerbe-Inspektor ist insbesondere verpflichtet, in dem von ihm alljährlich zu erstattenden Bericht genaue Angaben über die Lohn-, Wohnungs- und Sanitätsverhältnisse der bei der Ausführung der öffentlichen Verkehrsanlagen in Wien beschäftigten Arbeitspersonen sowie über die Art der Arbeitsvergebung und die Arbeitszeit zusammenzustellen.

Der Inspektor wurde in der Person des Oberingenieurs der Generalinspektion der österreichischen Eisenbahnen Viktor Würth bestellt, und es kann ihm das Zeugniß nicht vorenthalten werden, daß er namentlich in den ersten Jahren von haarsträubenden Mißständen bezüglich der Unterkunft berichtete und auch bemüht war, diese Mißstände abzustellen. Seine Kraft versagte aber, namentlich beim Bau des Winterhafens, als sich die ungarischen und slovakischen Arbeiter, die von den offen zugänglichen Plätzen an der Donauuferbahn vertrieben wurden, in die «Dschungeln» vom Praterspitz verkrochen und dort, gedeckt von wildverwachsenen Unkrautfeldern und Auen, ihre Erdhöhlen bauten, in denen sie nun schon seit Jahren hausen, so lange hausen, als der Gewerbe-Inspektor Würth in seinen Berichten schreibt: «Derartig schlechte und überfüllte Unterkünfte für ganze Arbeiterpartieen, wie ich sie in früheren Jahren angetroffen habe, sind mir im Berichtsjahre nicht vorgekommen» (1900) oder: «Es ist mir auch sonst nichts über das Bestehen solcher Unterkünfte bekannt geworden.» (1899.)

Nach der Meinung des Herrn Würth, oder besser nach der Kenntniß, die Herr Würth von den Wohnungsverhältnissen am Praterspitz besitzt, sind diese nun so, daß kein besonderer Anlaß zu Beschwerden oder zu Beanstandungen vorliegt. Daß dem leider nicht so ist, werden die nachfolgenden Schilderungen illustrieren. Zusammenfassend möchte ich nur vorausschicken, daß ich bei der Ausmessung der Barackenquartiere bei 67 Männern einen durchschnittlichen Luftraum von 6.15 Kubikmeter per Kopf fand, daß aber der Luftraum, welcher 66 in Hütten und Erdhöhlen wohnenden Personen zu Gebote steht, im Durchschnitt gar nur 2.66 Kubikmeter per Kopf beträgt, gegen 10 Kubikmeter Mindestluftraum, den Obersanitätsrath Professor Gruber und die k. k. Gesellschaft der Aerzte als gesetzliches Mindestmaß für eine Bauordnung verlangen. Der Grazer Professor der Hygiene Dr. W. Prausnitz verlangt in seinen «Grundzügen der Hygiene» auf Seite 221 gar, daß «es nicht gestattet werden dürfe, daß Gelasse als Schlafzimmer dienen, wenn sie nicht wenigstens für jedes Kind unter zehn Jahren einen Luftraum von 10 Kubikmeter und für jede ältere Person einen solchen von 15 Kubikmeter gewähren».

Die Wiener Aerzte verlangen auch ein Mindestmaß von vier Quadratmeter Grundfläche, ich fand in den Baracken 2.41 Quadratmeter und in den Hütten gar nur 1.43 Quadratmeter Grundfläche.

Die Belichtungsflächen, die Fenster, sollen wenigstens die Größe eines Zwölftels der Bodenfläche haben. In den Baracken fand ich, daß sie ein Zwanzigstel ausmachen, und in den Hütten gibt es mit ganz wenigen Ausnahmen überhaupt keine Fenster.

Zu alledem kommt, daß für zehn Baracken nur zwei Aborte vorhanden sind, daß ein Brunnen auf sumpfigem Boden steht und das Wasser dieses Brunnens so schlecht ist, daß die Arbeiter das Wasser aus dem offenen Gerinne der Donau vorziehen – kurz, da unten am Praterspitz gibt es eine Summe von sanitären Gefahren, die geradezu ungeheuerlich ist, dies den schönen Beschlüssen des Abgeordnetenhauses zum Trotz und zum Trotz auch dem Gewerbe-Inspektor, dem die Ueberwachung der Wohnungs- und Sanitätsverhältnisse zur Pflicht gemacht ist.

Die nun folgenden Schilderungen sollen erweisen, was hier in wenige Ziffern zusammengedrängt ist, und sie sollen das Elend illustriren, das diese Zustände zeitigen muß. Es ist eine Kulturschande, wie sie schlimmer nicht ausgedacht werden kann.

* * *

Die Aukolonien.

Mein Führer und Dolmetsch war ein alter ausgedienter Schiffsheizer, der auf seine alten Tage von Ungarn hieher verschlagen wurde, nun aber wieder dieser Pein entfliehen wollte. Er war entlassen worden, und dies jedem mitzutheilen, ist dem alten Mann Herzensbedürfniß. Er streicht dabei seinen graumelirten Schnurrbart, der dem feuergebräunten Gesicht energischen Ausdruck gibt. Seine Augen können wie flehende Kindesaugen dreinblicken und doch auch wieder Blitze voll Thatkraft und Lebensmuth schießen. Wir waren in der Kantine bekannt geworden, und er hatte gleich zu mir Vertrauen gefaßt, weil er mich, wie ich später erfuhr, für Einen vom Ministerium hielt. So oft wir auf unserer späteren Wanderung in eine Hütte krochen und die Weiber fragten, wer ich sei, zog er geheimnißvoll seine struppigen Brauen in die Höhe und sagte: «Zivil ... Ministerium.» Nach der ersten solchen Vorstellung machte ich einen Versuch ihn über meine Absichten aufzuklären, aber er blieb verständnislos und sagte zum Schluß nur: «Waiß schon! Gehaim ... Ministerium. Hoben wir in Budapest auch!» So blieb ich denn der Abgesandte des Ministeriums und bekam deshalb merkwürdigerweise nirgends Schläge. Die Leute meinen offenbar, daß ein Ministerium von ihrem Elend keine Kenntniß zu haben braucht. Sie sind an ungarische Sozialpolitik gewöhnt und finden darin nichts Auffälliges, daß es vor den Thoren Wiens nicht anders zuzugehen braucht, wie in Czongrad oder vor den Thoren Szegedins.

Zunächst machte mich der Alte mit seinem Leid vertraut. Er war roh behandelt worden und hatte deshalb sein Arbeitsverhältniß gelöst, das ihm ohnedies nur furchtbare Qual und wenig Lohn eintrug. «Vierundzwanzig Stund’ Dienst, vierundzwanzig Stund’ frei und 1 fl. 30 kr. alle Tag’. Schlaft hob ich auf Schiff. Aber durt kann ich nicht schlafen. Gestern hob ich schlafen auf die Wald ... worm! Kann ich nicht ausholten auf die Schiff.» Dabei nimmt er einen ungemeinen leidenden Ausdruck an. Man sieht ihn förmlich, wie er sich in der dumpfen Kabine wälzt, hin und herwirft und endlich ans Land geht, um in der Au einige Stunden Ruhe zu finden.

«Aber jetzt is aus, hob ich mich bedonkt gestern. Hait geh ich auf die Stadt. Vierundzwanzig Stund auf die Schiff – orbeiten. Auf die Hochzait is vierundzwanzig Stund’ genug, wo Menschen essen und trinken ... na, hob ich recht? ... und nit orbeiten.»

Da er merkte, daß ich mir hin und wieder Notizen machte, versuchte er, mich zu bestechen. «Einen vom Ministerium» muß man sich «bai Zaiten» günstig stimmen: «Trinken Sie ain Glos Bier, Herr, ich zohl!» Meine entschiedene Ablehnung quittirte er mit dem treuherzigen Kompliment: «Edle Monn! Schön von Ihnen, daß Sie aufschraiben!»

Dann traten wir unsere Wanderung an.

* * *

Die erste Ansiedlung. Hinter der Kantine, einem Bretterbau, geht ein vertretener Weg durch die verwüstete Au. Diesen schreiten wir dahin, um zu der ersten Ansiedlung zu kommen, zu den ersten «Arbeiterwohnungen», die die Firma Mittelmann aus Preßburg, der der Bau des Winterhafens übertragen wurde, beigestellt hat. «Beigestellt» ist eigentlich zu viel gesagt. Sie versprach wohl den Arbeitern, die sie aus Ungarn nach Wien zog, durch ihre Agenten Wohnungen, gab ihnen dann aber nur – Bretter, aus denen sie sich ihre Hütten selbst bauen sollten. Wem es nicht recht war, der konnte ja wieder zurückwandern.

Wir haben nicht weit zur ersten Ansiedlung. Sie ist die schönste von allen, die wir sahen, und doch gleicht sie mehr einem Hottentottendorf als der Ansiedlung von Arbeitern, die ein Kulturwerk schaffen. Die erste Hütte, deren wir ansichtig werden, hat schon so eine merkwürdige Umgebung. Auf dem freien Platze neben ihrer Rückwand erhebt sich ein mannshoher grauer Kegel, aus Lehm gebaut, der etwa in Meterhöhe ein kleines Loch hat. Es ist ein Ofen zum Brotbacken, den sich die kleine Kolonie errichtet hat. Durch das kleine Loch nimmt der Rauch seinen Weg. Vor der Hütte ist ein freier Platz, der von der etwas tiefer liegenden Au ringsum begrenzt ist. Der Boden ist dort, wo er nicht als Mistablagerungsstelle dient, wild von Brombeerenranken überwuchert. Der Platz mündet in einen Weg, der zu den anderen Hütten dieser Kolonie führt.

Bevor wir ihn gehen, werfen wir einen Blick in die erste Hütte. Sie gehört einem Steuermann auf einem Schiffe der Donauregulirungskommission. Es ist alles eng und klein und ausgefüllt mit dem armseligen Hausrath, den eine Familie, die ewig auf der Wanderschaft ist, brauchen kann: Ein großes Bett, ein kleines, roh aus Brettern gezimmertes Bett, mehr eine längliche Kiste, ein Tisch, eine Bank, darauf ein Waschtrog, ein Koffer und ein kleiner eiserner Herd bilden das Mobiliar dieser Hütte, die ich als die beste auf meinem Rundgang fand. Der Boden ist mit Brettern belegt, die fensterlosen Innenwände sind mit Zeitungspapier tapeziert. Die Hütte ist 2.6 Meter breit und hoch und 3.9 Meter lang. Die glücklichen Menschen, die in ihr hausen: der Steuermann, seine Frau und sein Kind, haben also 26 Kubikmeter Luftraum und 8.6 Quadratmeter Bodenfläche, sie bleiben hinter dem von den Hygienikern geforderten Mindestmaß nur um 4 Kubikmeter Luftraum und um 3.4 Quadratmeter Bodenfläche und um die ganze Belichtungsfläche, die hier ein Quadratmeter großes Fenster bilden müßte zurück. Ihr Zustand ist eine ideale Ausnahme, so daß ich diese Ziffern gar nicht in Berechnung ziehen konnte. Es ist ein Einzelfall, der mit der Regel nichts zu thun hat und mitberechnet, nur das wahre Bild der Wohnungsverhältnisse am Praterspitz trüben müßte.

Als ich die Hütte vermaß, wußte ich das noch nicht, und ich entsetzte mich über diese menschenunwürdige Wohnung. Die Frau des Steuermannes tröstete sich: «So geht’s halt den armen Leuten, die herumwandern müssen.» – «Mocht nichts,» fiel mein Führer ein, «die Raichen müssen auch krepir’n.»

* * *

Das Asyl für Frau und Kind. Ein anderer Schiffsmann, ein Matrose, hat seine Familie nicht so gut untergebracht. Im Halbkreis stehen drei Hütten auf dem Platz, wohin uns der Weg von der ersten Hütte führt. In die kleinste – sie hat das Aussehen einer größeren Hundehütte – krieche ich zuerst. Die Thüröffnung ist durch einen schmierigen Lappen verhängt. Ich schlage ihn zurück und schlüpfe in gebeugter Haltung in das Innere, wo ich auch nicht aufrecht stehen kann. Die Hütte ist nämlich nur anderthalb Meter hoch und etwas höher bin ich doch gerathen. Sie ist 1.75 Meter lang und 1.75 Meter breit, hat also alles in allem 3.18 Kubikmeter Luftraum und drei Quadratmeter Bodenfläche. Sie dient der Frau des Matrosen und seinem etwa dreijährigen Kinde zum Wohn- und Schlafraum. Ihr Mobiliar: Ein wackeliges Bett, roh gezimmert, schmieriges Zeug darauf, auf diesen ein angeschnittener Brotlaib, ober ihm an der Wand hängend Küchengeräthe, eine erdene Rein, eine Schüssel, ein durchlöchertes Sieb – in einer Wandrippe stecken Messer und Gabel -, und als zweites Möbelstück gegenüber dem Bett ein Mittelding von Küchenkasten und Wandregal, ein Brettergestell, auf dem Geschirr umsteht. Die Puppe der Kleinen liegt daneben, dann noch Kamm und Bürste, Mehl und Salz in Papiersäcken, über allem Schmutz und Staub. Unter dem Bett liegen noch zwei Laib Brot auf dem feuchten Erdboden, der ungedielt ist. Mit Grauen wendet man sich von einer solchen Stätte menschlichen Jammers.

Ihre Küche hat die Matrosenfrau im Freien aufgeschlagen. Drei Steine umgrenzen die Feuerstelle. Sie bilden zugleich die Basis für die gebrochene Herdplatte. Ist das Wetter schön, dann geht’s ja noch, dann spielt sich ihr Leben und das ihrer Nachbarinnen, die auch Herdstellen vor den Hütten haben, im Freien ab und die Hütten dienen nur als Unterschlupf für die Nachtzeit. Wie aber, wenn es regnet? Was im Herbst, was im Winter? Dann muß die Matrosenfrau und ihr Wurm den größten Theil der Zeit in der Hütte mit 3.18 Kubikmeter Luftraum zubringen, dem sechsten Theil dessen, was die österreichischen Hygieniker als Minimum vorschreiben, dem elften Theil dessen, was die österreichische Heeresverwaltung den Soldaten in der Kaserne als Luftraum zuerkennt (17 Kubikmeter per Mann), und dem zehnten Theil des Luftraumes, den das englische Gesetz für die Gefängnisse vorschreibt (16 Kubikmeter per Kopf). So wird die von Armen so gerne gebrauchte Hyperbel: «Da ist es ja zehnmal besser im Kerker wie hier,» da unten am Praterspitz buchstäblich wahr.

* * *

Die anderen beiden Hütten sind größer. Die eine hat 12.7 Kubikmeter Luftraum und 5.7 Quadratmeter Bodenfläche, die andere 13.2 Kubikmeter und 6.6 Quadratmeter. In jeder hausen drei Personen. Luftraum per Kopf in der ersten Hütte: 4.2 Kubikmeter, Bodenfläche 1.9 Quadratmeter statt 4; in der zweiten Hütte: 4.4. und 2.2. In der ersten Hütte liegen Zwiebel unter dem Bette und ringsumher Mist. Die andere ist die weitaus netteste Hütte von allen dreien. In ihr waltet eine stille brave Frau, die selbst solchem Elend muthig Trotz bietet. Den Erdboden, der auch hier die Dielen ersetzt, hat sie rein gefegt und mit Wasser besprengt. Die anderen beiden Frauen empfanden den Unterschied wohl, denn als ich aus dieser Hütte trat, lud mich die kleine rundliche Frau des Matrosen ein, nochmals in ihre Hütte zu treten, sie sei jetzt zusammengeräumt, und die andere Frau wusch ihr Kind, um es mir rein zu präsentiren.

* * *

Luft genug! Wir gehen weiter auf dem Aupfad. Ziemlich unvermittelt hat er ein Ende. Er verläuft in einem Tümpel, den aufsteigendes Wasser über Nacht bildete. Wir versuchen mit Hilfe einer «Brücke» das andere Ufer zu gewinnen. Umsonst. Die Brücke, ein breites, über einen Kahn gelegtes Brett, schwimmt in der Mitte der Lache, und wir müssen wieder auf die Dammhöhe zurück, um dort die versumpften Aupartien zu umgehen. Auf dem Damm hat sich eine ganze Bretterstadt etablirt. Ein Bierdepot, ein Kaufmanns- und ein Friseurladen wurden errichtet und auch ein halbwegs wohnlich hergerichtetes Bretterhaus steht in der Front. Es gehört dem Oberingenieur, der den Bau leitet. An diesem Haus vorüber führt uns ein schmaler Weg in das «Tümpeldorf», wie ich die von Tümpeln umfriedete zweite Ansiedlung in dieser Au taufen will. Vorher sehen wir noch eine Arbeiterwohnung mit überaus genügendem Luftraum: die einzige auf unserer Wanderung. Auf den ersten Blick sehen wir, daß die sechs oder acht «Kubikos» – Scheibtruhenführer –, die hier ihr Nachtquartier aufgeschlagen haben, genügend Luftraum haben. Es ist nämlich ein Graben, der als Wohnung dient. Auf seine Sohle ist Stroh gelegt, das den müden Proletariern das Bett ersetzen muß. Jetzt ist es nichts mehr damit. Das beginnende Hochwasser der Donau begünstigt das Aufsteigen des Grundwassers, und so beginnt sich auch dieser Graben wieder mit Wasser zu füllen, und die Steinführer werden sich um andere höher gelegene Quartiere umsehen müssen.

* * *

Tümpelwasser fürs Brot. Da wir dieses Nachtlager betrachten, kommt uns ein Mann nachgelaufen, wahrscheinlich ein Geschäftsmann von da unten, der mich bittet, dem Skandal ein Ende zu machen. «Es ist unmenschlich, was hier vorgeht. Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber helfen Sie. So kann es nicht fortgehen. Wir werden noch alle verseucht. Wenn unsereiner seine Pflicht nicht erfüllt, weiß ihn gleich die Behörde zu finden, da aber geschieht nichts. Wir alle leiden darunter. Ich bitt’ Sie, verrathen Sie mich aber nicht. Fragen Sie die Leut’, was sie für ein Wasser haben. Sie werden staunen. Aus den Tümpeln nehmen Sie das Wasser zum Brot. Da muß es Kranke geben. Also nicht verrathen!» Fort war er, hinter dem Gesträuch verschwunden. So plötzlich fort, wie er gekommen.

* * *

Im «Tümpeldorf». Eine Minute später standen wir im «Tümpeldorf», wieder einer kleinen Ansiedlung, die in die Nähe einer Baracke für Schmiede und Schlosser hingebaut ist. Die ersten Hütten, die wir sehen, sind nicht gar so unfreundlich wie die oben geschilderten, aber immerhin schlimm genug. Ueberall ungedielter Boden, nirgends Fenster. Das Leben spielt sich im Freien ab. Vor jeder Hütte hocken Weiber und Kinder, oder sie arbeiten. Die Frau in der ersten Hütte hat eben ihre «Küchenarbeit» beendet. Sie kann dank einer genialen Einrichtung auch bei Regenwetter im Freien kochen. Neben der Hütte hat sie sich nämlich eine Küche «gebaut». Drei junge Pappeln, die im Dreieck stehen, mochten sie auf die Idee gebracht haben, sie als Säulen zu einem Dach zu benützen. In etwa zwei Meter Höhe sind die Stämme durch abgeschnittene Aeste quer miteinander verbunden. Ein größerer in den Boden gerammter Ast dient als vierte Säule. Auf dem leichten Gerüst liegen der Kreuz und Quere Zweige und kleinere Aeste, so daß sie eine Decke bilden. Unter dieser baute sie ihren Herd und kann nun, auch wenn es regnet, im Freien kochen.

* * *

Beim Dorfschuster. Am schlimmsten daran ist im «Tümpeldorf» der Schuster der Kolonie. Mit Stolz zeigt er mir zwei Paar alte Schuhe, die ihm der Herr Oberingenieur zum Repariren gegeben hat. Er will sich damit legitimiren, daß er die Berechtigung hatte, hier seine Hütte zu bauen, und zugleich führt er Klage darüber, daß er, der durch den Reparaturenauftrag gewissermaßen offiziell anerkannt ist, sich das Bauholz für seine Hütte selbst beschaffen mußte. Nicht einmal das bekam er von der Unternehmung Mittelmann. Er mußte sich die Bretter selbst kaufen.

Seine Hütte ist innen sauber austapeziert mit der – «Abendpost». Die offiziöse «Abendpost» schaut auf all das Elend herunter, das sich zwischen diesen vier Wänden abspielt, und vielleicht ist gar jene Nummer darunter, in der nach dem letzten Gewerbe-Inspektorenbericht der Satz zitirt oder in anderer Form mitgetheilt war, der also lautet: «Derartig primitive Unterkünfte, wie sie in den Vorjahren einigemale angetroffen wurden, habe ich bei meinen Wohnungsbesuchen diesmal nicht gefunden.» Und doch hat der «offiziell anerkannte» Schuster vom Tümpeldorf eine «derartig primitive Unterkunft». Vier Kinder: Ein, zweieinhalb, fünf und sechs Jahre alt, der Schuster und sein erdbraunes Weib schlafen und wohnen in dieser fensterlosen, ungedielten Hütte, die im ganzen einen Luftraum von 11.88 Kubikmeter und eine Bodenfläche von 6.6 Quadratmeter hat, jedem Bewohner also kaum 2 Kubikmeter Luftraum und 1.17 Quadratmeter Bodenfläche bietet. Professor Philippovich erzählt in seiner Untersuchung der «Wiener Wohnungsverhältnisse», daß er Wohnungen sah, wo auf die Person 1 Quadratmeter Bodenfläche und 3 Kubikmeter Luftraum kamen, und fügt die Bemerkung daran: Das ist ein «kaum von der Unterbringung der Hausthiere erreichter Tiefstand in der Befriedigung des Wohnungsbedürfnisses». Das war 1894, also vor sieben Jahren. Wie viel sozialpolitische Belehrung mögen wohl die Behörden aus dieser aufsehenerregenden Publikation geschöpft haben, wenn heute nach sieben Jahren dieser «Tiefstand» durch noch schlimmere Zustände bei öffentlichen Arbeiten überboten wird, zu deren Ueberwachung ein eigener Beamter durch ein spezielles Gesetz bestellt wurde?

Wie schlafen die sechs Menschen in der Hütte? Es sind zwei Bettverschläge da, ein größerer und ein kleiner. In dem größeren liegen Mutter und Vater, in dem kleineren drei Kinder und das vierte Kind muß sich auf den Erdboden legen. Die beiden Aeltesten wechseln damit ab, trotzdem dieses Lager auch nicht härter ist, als das Lager in den Betten, die statt der Matratzen und Strohsäcke Bretter als Unterlage haben, auf die eine Binsenmatte und altes Gelump gebreitet ist.

* * *

Ein Vertrag mit der Hafenbauunternehmung. Die Klage des Schusters über die Unternehmung, die ihm nicht einmal die Bretter zum Wohnhaus beigestellt hatte, machte mich stutzig, und ich suchte in das Vertragsgeheimniß, das Herr Mittelmann mit seine Arbeitern theilt, einzudringen. In einer der Hütten kam mir der Zufall zu Hilfe. Ich fand ein gedrucktes Formular folgenden Inhalts, den ich buchstabengetreu wiedergebe:

 

Nr. 000
Arbeitsbuch von ......
geb. 18 ... aus ... übernommen am .... 19 . .

Das Arbeitsverhältnis kann beiderseits ohne vorhergegangener Kündigung zu jeder Stunde gelöst werden. Akkordarbeiter sind jedoch erst dann auszutreten berechtigt, wenn sie die übernommene Arbeit ordnungsgemäß vollendet haben. Die Arbeiter bekommen keine Wohnung. Für die Zeit, während welcher wegen Regen oder sonstiger Witterungsverhältnisse die Arbeit eingestellt ist, wird kein Lohn bezahlt. Jeder Betriebsunfall ist allsogleich in der Baukanzlei zu melden. Das Arbeitsbuch kann nur gegen Rückgabe dieser Bestätigung wieder ausgefolgt werden.

Freudenau ...... 19 . .
Freudenauer Hafenbauunternehmung.

 

Dieser Vertrag hält sich mit all seinen Härten und Undenkbarkeiten leider nur zu genau an die «Arbeitsordnung», die die Kommission für die Verkehrsanlagen in ihrer Sitzung vom 21. Dezember 1892 beschlossen hat. Namentlich bezüglich des Baues des Winterhafens mußte die Kommission in die Arbeitsordnung eine Bestimmung aufnehmen, daß der Unternehmer auch die Verpflichtung für ordnungsgemäße Unterkunft übernehmen muß, da ja weit und breit kein Wohnhaus steht und die 600 Arbeiter und die vielen Frauen und Kinder, die sie mitziehen, doch nicht im Freien übernachten können. Die Kommission für Verkehrsanlagen hat sich diese Aufgabe wirklich sehr leicht gemacht und auch den heutigen Nachfolgern der damaligen Kommissionsmitglieder scheint es nicht einzufallen, an dem Beschluß ihrer Vorgänger zu rütteln oder sonstwie Rath zu schaffen, denn sonst hätte schon längst die Kommission die Wohnungsfrage am Praterspitz regeln müssen. Freilich, die Herren Wittek und Kielmannsegg, Lueger und Liechtenstein, Steiner und Strobach, diese sozialpolitischen Leuchten der Verkehrsanlagenkommission, schlafen zu gut, als daß sie an die Mitarbeiter an dem Kulturwerk zu denken brauchten. Den Oberantisemiten bleibt es gleich, wie der jüdische Unternehmer Mittelmann die Arbeiter schindet.

* * *

Eine Baracke. Im «Tümpeldorf» steht auch eine Baracke, deren einen Schlafraum ich vermessen konnte. Er hat 42.9 Kubikmeter Luftraum und 25.87 Quadratmeter Bodenfläche und enthält die Schlafstätten für zehn erwachsene Personen, Schlosser und Schmiede. Das ist eine der Baracken, von denen der Verkehrsanlageninspektor in seinem Bericht (1900) erzählt: «Eine Ueberfüllung dieser Unterkünfte habe ich bei meinen wiederholten Revisionen nicht konstatiren können.» Oder sollte der Herr Gewerbe-Inspektor gerade diese Baracke im «Tümpeldorf» nie gesehen haben? Auch möglich. Versteckt genug in der Pappelau liegt dieses Massenquartier, das nicht die Hälfte des Luftraumes und nur fünf Achtel der nöthigen Bodenfläche bietet.

* * *

Schiffsquartiere. Ledige Matrosen und andere Schiffsleute sind in Schiffsquartieren untergebracht. Diese Schlafhütten sind auf größere Holzschiffe gestellt, der Zugang zu ihnen führt über schwanke Stege, Bretter, die vom Land zum Schiffsrand führen. In eine solche Hütte treten auch wir. Sie hat 24 Quadratmeter Bodenfläche und 63.7 Kubikmeter Luftraum und dient zehn Personen als Schlaf- und Wohngemach. Um Bewegungsraum zu schaffen, ist das Stockbettensystem angewendet. Immer zwei Betten sind übereinander.

Wir sind nun mit den auf der Landstrecke zwischen dem Winterhafen und dem Donaustrom liegenden Wohnungen, bis auf die großen Baracken, fertig und wenden uns an das andere Ufer des Winterhafens, wo auf dem Landstreifen zwischen Hafen und Donaukanal, im Augestrüpp versteckt, noch eine große Anzahl von Hütten liegt. Dort werden wir sehen wie der «Kubikos» wohnt.

* * *

Bei den «Speckmicheln».

Der «Kubikos» an der Arbeit. Ein Fährmann bringt uns an das andere Ufer des Hafens. Dort wird eben der Hafenquai gemauert und eine Zufahrtsstraße angelegt. Hier sehen wir den «Kubikos» an der Arbeit. Die weiten Hosen bis zum Gesäß aufgestreckt, die nackten Füße in Schnürschuhen steckend, die bis über die Knöchel reichen, den Oberkörper durch ein offenes flatterndes Hemd mit Stutzärmeln nothdürftig bedeckt, auf dem Kopf ein kleines, rundes Hüterl, speckig und dreckig wie der ganze Mensch... so angethan schiebt er Karren um Karren vom Schotterschiff herauf über die Böschung und entleert den Inhalt dann auf die Straße, deren Contouren sich schon von der Umgebung abheben. Bärenmenschen sind es mit stählernen Muskeln, sonngebräunt sind sie wie Tropenmenschen und fleißig, unermüdlich fleißig. Karren um Karren schiebt er herauf: zehn, zwanzig, dreißig in der Stunde, hunderte im Tag.

So arbeitet er.

Und Abends kriecht er in seine Hütte, legt sich auf sein Lammsfell, schneidet sich von dem Speck, der tagsüber als Fliegenfutter über seinem Bette hängt, ein Stück herab, dazu einen Brotkeil, ein Fläschchen Schnaps, ißt und schläft dann hinüber ins Land der Träume, oder er wälzt sich, von hunderten Flöhen und Wanzen gepeinigt, auf seinem Lager.

So genießt er.

Mehr Thier als Mensch in beidem: Während der Arbeit, beim Genießen. Diesen Typus, mein Führer nennt ihn den «Szegediner Speckmichl», wollen wir nun in seinen Höhlen aufsuchen, buchstäblich Höhlen, denn es sind in die Erde eingebaute Hütten, besser: überdachte Höhlen, in die wir nun treten sollen.

* * *

Die ersten Höhlen. Dort, wo das Hafenterrain an den Freudenauer Rennplatz grenzt, wo sich der Luxus und das Wohlleben alle Jahre einigemale Rendezvouz geben, dort wohnt versteckt in niedrigem Pappelgesträuch der «Kubikos», soweit er Familie hat. Wohl auch einige Ledige wohnen hier und nicht in den großen Baracken, wo sie sich des Ungeziefers gar nicht erwehren können. Im Querschnitt stellen diese Hütten einen Halbkreis vor. Das Dach ist mit Matten oder Dachpappe überzogen. An der Stirnseite haben sie eine Einstiegstelle, durch die man nur gebückt in das Innere schliefen kann. Gleich die erste solche Höhle betreten wir. Die Sohle liegt unter dem Niveau, und dennoch ist die Höhle nur 1.3 Meter hoch. Mit 2.80 Kubikmeter ist der Luftraum eher zu hoch als zu niedrig berechnet, und die Bodenfläche beträgt 2.2 Quadratmeter. Hier schlafen zwei Menschen, zwei der Thiere, die wir früher an ihrer Arbeit gesehen haben. Zwei etwas über den Erdboden auf Stützen gelegte Bretterlager von 1 ¾ Meter Länge sind ihre Bettstellen. Dazwischen bleibt ein schmaler Raum von kaum einem halben Meter. Auf den Brettern liegen ihre Pelze aus Lammfell und darauf das Brot. Ueber den Betten hängen Speckstücke, stecken Messer und Löffel in der Wand: die Mittel zur Lösung der Magenfrage; unter den Betten liegen Krampen und Schaufel, die Werkzeuge dieser ungarischen Wanderarbeiter.

Jeder der beiden hat 1.4 Kubikmeter Luftraum, 1.1 Quadratmeter Bodenfläche. Neben dem Einstiegloch ist eine Windwächte aus dürrem Gezweig errichtet. Sie ist die «Wohnung» von zwei anderen Schotterführern, Wohnung, denn sie bietet ihnen etwas Schutz gegen Wind und Regen, wenn sie sich Nachts vor den Eingang der Höhle legen, die ihren beiden glücklicheren Kameraden gehört. Sie haben nur ihre Pelze.

In der nächsten Hütte schlafen ihrer vier. Sie hat 13 Kubikmeter Luftraum und 6 Quadratmeter Bodenfläche.

So geht es fort.

Haben wir die erste Hüttengruppe verlassen und sind im Dickicht der Au verschwunden, so sehen wir die nächste noch nicht vor uns, aber wenige Schritte, eine Biegung des Weges, eine kleine Lichtung, und wir stehen schon wieder vor einer Höhlengruppe. Vor den meisten sind Weiber mit häuslichen Arbeiten beschäftigt, spielen Kinder, denen der Speck recht gut anzuschlagen scheint. Die meisten von ihnen sehen blühend aus.

Hier die ziffernmäßige Ausbeute unserer Forschung, die sich nicht auf alle Hütten ausdehnen konnte. Es seien vierzehn nicht gesuchte Stichproben vorgeführt:

 

         
Luftraum
       
Bodenfläche
       
Personen
1.  Hütte 2.87  Kubikmeter 2.2  Quadratmeter 2
2.  " 13.00  " 6.0  " 4
3.  " 7.95  " 4.5  " 3
4.  " 5.65  " 3.8  " 3
5.  " 7.95  " 4.5  " 3
6.  " 13.83  " 8.1  " 5
7.  " 7.95  " 4.5  " 2
8.  " 11.20  " 7.0  " 8
9.  " 7.95  " 4.5  " 3
10.  " 9.20  " 5.3  " 2
11.  " 6.73  " 3.8  " 2
12.  " 7.95  " 4.5  " 4
13.  " 16.94  " 7.7  " 6
14.  " 15.40  " 7.7  " 5

 

Die schlimmsten Verhältnisse fand ich in der achten Hütte, die ich betrat. Hier haust ein kindergesegneter «Kubikos». Sechs Kinder hängen am Brote. Der Luftraum dieser Hütte beträgt 11.2 oder per Kopf 1.3 Kubikmeter, die Bodenfläche beträgt 7 Quadratmeter oder per Kopf 0.87 Quadratmeter. Die grausame Wirklichkeit da unten übertrumpft alle bekannten Maße.

* * *

Schlechtes Wasser. An einer Stelle der umfangreichen Hafenarbeiten fand ich eine Tafel, die in drei Sprachen vor dem Genuß des Donauwassers warnt. In dem Dorf der «Speckmicheln» führen mich aber die Frauen zu dem einzigen Brunnen mit der Warnung, ja nicht davon zu trinken, und theilten mir mit, daß sie selbst es vorziehen, das Wasser aus dem offenen Gerinne der Donau zu nehmen, weil ihnen dieses Wasser weniger schadet als das Brunnenwasser. Der Brunnen ist in sandigen Grund geschlagen, die Gegend um ihn ist aber von aufsteigendem Wasser erfüllt, so daß es wohl sehr gut möglich ist, daß dieser Brunnen schlechte Keime birgt. Wir nehmen uns eine Probe mit, leider war sie für eine chemisch-bakteriologische Untersuchung zu klein, und ich muß mich auf die Aussagen dieser gewiß nicht verwöhnten Frauen stützen, die angeben, daß der Genuß dieses Wassers Diarrhöe zur Folge hat. Den Brunnen hat sich die «Kubikos»-Gemeinde nicht selbst geschlagen. Der wurde ihnen beigestellt. Es müssen also die Behörden auch von diesem Brunnen Kenntniß haben, wie überhaupt von der ganzen ethnographischen Ausstellung, die dort zu sehen ist. Dennoch stehen die Hütten schon seit Jahren, und kein Mensch hat sich bisher um sie gekümmert.

* * *

In den Baracken.

Der letzte Besuch gilt der Barackenanlage, die der Gewerbe-Inspektor zu kennen scheint. Wenigstens schreibt Herr Würth in seinem Bericht von 1900 von einer Barackenanlage Folgendes:

In größerem Umfange waren solche Unterkünfte nur auf einem außerhalb der Stadt gelegenen Bauplatze vorhanden; diese in meinen früheren Berichten geschilderte Wohnbarackenanlage wurde im Berichtsjahre durch Aufstellung einer weiteren, nur für die Benützung während der Sommermonate bestimmten Baracke vergrößert, so daß nunmehr Schlafstellen für 580 Arbeiter vorhanden waren. Eine Ueberfüllung dieser Unterkünfte habe ich bei meinen wiederholten Revisionen nicht konstatiren können, die Instandhaltung der Baracken und Schlafstellen war entsprechend; die Arbeiter zahlten für diese Unterkünfte wie bisher 50 kr. per Woche oder 10 kr. für einzelne Tage.

Bei der Vermeidung genauer Orts- und Firmenbezeichnungen in den Gewerbe-Inspektoren-Berichten wissen wir nicht bestimmt, ob der Herr Gewerbe-Inspektor diese Anlage meinte, aber es spricht alle Wahrscheinlichkeit dafür. Ist es so, dann müssen Wunder geschehen, so oft der Gewerbe-Inspektor sich beim Winterhafen blicken läßt oder man hat immer einige Paraderäume in Bereitschaft, um ihn zu täuschen. Ich war außer in den bereits geschilderten noch in vier Schlafräumen von drei Baracken und fand folgende Verhältnisse:

 

         
Luftraum
Kubikmeter
       
Bodenfläche
Quadratmeter
       
Belagzahl
1.  Barackenzimmer 063.0  021.0  08
2.  " 078.3  026.1  14
3.  " 071.6  023.4  12
4.  " 093.9  031.3  13

306.8  101.8  47

 

Das entspricht einem durchschnittlichen Luftraum von 6.4 Kubikmeter und einer Bodenfläche von 2.4 Quadratmeter. Der Boden dieser Baracken ist geschottert, große Kiesel und Kohlenstücke liegen herum, die primitiven Betten sind schmutzig und so voll Ungeziefer, daß es die an schlechte Unterkunft gewöhnten Hafenarbeiter vorziehen, die sagenhafte Sommerbaracke zu beziehen, das heißt ihre Strohsäcke hinaus in den Sand und Schotter zu betten, um dort die Ruhe zu finden, die ihnen in den Baracken und Schlafstellen, die der Herr Gewerbe-Inspektor «entsprechend» findet, das tausendfach vorhandene Ungeziefer nicht gewährt. Es stehen hier zehn Baracken, und in ihnen mögen wohl 400 Arbeiter bequartiert sein. Für alle diese entdeckte ich zwei offene Aborte. Wenn das auch sanitär entsprechend ist, dann muß man an seinem Verstand irre werden.

* * *

Lebende Andenken. Zum Schluß ein kleines Illustrationsfaktum. Ich fuhr von meiner Forschungsreise in das Land offiziellen österreichischen Arbeiterschutzes mit der Stadtbahn nach Hause. Schon auf der Reise mußte ich mir zum Entsetzen meiner Reisegefährten drei Flöhe fangen. Nach dem zweiten war ich isolirt und vom ganzen Coupe gemieden. Zu Hause erst begann die richtige Jagd nach den lebenden Andenken an diese Reise. Ich brachte 27 ausgewachsene Exemplare, sagen wir Sechzehnender zur Strecke. In solche Gefahren kann sich ein k. k. Gewerbe-Inspektor freilich nicht begeben – das muß man begreifen.

 

Bibliographie Startseite