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Max Winter

Ein Tag in Ottakring

Wie das Volk lebt

I: Arbeiter-Zeitung Nr. 284 vom 16. 10. 1901

Ins Joch. Zeitlicher als im Zentrum der Stadt erwacht an ihrer Grenze das Leben. Um 6 Uhr Morgens kriechen die menschlichen Ameisen aus ihrem Bau und ziehen in dichten Schwärmen zur Arbeit. Ueber die Schmelz, hinüber und herüber, dann dem Neubauer Fabriksviertel zu, durch die Lerchenfelder-, Thalia- und Koppstraße, durch die Grundstein- und Burggasse gehen die Hauptzüge, auch über den Gürtel zu den Stadtbahnstationen und nach Gumpendorf schwärmen die Schaaren der Ernährer und Ernährerinnen ihrer Familien, der Mithelfer zum Haushalt und der heranreifenden Jugend, die auch schon dem Tag abringen muß, was sie für den Tag braucht. Junge und Alte, Männer und Frauen, Fröhliche und Düstere, Gebeugte und Rüstige wimmeln dahin: gemächlich, zeitunglesend, rauchend, plaudernd die Frühaufsteher, hastend und drängend die Verspäteten, die Langschläfer, die Schlafberaubten, die vielleicht die Sorge wachen ließ, oder die im Dienst der proletarischen Organisation Abends zu kurz kamen und nun am Morgen für verlorene Stunden des Schlafes ein Viertelstündchen zugaben. Das Leben ist hart. In den gleichen Trott zwingt es die arbeitende Menschheit Tag um Tag, und wer sich nicht fügt, wird ausgeschaltet.

Die Fabrikspfeife ertönt. Weit geöffnet sind die Thorflügel. Hinein schiebt sich die Masse der Leiber, vertheilt sich im Vorhof, verschwindet in berußten Gängen und geht, in seine Theile aufgelöst, an die Werkbank, zur Fraisemaschine, zur Stanze, zum Hobel – jeder an seinen Platz, die Menschen sind wieder Menschen, Individuen, nicht mehr Masse. Zum zweitenmale schrillt der Pfiff durch die Luft. «Alser, geh’n m’r ’s an!» Der Ueberrock wird an den Wandnagel gehängt, die Pfeife in die Fensterecke gelehnt, die Arbeit beginnt. Der Sturmgesang der Transmissionen hebt schon an, und plötzlich ist das ganze Werk im Gange, Surren und Schnurren, Sausen und Brausen, Quitschen und Pipsen erfüllt den Saal. Draußen auf der Straße verdoppeln einige Blousenmänner den Riesenschritt der Eile. Sie rutschen gerade noch zum Thor hinein. Fast dankbar grüßen sie den Portier: «Gut’n Morgen, Herr Huber!» Der hat den einen Thorflügel schon geschlossen und steht an dem anderen bereit, auch ihn zu schließen. Jetzt schiebt er ihn knarrend zu. Im Schloß rasselt der Schlüssel.

Da pumperts ans Thor.

Noch Einer.

Er dreht den Schlüssel wieder zurück, öffnet einen Spalt und steckt den Kopf heraus. Der Arbeiter drängt ungeduldig hinein. «Kaner kann pünktlich sein!» übertreibt der Thorwächter. «Mei Alte hat heut Nacht an Buabn kriegt,» sagt der Verspätete, fast entschuldigend. «Na ja, is all’s recht schön. Aber aufschreib’n muaß i ihna. Sag’n S’ ’s ’n Herrn. Vielleicht hebt er ’n aus der Tauf’.» Beide lachen. Der Verspätete verschwindet hinter dem Thor. Für diesmal ist er noch nicht ausgeschaltet.

*

Kinderarbeit vor der Schule. Vor der Tabakfabrik, unserem nächsten Ziele, beginnt das lebhafte Treiben später. Erst um halb 8 Uhr muß alles an der Arbeit sein. Bis dahin ist es Zeit, sich noch sonstwo in der Nähe umzuthun. In der Huttengasse ist ein rothhaariger Junge eifrig an der Arbeit. Er kehrt das Trottoir ab, um seiner Mutter eine Arbeit abzunehmen. Vielleicht geht der Hausmeisterjunge auch noch einkaufen und dann erst in die Schule – mit dem Reißbrett, den Dreiecken und dem Lineal, wie es sich für einen aus der «zweiten Bürger» schickt. Die Thaliastraße herauf kommen Kinder mit Einkaufkörben oder den schwarzen Wichsledertaschen am Arme vom Einkaufen zurück. Meist sind es Mädeln, junge Hausmütterchen, die ihren Müttern auch noch behilflich sind, ehe sie die Schultasche zur Hand nehmen. Die Proletarierfrau hat ja daheim so viel zu thun. Auch kann sie die Kleinen nicht gut allein zu Hause lassen, noch weniger mitnehmen – darum muß die «Große» einkaufen gehen. Freilich schlafen die Kleinen noch, aber man weiß es ja: plötzlich wachen sie auf, reiben sich den Schlaf aus den Augen, weinen, wenn sie sich allein sehen, und dann treibt sie der Selbsterhaltungs- oder der Spieltrieb aus dem Bett. In der Panikengasse, gerade neben der Schule, sah ich eine Stunde später so einen kleinen «Hemadlenzl» in einem Fenster des ersten Stockwerkes stehen. Erst spielte er mit dem inneren Fensterflügel, dann machte er sich an dem Riegel zu schaffen, drückte sich dabei an die Scheiben und setzte sich erst nieder, bis er die warnenden Zeichen von unten verstand. Er kaute dann seine Zehen, als ob nichts gewesen wäre. Und wie viel Unheil drohte ihm doch! Sein Brüderchen spielte indessen vielleicht mit Zündhölzchen oder löschte seinen Durst an Laugenessenz, die in der Küche auf dem «Wasserbankl» stehen geblieben war, weil in der Proletarierwohnung alles so eng und für gar nichts ein rechter Platz ist. So eine Proletariermutter muß immer in Angst sein. Wo es also geht, müssen die älteren Geschwister vom Greisler, von der Kräutlerin und vom Selcher oder vom Roßfleischhacker zusammentragen, was die Mutter für den Mittagstisch braucht.

*

Etwas vom Zeitungslesen. Gerade kommt mir so eine Kleine in die Quere. Obenauf im Korb hat sie die «Kronenzeitung» liegen, die illustrirte Sensation um zwei Kreuzer. Sie trägt das Blatt der Mutter heim, und der Vater, der eine Viertelstunde früher dieselbe Straße zog, um zur Zeit in der Fabrik zu sein, hat nichts dagegen. Er fühlt zwar, daß es ein Schund ist, er weiß es, daß es seiner Frau besser thäte, statt über das Befinden des Sultans von Marokko in Wort und Bild unterrichtet zu werden, aus der Zeitung etwas über die ökonomischen und politischen Zusammenhänge zu erfahren, daß es ihr besser thäte, wenn sie eine Zeitung läse, die sie aufklärt, und nicht eine, die sie verdummt, ablenkt und für ihre kleinen und großen Sorgen, für den Daseinskampf des Mannes und der proletarischen Familie kein Verständniß hat, er weiß all dies oder fühlt es doch instinktiv, und dennoch schweigt er und liest Abends selbst, wer dem Prinzen Tschun die Hühneraugen operirt, welches Abenteuer die Gräfin Schnackerl in Ostende gehabt hat und welchen «bürgerlichen Mittagstisch» die «Kronenzeitung» für heute empfiehlt. Das Wasser muß ihm im Mund zusammenlaufen, wenn er da liest:

 

Samstag:  Kohlsuppe
Kalbfleisch mit Kartoffeln
Biscuitroulade mit Weinchaudeau

und dabei an die wenigen Augsburger mit sehr viel Erdäpfel denkt, die er zu Mittag gegessen hat. Der tägliche Speiszettel für Bürgerhäuser ist übrigens die einzige – allerdings ungewollte – Aufklärungsarbeit der «Kronenzeitung» für ihre proletarischen Leser. Selbst das mag er empfinden, und dennoch schweigt er. Er ist sozialdemokratischer Wähler, geht in sozialdemokratische Versammlungen, ist gewerkschaftlich organisirt und läßt sich dennoch den illustrirten Schund anhängen, anstatt um dasselbe Geld ein sozialdemokratisches Blatt zu kaufen, das ihn stützt und fördert in seinem schweren Kampfe, ihn berathet und ihm hilft, das seine mächtigste Waffe werden kann, wenn er nur will. So eingewurzelt ist das Giftkraut der illustrirten und der Sensationspresse ohne «Bildeln», daß es schier unausrottbar scheint.

Stellt euch in einer Morgenstunde vor eine Trafik und beobachtet die Zeitungskäufer. «Die Kronenzeitung», die «Oesterreichische Volkszeitung», das «Neue Wiener Journal», das «Extrablatt» und wie sie alle heißen, die Giftpilze der bürgerlichen Presse, diese tragen sie heraus, und kaum jeder zehnte Zeitungskäufer aus der Arbeiterklasse hat das Bewußtsein seiner Klasse und kauft sich die «Arbeiter-Zeitung» oder die «Volkswacht», seine beiden treuesten Mitkämpfer. Und woher diese Erscheinung? Sie ist vor allem die Wirkung der jahrzehntelangen Alleinherrschaft der Tratschpresse, die noch gestärkt wird durch die Fesseln, die der anständigen, nicht käuflichen und auch den Schmeicheleien der Herrschenden gegenüber unbestechlichen Presse angelegt sind. Um so ernster ist die Pflicht jedes denkenden Arbeiters und jeder Proletariermutter, gerade die sozialdemokratische Presse zu unterstützen. Je weniger dies der Fall ist, desto mehr hat das Proletariat in dieser Richtung noch an sich selbst zu arbeiten.

*

Vor der Tabakfabrik kann man gleich wieder solche Beobachtungen machen. Es ist sieben Uhr, da ich in ihr Bereich komme. An der der Stadtbahn zugekehrten Ecke der Eisengitter, das den bepflanzten Vorhof gegen die Straße zu abschließt, stehen vier, fünf Männer in Uniformen, so wie Sie die Strafhausaufseher haben. Sie rauchen ihre Zigarren und plaudern dabei. Dann gehen sie auf dem Trottoir auf und ab, den Strom der Arbeiterinnen und Arbeiter, der allmälig anschwillt, kaum beachtend, die Morgengrüße kaum erwidernd. Es sind einige der Saalaufseher. Punkt ¼ 8 Uhr wird die linke Seitenpforte geöffnet. Die gegenüber an der Straßenecke und in der Thaliastraße angesammelten Arbeiterinnen treten in den Hof. Die Männer lehnen an der Steinbasis des Eisengitters und verpuffen noch rasch ihre «Drama» oder «Kurze» – «Sultan» und «Trabukerln» macht der Zigarrenarbeiter nur für die «besseren» Leute. Innerhalb des Gitters ist schon Rauchverbot. Kein Einziger von ihnen liest eine Zeitung. Wie dann erst die Frauen und Mädchen! Zwei unter den hunderten, die das Eingangsthor passiren, studieren – Modejournale, eine liest ein Buch aus einer Volksbibliothek, zwei, drei haben in ihren schwarzen Handtaschen obenauf bürgerliche Tratschblätter liegen und keine trägt sichtbar eine sozialdemokratische Zeitung durch das Thor. Das «Welt-» und «Extrablatt» tragen sie ungenirt hinein, sollten sie Furcht haben, sich offen als Leserinnen der «Volkswacht» oder «Arbeiter-Zeitung» zu bekennen? Das ist nicht unmöglich, denn es sind hunderte unter ihnen, die bereits zu denken begonnen haben, hunderte, die die Versammlungen besuchen, und hunderte, die die «Volkswacht» kaufen, wenn darin etwas über ihr Schicksal und ihren beginnenden Organisationskampf zu finden ist. Wenigstens erzählte mir die nächste Trafikantin, daß sie an solchen Tagen nicht genug Blätter haben kann. Haben sie Furcht, so muß ihnen diese allein schon beweisen, daß sie von ihrem Standpunkte kein anderes als ein sozialdemokratisches Blatt lesen dürfen, denn die Furcht haben sie nur vor ihren Vorgesetzten, die leider besser wissen als viele Tabakarbeiterinnen, welche Zeitung das Interesse dieser Sklavinnen des Staates vertritt, welche Zeitung sie aufklärt, daß sie ausgebeutet und fast rechtlos sind. Sie sehen es darum gar nicht gern bei den Arbeiterinnen, wenn sie Blätter lesen, die ihnen zwar nicht erzählen, wie viel Böcke der Fürst Bamsti bei der Hofjagd geschossen hat, die sie aber über alles wirklich Wissenswerthe unterrichten und über ihre eigene Lage aufklären. Diese Erkenntniß ist aber die verbotene Frucht, von der die Tabakarbeiterinnen nicht essen sollen. Hoffentlich bewirkt gerade der Zwang, daß auch die Tabakarbeiterinnen von Ottakring, wie so viele Staatssklaven vor ihnen gerade an den verbotenen Früchten Gefallen finden. Gesegnete Mahlzeit!

Gesegnete Mahlzeit! möchte man den Arbeiterinnen auch zurufen, wenn sie sich in der Konsumwarenhalle gegenüber mit ihrem Frühstück versorgen, wenn sie sich «um 3 Kreuzer Primsen», «um 2 Kreuzer Speck» oder «um 4 Kreuzer Dürre» zu ihrem Brot kaufen, das sie schon in ihrem Zöger haben, oder wenn die entfernter Wohnenden Mittags im gegenüber liegenden «Volkscafé» ihren 6 kr.-Kaffee oder ihren Thee mit Rum trinken und dazu ein kaltes Stückl Fleisch oder Wurstzeug oder ein Paar Kleine mit Krenn essen, um wieder neue Kraft zu gewinnen. Viele bröckeln in das Häferl auch nur zwei Semmeln ein. Gesegnete Mahlzeit möchte man da allen diesen armen Frauen und Mädchen zurufen, denn wenn auf diesen Mahlzeiten nicht sehr viel Segen ruht, ihr Nährwerth kann die Frauen und Mädchen nicht widerstandskräftig und zu neuer Arbeit tauglich machen.

*

Bei einem Perlmutterdrechsler. Das Tagwerk ist im Gange. Die Männer sind in der Arbeit, die Frauen gehen, soweit nicht auch sie an einen Arbeitsplatz in der Fabrik gekettet sind, ihren häuslichen Beschäftigungen nach: sie gehen einkaufen oder sie sind draußen auf der Hängstatt. Es gibt deren viele in den unverbauten Bezirkstheilen. Frauen mit runzeligen, verwaschenen Händen hängen dorthin die Wäsche zum Trocknen, die sie schon am Morgen, vielleicht auch in der Nacht gewaschen haben. Die Kinder sind in der Schule, nur das Geschrei der ganz Kleinen dringt aus den Häusern mit den vielen Wohnungen, den Ottakringer Zinsburgen. Die Straßen haben ihr Alltagsgesicht. Das Leben des Proletariats spielt sich nun in den Häusern ab. Wer etwas sehen will, muß in sie eindringen.

In einem der älteren Häuser der Enenkelgasse, dort wo sie schon in die ehemaligen Schottengründe verläuft, versuche auch ich mein Glück. Ueber eine Steinstiege mit ausgetretenen Stufen gelange ich in das erste Stockwerk vor eine wohl seit einem Menschenalter nicht frisch gestrichene Thür, auf der ein Täfelchen mir Auskunft gibt, daß ich gefunden, was ich gesucht.

 

N.N.
Perlmutterdrechslermeister.

 

So steht es auf der Tafel. Ich klopfe und trete ein. Hendelgegacker empfängt mich. Durch eine nur vom Gang belichtete Küche, in deren rechter Ecke ein zerbröckelnder Herd steht, gelange ich in die Werkstätte. Sieben Drehbänke füllen den zweifenstrigen Raum, in dem einige Hühner derart lärmen, daß man sein eigenes Wort kaum versteht. Der Meister frägt nach meinem Begehr und gibt gern Auskunft, da ich ihm als Zweck meines Kommens sage: «Sehen möchte ich, wie es bei einem Perlmutterdrechsler zugeht.» Vier Bänke sind unbesetzt. An einer dreht der Meister, die anderen beiden treten Gehilfen. Ich winde mich bis zu ihrem Arbeitsplatz durch und sehe ihnen zu. Sie machen Deckenknöpfe. Der eine ist gerade beim Façondrehen. Knopf um Knopf setzt er an den Holzfutterschluß an und hält dann den Façonstahl an den rotirenden Knopf. Weißlicher Staub spritzt weg. Seine feineren Theilchen schwängern die Luft und finden so den Weg in die Lungen, die gröberen fallen auf die Drehbank oder auf den Boden und überziehen alles mit einer weißen Schichte, dem berüchtigten Perlmutterstaub. Die Drehbänke, der Fußboden, dessen Weichholzdielen übrigens da und dort vom Zahn der Zeit zernagt sind, die Kleider, die Menschen, alles ist Ablagerungsstätte für den Staub. Auch auf das Gitterbett ohne Netzgitter hat sich der Staub gelegt, und das Bettzeug, die mager gefüllte «Federritten» aus rothem Inlett, über die keine Tuchent gezogen ist, muß den Staub aufnehmen, der so lange erzeugt wird, so lange die Spindeln schnurren.

Der zweite Gehilfe ist beim Löcherbohren. Der Meister selbst ist ganz von seinem Kleinviehzüchtergeschäft in Anspruch genommen. «So, dei Eierl hast g’legt,» sagt er zu einer schwarzen Henne, «jetzt kannst abigehn; ksch, ksch, ksch...» er klatscht in die Hände. Das Hendl flieht geschreckt hinter die letzte Drehbank. ...ga, ga, ga, ga, ga. Es mißversteht die gute Absicht seiner Eigners. «Gehen S’, Franz, fangen S’ m’r die schwarze Henn’ ab, wanns bei Ihna vorbei will.» Diese Worte gelten dem Façondreher. Der bückt sich und treibt mit Klatschen und einigen «ksch, ksch» die Henne dem Meister zu, der unter eine Drehbank gekrochen ist. Er erwischt sie und trägt sie auf den Gang, wohin schon eine «G’scheckerte» geflohen ist. «So,» sagt er im Gehen zu ihr, «jetzt wirst m’r kane Eier mehr vertragen.»

Nun stellt sich auch der Meister zur Drehbank. Er geht den Muschelschalen mit dem Durchmarschbohrer zu Leibe. Rotirend dringt der scharf gezahnte Kronbohrer in die Schale und schneidet Knopfscheibe um Knopfscheibe heraus, die dann durch den Bohrer und Spund in das «Durchmarschfassel» gelangen, von wo sie in die untergesetzte Wanne fallen.

Während er so Knopf um Knopf bohrt, erzählt er mir von seinen und der anderen Perlmutterdrechsler Leiden. «Wir können mit ’n Großen und mit ’n Kleinen nicht konkurriren. Die Großen stecken den Schwindel mit der g’färbten Waar’ heraus, die den schwarzen Knopf, die anzige gut’zahlte Waar’ ganz verdrängt, und die Klan’, die Hausg’sell’n, verschleudern ihr’ Arbeit, weil’s nix z’fress’n hab’n, so billig an ’n Juden, daß der billiger dem Exporteur liefern kann wie unseraner. Zwanz’g, dreiß’g solche machen bald an großen Master aus. Schau’n S’mi an wia i dasteh’. Sieben Bänk hab’ i herunt, drei am Boden, aber i hab’ nur für zwa G’sell’n Arbeit. Der Verdienst is klan, die Zinsen san groß, die Lebensmittel san theuer. In der Großstadt is halt schwer zum existir’n, kaum daß zum Furtkummen is...»

Er macht eine Pause, bläst den Rauch des «Ordinären» weg und fährt dann fort: «Viel san die Master a selber schuld. Schau’n S’ unser Rohstoffhalle an, wie dö z’grund’ geht. Wia das Institut ins Leben treten is, hat a jeder an der Spitze sein woll’n, weg’n dö dreißig Gulden Remuneration, dö der Obmann alle Monat kriagt hat. Was is denn das, dreißig Gulden? Und do hat si a jeder drum g’riss’n, und weil’s net a jeder kriagt hat, war das Kind a Todtgeburt. Die Händler war’n a schlau, hab’n a Zeitlang mit Schad’n g’arbeitet, damit’s die Master d’erhalten. Da hat die Rohstoffhalle net mitgehn können. Und heut hab’n si alle Kundschaften verloffen. I glaub’ net, daß no zehne unt einkaufen than von – vierhundert. Der Händler gibt ’n Master a an Kredit, und die Rohstoffhalle steht drauf an. Da muaß all’s per Kassa kauft werd’n. Sie is halt schwach auf der Brust, trotz dö zwanzigtausend Gulden Subvention, was s’ kriagt hat. Da san aber nur die Master schuld.

Hör’n S’ m’r auf mit unsere Master! I bin nur neugierig, was bei die Hemdknöpflmacher in Meidling ’rauskummen wird. Ob s’ ’n Streik do aushalten werd’n? Viel gib i net drauf. A Glück is nur, daß die G’sell’n so fest stengan. Dö geb’n auf kan Fall nach und da müass’n die Master mit, ob’s woll’n oder net. Allanig war’ns z’schwach. Wenn die Master net so wia die Arbeiter dastehn in ihrer Organisation, könnens allan nix machen. Der Hunger treibt s’ wieder z’ruck.»

Wie er so recht ins Erzählen gekommen war, hatte er seine Arbeit unterbrochen. Nun schiebt er sich wieder die Brille zurecht, wischt sich den Staub aus dem ehemals blonden, über die Lippen hängenden Schnurrbart, langt nach dem Bohrzangl, das den ausgezackten Rest der Muschel hält, und tritt wieder scharf drauf los, daß das Schürzenende flattert.

«Also nix für ungut, Herr Meister, daß i Ihna so lang auf’ghalten hab’.» – «Ka Ursach! ’s hat mi g’freut, daß si a um uns amal wer umschaut. Geb’n S’ acht, daß S’ net fall’n bei der Thür; weg’n dö Hendln muaß m’r so viel Kramuri umstehn lass’n.» – «Mein Kompliment, Adieu!» – Draußen bin ich. Ich athme erleichtert auf, da ich wieder auf der Straße stehe.

*

In der Werksgenossenschaft der Perlmutterdrechsler lerne ich das Werk von Arbeitern kennen. Wie ganz anders ist es hier als bei dem armen Kleinmeister. Alles ist sauber und nett, die Wände sind weiß getüncht, die Drehbänke stehen in zwei Reihen, zwischen denen eine Gasse durchläuft. Jeder hat genug Platz, alle genug Licht und annähernd reichlich Luft. Und doch ist es nur das Werk von Hausgesellen, der gedrücktesten Arbeiterschichte also, die die Drechslerei kennt. Die «Werksgenossenschaft», wie sie die Drechsler kurzweg nennen, ist eine Produktivgenossenschaft mit beschränkter Haftung, die den Versuch unternimmt, das Hausgesellenwesen in die Bahnen geregelter Arbeit zu lenken. Ihre Mitglieder sind durchwegs Hausgesellen, die sich in der Werksgenossenschaft zu gemeinsamer Arbeit zusammenfinden. Die Genossenschaft besitzt zwanzig Bänke, die sie an ihre Mitglieder gegen ein wöchentliches «Platzgeld» von 80 Hellern vermiethet. Außerdem hat jedes Mitglied eine Eintrittsgebühr von 1 Krone zu bezahlen und 25 Kronen jährlich als Haftung. Diese werden in wöchentlichen Raten bezahlt. Dafür haben die Mitglieder ein gut ventilirtes, im Winter entsprechend erwärmtes Lokal, das zwar nicht das Ideal einer Werkstätte ist, aber unendlich absticht von den Buden, die das Kleingewerbe seinen Arbeitern bietet, oder von dem dumpfen Loch, in dem der Hausgeselle seine Drehbank treten muß. Das Lokal befindet sich im rückwärtigen Theile des Hauses Nauseagasse Nr. 16. Es ist zwar ein Kellerlokal, hat aber, wie gesagt, ausreichende Belichtung und genügend Luftraum für die zwanzig fleißigen Menschen, die hier neun Stunden im Tag vor der Drehbank stehen. Für Aufträge muß sich jeder selbst sorgen. Jeder hat seinen Meister, für den er die Bestellungen ausführt.

Der Obmann der Genossenschaft, Genosse Suchanek, hat bereits Schritte unternommen, um von dem «Gewerbeförderungsdienst des Handelsministeriums» gegen langsame Abzahlung einen Motor und zwölf Lagerbänke für die Genossenschaft zu bekommen, wodurch dann an Stelle des Fußantriebs der mechanische Antrieb gesetzt wird. Die Angelegenheit ist so gut wie perfekt, und es ist zu erwarten, daß die Mitglieder sehr bald den Uebergang hinter sich haben werden. Sie können dann wohl auch nicht mehr erzeugen, aber sie sparen Kraft und sind dadurch überlegen. Sie verkennen nicht, daß darin ein großer Vortheil für sie liegt, wenn er sich auch nicht sofort in höheren Lohnziffern ausdrückt. So gehen die Arbeiter, die sich aus den Reihen der Gedrücktesten rekrutirten, den Kleinmeistern mit gutem Beispiel voran und werden ihnen dadurch mit der Zeit im Kampf ums Dasein überlegen. Die Werksgenossenschaftler sind natürlich lauter Sozialdemokraten, und zwar gute, überzeugte Genossen, deren jeder seine «Volkswacht» oder «Arbeiter-Zeitung» auf der Werksbank liegen hat. Kassier und Vertrauensmann ist Genosse Steindl. Auf ihm lastet der größte Theil der Sorge. Aber er trägt ihn gern, ist er doch auch ein überzeugter Sozialdemokrat, der sich seiner Pflichten gegen seine Schicksalsgenossen voll bewußt ist.

*

Zwei Gulden Wochenlohn. Zollkriege und Krisen brachten die Perlmutterdrechslerei in Gefahr. Die Steinnußknopferzeuger warf die Revolution nieder, die einige Maschinen in dem Gewerbe hervorriefen. Mitte der Achtziger-Jahre waren noch sechzig Kleinmeister am Platze, die den Steinnußknopf bei der Drehbank erzeugten. Zwei Jahre später schon zählte man nur mehr zehn Betriebe, und heute theilen sich sechs Fabrikanten in den Bedarf des Marktes. Die Sylber- und Kolbeschen Maschinen sind ihre Arbeiter. Sie besorgen alles. Das Zerschneiden der Steinnuß, die Vorrichtung des Knopfes, das Drehen des Knopfes. Alles geht exakt und rasch, so rasch, daß der geschickteste Arbeiter nach dem alten Schlag nicht mehr konkurriren kann.

Einer ist aber noch da, dem das Leben diesen ungleichen Kampf aufgezwungen hat. Es ist der 62jährige Franz Kobizek, der in einem Kellerloch in der Seitenberggasse Nr. 16 seine Wohnung und Werkstätte hat.

Diesem Veteranen der Drehbank, diesem letzten seiner Art soll unser nächster Besuch gelten. Durch eine finstere Küche treten wir in den einzigen Raum, den die Wohnung noch aufweist, in ein kleines angeräumtes Zimmer, dessen zwei Fenster im Niveau der Straße liegen. «Jeder Hund hebt beim Fenster sei Haxl, a jed’s Kind macht si aus mir sein Narr’n, und a Fenster därf i gar net aufmachen, wann i net den ganzen Mist von der Straßen herinn’ haben will,» sagt zu mir der Alte, der seine Drehbank bei dem rechtsseitigen Fenster aufgestellt hat. «Glaub’n S’ m’r’s, ’n ganzen Sommer hab’ i das Fenster net aufg’macht. Aber i muaß froh sein, daß i dö Wohnung hab’. Da zahl’ i wenigstens nur 6 fl. 68 kr. mitsammt ’n Wassergeld, wo anders kriegert i für dös Geld net amal a Kammer. Und was soll i denn anfangen? I muaß mit all’n zufrieden sein. I hab so a alt’s Mutterl von einem Weib, dö zu gar nix mehr is. – I Muaß m’r all’s selber machen. Z’sammram’n, koch’n und betreu’n muaß i s’ a. Sie is gar nix mehr. Liefern thu’ ich meistens erst die dritte Woch’n.»

«Und was bekommen Sie da an Lohn?»

«6 bis 7 Guld’n.»

«Für die Woche?»

«Ja, das wär’ glänzend. Da hätt’ i ka Elend mehr. Für drei Wochen is das der Lohn. Mehr als zwa Guld’n in der Wochn kann i nia verdienen. Da schau’n S’ selber die Lieferzettel nach.»

Damit schob er mir einen alten Buchdeckel hin, in dem einige Dutzend Zettel aufgeschichtet lagen. Ich suchte mir die drei letzten heraus. Sie wiesen an Lohn aus:

 

Vom   6. Juli bis zum 10. August 7 fl. 65 kr.
"   10. August bis zum 4. September 8 " 58 "
"   4. September bis zum 21. September   5 " 61 "

zusammen   21 fl. 84 kr.
Davon gingen in jeder Woche 16 Kreuzer
für die Krankenkasse ab, zusammen
1 " 60 "

Es blieben ihm also für 10 Wochen 20 fl. 24 kr.

an Lohn, und davon mußte er sich noch die Antriebschnüre für das Treibrad seiner Bank und das Oel selbst kaufen.

Zwei Gulden zwei Kreuzer Wochenlohn! Da zu leben, ist das Los des letzten Hausarbeiters der Steinnußknopfmacher.

*

Der gefräßige Bandwurm. Kinder haben Sie keine? – «Das is mei Glück. Ich hab’ mit den Mutterl g’nug. Wann die net wär’, oder wann s’ g’sund wär’, könnt’ ich doch noch in der Fabrik sitzen und mit die Jungen arbeiten. I trauert mi schon no. So aber sitz’ ich jetzt schon zehn Jahr für an Fabrikanten daham und arbeit’, so viel i kann. Was dabei herausschaut, wissen S’ eh. Es wär’ die höchste Zeit, daß einmal für den alten Arbeiter auch g’sorgt wird. Soll i das Muatterl auf die alten Tag verlassen, damit i was z’leben hab’? Sie glaub’n m’r ’s vielleicht net, wia’s m’r weh’ thut, daß ich die paar Kreuzer in Verein net zahl’n kann. Zwamal hab’ i m’r scho ’s Büachl g’nommen, aber a jed’smal hab i net weiter zahl’n könn’n. Unser ganz’s Unglück is die Krankheit von meiner Frau.»

«Wo fehlt’s denn?»

«An Bandwurm hat s’ scho fufzig Jahr. Und der frißt uns alle zwa auf.»

«Da gibt’s aber doch a Hilf’. Warum macht’s denn nix dagegen?»

«Reden S’ mit so an alten Menschen. Der Wurm bringt s’ um, sie hat alle Zuständ’, aber abtreib’n laßt sie sich ’n net. Was hab’ i ihr da schon zuag’red’t.»

Er ruft sie herein. Mühsam keucht die 76jährige – sie war eine Wittfrau, da er sie zum Weib nahm – von der finsteren Küche in das Zimmer, wo sie sich auf einen schwarzen Holzkoffer setzt. Auch ich spreche ihr zu, daß es nicht so gefährlich ist, wie sie meint, daß sie in wenigen Tagen befreit sein kann ... Sie schüttelt mit dem Kopfe. «Jetzt bin i scho so alt word’n damit, jetzt stirb’ i a damit.»

«Na sehn S’, was hab ich Ihnen g’sagt,» sagt der Alte zu mir, «da is nix zu machen, als geduldig weitertragen. Sie glaubt, sie muß sterben, wann das Viech weggeht.» Die Alte humpelt wieder langsam hinaus.

«Zu die Straßenkehrer hab i scho’ gehen woll’n. Sie nehmen mich aber nicht, weil i scho z’ alt bin. Für mi gibt’s ka Hilf mehr.»

Auf einem alten Schubladkasten steht ein großes Einsiedeglas mit getrockneten Schwämmen: Pilzlingen und Hallamasch, die sich der Alte am Sonntag aus dem Ottakringer Walde holt. Diese Waldgänge am frühen Morgen sind seine einzige Freude in diesem Leben voll Trübsal und Jammer. Seine Augen leuchten, da er mir davon erzählt. Und dann, «da hab’n m’r glei im Winter was zu die Erdäpfeln».

II: Arbeiter-Zeitung Nr. 290 vom 22. 10. 1901

Kinderspielplätze. Der Rest des Vormittags gehört den Kindern. Ottakring ist dank seiner verhältnißmäßigen Jugend als Stadttheil nicht gerade arm an Plätzen. Die moderne Bauordnung nahm auch auf die Errichtung von Plätzen entsprechend Rücksicht. So gibt es denn vom Yppen- bis zum Anzengruberplatz in dem Häusermeer eine ganze Reihe freier Plätze, die in Ermangelung eigener Kinderspielplätze der Ottakringer Jugend als Tummelplätze dienen, sofern sich diese nicht auf der Schmelz oder im Ottakringer Wald, am Galizinberg herumtreibt. Das ist nicht allen Müttern angenehm, namentlich denen nicht, die ihre Kinder gerne in der Nähe, «unter ihren Augen» haben wollen. Diese mehr an die Kette gelegten Kinder müssen also mit dem Yppen-, Hoffer-, Haberl-, Kofler-, Stillfried-, Milde- oder Johann Nepomuk Bergerplatz vorlieb nehmen, diesen durchwegs schattenlosen, verwahrlosten, stauberfüllten Unterbrechungen der geraden Straßenzüge, die, soweit sie nicht Marktzwecken dienen, mit einigen Robinien, den unechten Akazien, bepflanzt sind, mit Plätzen, deren Wiesenflächen sonnverbrannt, verstaubt daliegen und Mistablagerungsstätten geworden sind. Papierschnitzel tanzen wirbelnd vor dem Winde her, der durch das Liebhartsthal hereinfegt. Daß er auch den scharfen Straßenstaub, der in dem schlecht bespritzten Ottakring mehr noch als anderswo sich sammelt, mit sich führt, vermehrt die Annehmlichkeiten die der Aufenthalt auf diesen Plätzen bietet, noch um eine besondere. Nur ein Platz in Ottakring ist gut gepflegt und hübsch bepflanzt. Es ist der Richard Wagnerplatz, auf dem sich das neue Bezirksamtsgebäude erhebt. Hieher kommen sogar Gärtner und pflegen die Rasenplätze und Bäume und die freundlichen Strauchgruppen. Freilich, das ist auch etwas anderes. Hier thronen die Bezirksgewaltigen, darunter auch der freundliche christlich-soziale Herr, der den Kindern von Ottakring die Zukunft von Einbrechern und Dirnen prophezeite, weil sie auf diesen und den anderen «Spielplätzen» Ottakrings, den zahlreichen Bauplätzen, sich nicht so gesittet benehmen, wie Kinder, die die Gouvernante auf die Ringstraße spazieren führt.

Würde dieser Herr, vorausgesetzt, daß er überhaupt ein Herz für Kinder hat, was man sehr stark anzweifeln muß, nur einen Tag lang versuchen, den Ursachen der von ihm beobachteten Rohheit und Verwilderung der Ottakringer Kinder nachzugehen – er müßte anders sprechen.

Er folge mir einmal auf den Anzengruberplatz, jene äußerste Erholungsstätte der Ottakringer Kinder, die hart am Eingang zum Liebhartsthal gelegen ist. Da wird er sich stolz in die Brust werfen und wird sagen: «Das ist unser Werk!» Der Platz ist von einem mannshohen Holzgitter umfriedet, und dahinter steht dichtes Strauchwerk, das aber nicht allzu weit hineinreicht, so daß ein ziemlich großer, freier Platz bleibt, mit feinem Sand bestreut, der von einer ununterbrochenen Kette von Bänken umsäumt ist. Hier können die Kinder nach Herzenslust herumtollen. Nur einige große Schattenspender – etwa Kastanien oder Linden, auch Ailanthus eignet sich hiezu – fehlen, sonst entspricht aber der Platz ganz den allerdings bescheidenen Anforderungen, die ein gelernter Wiener an seine Stadtväter zu stellen wagt. Rühmt der sonderbare Stadtvater die Oase, dann muß er die Wüstenplätze ebenso schlimm finden, denn dort fehlen alle diese Voraussetzungen. Die Plätze in den volkreichsten Vierteln sind angelegt, ohne daß darauf Bedacht genommen worden wäre, daß sie Kindern als Spielplätze dienen sollen. Mit Barrieren statt mit Strauchwerk sind sie umsäumt, so daß sie eins werden mit den Straßen, die nicht selten von elektrischen Tramwaywagen durchfahren werden; aller Schmutz und Staub der Straßen kann sich hier sammeln, die Mehrzahl der Bänke entbehrt der Lehnen, und wo sie da sind, da dienen sie den Buben, gleichwie die Barrieren, als Turngeräthe. Die Lehnen sind das Reck, die Barrieren der Schwebebaum, die Eingangspflöcke dienen zum Bockspringen und Lehne und Barriere zum Hochsprung und zum Voltigiren. So Buben wollen und müssen sich austoben. Sollen sie also nicht Schaden nehmen, so muß man ihnen möglichst viel ungefährliche Mittel zum Austoben bieten, wie Sandhaufen, weite Rasenplätze, und diese Plätze so umfrieden, daß die Straße sie nicht allzusehr ablenkt.

Ich sitze am Stillfriedplatz. Etliche Buben spielen an der Barriere, die den Platz gegen die Thaliastraße zu abschließt, «Voderl». Mit Affengewandtheit springen sie hinüber und herüber, laufen über die Straße, wo bei einer Laterne ein «Leopold» ist, das ist der Ruheplatz, an dem der, der es gerade «ist», die anderen nicht fangen darf... und alle 2 ½ Minuten kommt nach der einen oder anderen Richtung ein elektrischer Wagen daher, eine Wiener «Elektrische» mit der tödtenden Schutzvorrichtung!

Beim Nepomuk Bergerplatz wieder passen einige bloßfüßige Jungen jeden ankommenden elektrischen Wagen ab, um die aussteigenden Passagiere um die Tramwaykarten anzubetteln. Ein paar zelotische Katecheten hatten vor einigen Jahren Kinder animirt, Tramwaykarten zur «Befreiung von Heidenkindern» zu sammeln, und seither ist die Wiener Jugend einer schlimmen Gefahr mehr ausgesetzt, die sich steigert, je mehr elektrische Linien ausgebaut werden. Wie sich da die Jungen an jeden Wagen herandrängen, bis zur Haltestelle mitlaufen, und wie sie dann den etwa weggeworfenen Karten nachjagen, wie sie sich in ihrem Sammeleifer förmlich raufen, weil jeder zuerst an den Wagen herankommen will, das mit anzusehen, ist mitunter höchst aufregend. Haben sie ihre Karten, dann klettern sie wieder über die Barriere in den «Park» zurück und versorgen ihre Beute in einer Drama- oder Sportschachtel, die sie in einer Trafik erbettelt haben.

Erst in den Straßen! Jetzt ist die Zeit, wo die Buben die «Raffler», die «Spandler» und die «Fledermäuse» steigen lassen. Glücklich sind noch die Kinder zu preisen, denen zu diesem Zweck eine recht abgelegene Gasse zur Verfügung steht oder einer der vielen Bauplätze. Dort können sie sich höchstens ein Loch in den Kopf schlagen, wenn sie auf der Ziegelwiese im Anlauf stolpern und fallen; auf der Straße können sie aber in der Hitze des Spiels einem Wagen oder Radfahrer in den Weg laufen oder an einen Laternenpfahl anrennen. Mit der Entwicklung der Verkehrsmittel werden die Straßen immer gefährlicher, und die Zahl der auf die Straße angewiesenen Kinder wird mit der fortschreitenden Proletarisierung der Massen und wegen des Steigens der Grundwerthe immer größer. Die langgestreckten alten Höfe mit dem Nußbaum und dem Brunnen, die einstigen Tummelplätze der Väter und Großväter, werden immer seltener, die alten Chaluppen werden niedergerissen, und an ihrer Stelle erstehen die Zinsburgen mit den ausgesparten Luftlöchern, die der Sprachgebrauch merkwürdigerweise Lichthöfe nennt. Um diese alten großen Höfe ist die Jugend von heute betrogen in Ottakring und überall anders – der Ersatz ist die Straße.

Und doch! Mit wie geringen Mitteln ließe sich da Wandel schaffen. Ottakring hat ungezählte Bauplätze, an deren jedem die Eigenthümer ankündigen, daß sie sie verkaufen oder vermiethen. Man denke nur an die vielen Plätze im Zuge der Klaus-, Brüßl- und Thalheimergasse, Herbst- und Koppstraße. Es wäre den Stadtvätern ein Leichtes, etliche dieser Plätze zu miethen, die zerstreuten Ziegelsteine wegräumen und dann einige Fuhren Sand aufführen zu lassen und so den Ottakringer Kindern ungefährliche Spielplätze zu geben. Das Ganze würde einen Pappenstiel kosten, und würde dadurch nur eines der Kinder die alljährlich in Ottakring auf der Straße verunglücken, vor Verkrüppelung oder gar vor dem Tode bewahrt werden, so wäre der Segen dieser Einrichtung schon ein großer. Er könnte dadurch noch erhöht werden, daß jedem Schulsprengel ein solcher Platz zugewiesen würde, wodurch den Lehrern Gelegenheit geboten wäre, auch außerhalb der Schule zum Wohle der Kinder zu wirken, indem sie die Kinder dort Jugendspiele lehren könnten. Freilich müßte der Schulmeister zu Hause bleiben und es dürfte nur der Kinderfreund auf den Spielplatz kommen. So wenig all dies kosten würde: wer die Wiener Verhältnisse kennt, weiß, daß dies nahezu unerreichbar, ein Ideal ist. Lieber sollen die Proletarierkinder Ottakrings «Dirnen und Einbrecher» werden, lieber sollen etliche von ihnen alljährlich zu Krüppeln werden oder gar den Tod finden, ehe die Kommune für sie einige hundert Gulden im Jahre opfert. Es sind ja «nur» Arbeiterkinder!

Die Kommune überläßt auch dieses Gebiet konkurrenzlos der Privatwohlthätigkeit und der privaten Initiative. Ist es aber mehr als ein Tropfen auf einen glühenden Stein, was diese bieten kann? Kaum mehr! Gerade in den Tagen, da ich dem Elend der Ottakringer Jugend nachging, wurde in der Friedrich Kaisergasse Nr. 51 im XVI. Bezirk das «Settlement» eröffnet. Für das Werk Privater ist es viel, gegenüber dem Massenelend der Ottakringer Kinder weniger fast als ein bescheidener Anfang. Von den tausenden Kindern, die in dem behaglichen Saal oder in dem Spielgarten gern täglich einige Stunden zubringen möchten, können vorläufig nur sechzig – dreißig kleine Kinder Vormittags und dreißig schulpflichtige Buben und Mädel Nachmittags – des Segens anregender Unterhaltung theilhaftig werden. Sechzig Kinder, und diese immer nur auf wenige Stunden! Wer die Kinder dort beim Spiel gesehen hat, wer gesehen hat, wie wohl sie sich fühlen, der kann erst die Größe des Verbrechens ermessen, das die menschliche Gesellschaft durch ihre Unthätigkeit gegenüber dem Kinderelend begeht.

Den Spießer werden solche Vorschläge befremden. Er wird sagen, daß sie lächerlich, übertrieben, unausführbar sind. Er wird damit angerückt kommen, daß auch er einst auf der Straße spielte, und daß ihm nichts geschehen sei. Ich gratulire ihm im vorhinein. Er vergißt aber, daß zwischen seinem Einst und dem Jetzt das Zweirad, die Elektrische und das Automobil erfunden und zum allgemeinen Verkehrsmittel geworden sind, und er vergißt, daß der Verkehr viel dichter geworden ist. Träfen aber auch alle diese Bedingungen nicht zu, und wäre auch nicht das Hinausweisen der Kinder aus den Höfen dazugekommen, das Eine darf er doch nicht vergessen, daß die erhöhte Einsicht die Mutter der Pflicht ist, zu helfen, wo es die so spät gewonnene Erkenntniß fordert. Daß man Anno dazumal für die Kinder nichts that, kann kein Grund sein, auch heute die Hände in den Schoß zu legen und den Herrgott einen guten Mann sein zu lassen. Wer sich aus Bequemlichkeit oder Indolenz auf das «Es-war-immer-so-und-wird-immer-so-sein» hinausredet, der wird die heutige Zeit und ihre Forderungen nie verstehen lernen!

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Männerarbeit – ein Kinderspiel. Weil wir schon bei den Kindern und ihrer Bethätigung auf den «Spielplätzen» sind, möge hier ein Geschichtchen aus der Nauseagasse Platz finden. Neben dem Hause Nr. 16 steht dort ein unvollendeter Neubau. Unter Dach wurde das rohe Ziegelgemäuer noch gebracht, dann ging aber dem Bauherrn das Geld aus, das er vielleicht nie besessen, er entließ die Arbeiter, und seither steht der Bau. Das ist jetzt etwa fünf Wochen her. Gegenüber dem Bau ist ein freier Platz, der durch eine Tafel als verkäuflicher Bauplatz gekennzeichnet ist. Auf diesem Platze sind die Ziegel aufgeschichtet, die zu der Vollendung des unfertigen Baues nöthig waren. Der Winter steht vor der Thür, die Ziegel müssen unter Dach. Da ich vorüberkomme, steht eben ein etwa zehnjähriger Junge auf einem Ziegelhaufen und wirft Stein um Stein herab. Einige andere sind damit beschäftigt, einen Schubkarren kunstgerecht zu beladen. Etwa fünfzehn Ziegel bilden die Ladung. Nun entspinnt sich der Kampf um die «Ehre», den Karren bis zum Bau zu schieben. Ein ganz Kleiner drängt sich heran. «Geh’, du Schrap... kannst ’n net amal aufheben!» Damit stößt ihn ein Größerer weg und greift resolut zu. Der größte Junge sieht ihm mitleidig zu. «Net amal über’n Berg bringst ’n.» Und er hat recht. Das Terrain ist wellig, und über eine dieser Wellen kann er nicht hinüber. Der Bauwächter kommt ihm zu Hilfe und führt den Karren bis in den Bau. Dort wartet schon ein anderer Junge und ladet eifrig ab, wofür er die leere Scheibtruhe wieder hinausführen darf. Eine andere ist mittlerweile schon beladen, und der Wächter braucht diesmal nur zuzusehen, weil der größte Junge sich des Karrens bemächtigt hat. Männerarbeit – ein Kinderspiel! Freilich draußen in Ottakring.

Der Bauwächter sagt mir, daß die Kinder schon gut 20.000 Ziegel mit dieser Spielerei von dem Platze in den Bau geschafft haben.

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Mittag! Mittagszeit wird es. Frauen und Kinder huschen mit den Eßkörben aus den Hausthoren und laufen in kurzen, eiligen Schritten durch die Gassen hin, um den Männern und Söhnen, den Vätern und Brüdern das kärgliche Mahl rechtzeitig zu bringen. Eine jede von ihnen hat’s «gnädig», darf doch der Mann nicht warten, und soll doch das Essen auch noch warm sein, wenn sie es auf den Stiegenstufen der Kirche oder auf der Bank im «Park» oder auf irgendeinem unbenützten Bauplatz ausräumt. Er hat «eh nur die Stund’» und da soll’s ihm gut gehen. Die Frauen des Proletariats wissen, wie schwer ihre Männer zu tragen haben.

Da keucht so eine Frau die Seitenberggasse herauf. In der Rechten trägt sie den Einkaufskorb mit dem Geschirr – eine blaue Schürze ist darüber gespreitet, «daß ’s warm halt» –, an ihrer Linken hängt ein dreijähriges Mädel und zepperlt athemlos mit. Sie weiß es, daß der «Vatter» nicht warten darf und läuft, was sie nur kann. Plötzlich ertönt ein langgezogener schriller Pfiff. Das erste Zeichen. «In fünf Minuten is zwölfe» denkt die Frau. Sie stellt den Korb nieder, nimmt das Kind auf den rechten Arm, den Korb in die Linke und fort geht’s mit verdoppelter Eile hinaus auf die Felder bei der Römergasse.

Die Tafelmusik des Proletariats hebt an. Die Fabrikspfeifen und Nebelhörner sind in Aktion. Ihr Schrillen und Brüllen mischt sich in den Klang der Mittagsglocken, in das Knarren und Aechzen der Fabriksthore. Wie aus der Erde gestampft füllen die Männer der Arbeit die Straße. Ihrem Strom entgegen hastet die Frau weiter. Jetzt ist sie am Ziel. «Er» wartet schon. «Wart’st d’ scho lang? Mit der Klan i’s ja ka Weiterkommen. Von der Seitenberggassen auffa trag is schon.» – «Kumm her Annerl zum Vattern,» so wendet sich der Mann, ein Dreißiger, an die Kleine. Diese macht ihre Hände vom Halse der Mutter los und streckt sie dem rußigen Manne entgegen, der unter seinem «Wollsackl» eine blaue Bluse trägt. Der Vater nimmt der Mutter die lebende Last ab, hebt sie hoch empor und schaukelt sie in der Luft, daß sie vor Entzücken jubelt. Dann kriegt sie noch ein «Buss’l», und nun erst stellt er die strampelnde Kleine behutsam auf den Rasenfleck am Rande einer Grube, neben der die Mutter einstweilen den ersten «Gang» – ein Häferl «falsche Suppen» – «servirt» hat. Rasch löffelt der Vater das Häferl aus, um auch noch den zweiten Gang, «Wasserspatzen» mit Linsensalat, warm genießen zu können.

Ein Stück Familienleben von der Straße...

Die anderen sind so schnell, wie sie auf der Straße erschienen sind, von ihr wieder verschwunden. In der Volksküche, bei Auskochern, in den vielen kleinen Wirtshäusern, die erfüllt sind von Rauch, Küchen- und «Biersatzl»-Dunst, finden sich die Ledigen zusammen, auch Verheiratete, die allzu weit wohnen; auf den Sandhaufen vor den Neubauten und auf den Balken und Traversen, die vor diesen aufgeschichtet sind, halten die Bauarbeiter Mittagsrast, essen ihre Wurst und ihr Laberl und trinken ihr Krügel Volkspilsner dazu, viele leider auch ihr «Frackerl» oder «nach Tisch» – man müßte eigentlich «nach dem Sandhaufen» sagen – ihren Rum mit Thee, den ihnen der Branntweiner als Thee mit Rum kredenzt. Die Verheirateten endlich verschwinden in den Häusern und setzen sich um den Tisch zu ihrer Hausmannskost. Ihnen gesellen sich auch häufig die Bettgeher bei, die das wenige Fleisch und die viele Zuspeis, was unter dem Sammelnamen Hausmannskost zusammengefaßt wird, dem Wirtshausfraß vorziehen. Besser sind sie ja noch immer daran.

*

Ein schwerer Abschied. Die Drechsler kommen in verschiedenen Wirtshäusern zusammen. In eines dieser treibt auch mich der Hunger, und zwar zum Jira in der Degengasse. Da geht’s heut hoch her. Es ist nicht nur Montag, ein Holzdrechsler nimmt obendrein noch Abschied. Einer, den s’ «g’halten hab’n». Seit zehn Uhr ist die ganze Familie im Gasthaus. Die Mutter, der «Vatter», die Schwester, der kleine Bruder und der Zukunftsrekrut, der morgen schon bei den «Kaiserlichen» stehen soll. Etliche Holz- und Perlmutterdrechsler, Freunde des Rekruten oder Arbeitsgenossen, sind auch im Lokal, und auch der Einspänner, der den Zukunftssoldaten auf die Bahn bringen soll, ist da. Er gehört zur Freundschaft. Ich sitze noch kaum in einer stillen Ecke in dem durch eine Glaswand markirten Extrazimmer, da geht die Abschiednehmerei schon an. Das zwölfjährige Schwesterl lehnt an einem Tisch und weint bitterlich. Der Einspänner tritt zu ihr hin und tröstet sie: «Was wanst denn? In vierzehn Tag’ kannst ’n ja scho’ besuch’n. Da fahrst mit der Mutter amal auffi nach Krems.» Der Trost ist ein schwacher. Sie weiß, daß sie in vierzehn Tagen nicht zu dem Bruder wird fahren können, daß es eine Trennung auf lange, lange Zeit, vielleicht gar auf immer ist. Vielleicht wird der «Ferdl» gar nie mehr ihr Hausgenosse sein. Man weiß es ja... wenn Einer einmal aus dem Haus kommt...

Neben dem Extraverschlag ist eine Flügelthür, auf der das Wort «Ausgang» steht. Durch diese Thür kommt jetzt ein junger Mensch mit rothgeweinten Augen herein. Auf seinem Kopf sitzt ihm schief eine blaue Infanteristenkappe. Unsicher schwankt er gegen meinen Tisch. «A habts mi alle gern! Der Kaiser braucht Soldaten!» schreit er. Er will sich ermannen, selbst trösten, lustig will er scheinen. Der Wein und das Weinen lassen ihn aber nicht locker. Hinter ihm schiebt sich ein abgehärmtes Proletarierweib zur Thür herein. Sie hatte sich der Mutterliebe geschämt und war draußen am Gang ihrem «Ferdl» um den Hals gefallen und hatte ihn «abbusselt» unter Thränen. Diese wischt sie nun mit der Schürze aus den Augen. Der «Ferdl» sieht es, er sieht die weinende Schwester, und nun packt es auch ihn wieder mit erneuter Gewalt. Dicke Thränen rinnen ihm über die Wangen. Er wendet sich ab, kämpft mit sich, wird aber seiner Rührung nicht Meister. Jetzt steht er bei meinem Tisch. «A Weaner hat halt a guats Herz, a wachs,» so entschuldigt er sich, und dann schlägt er mit den Fingerknöcheln der geballten Hände vehement auf den Tisch auf «Es is nur weg’n den Madl, weil s’ so want. Es g’schicht ihr halt hart. Sie is ja net mei Schwester, aber aufg’wachsen san m’r mitsamm, und sie hängt an mir wia an ihr’n Bruadern.»

Der Einspänner mahnt: «Fahr’ m’r, Ferdl, sunst wird’s z’spat!» Langsam wendet er sich zum Gehen. Jedem Einzelnen drückt er die Hand zum Abschied, auch mir, trotzdem er mich nie vorher gesehn. Meine Tischnachbarn trösten ihn. Ein langer Zug bewegt sich auf die Gasse. Der Vater, die Mutter, zwischen ihnen der Ferdinand, hinter ihnen die Kinder – alle weinen bitterlich. Es ist ein schweres, schweres Abschiednehmen. Auch einige Freunde geben ihm bis auf die Gasse das Geleite. Pferdegetrappel, ein übermüthiger «Juchaza» dringt herein – fort sind sie. Der Vater begleitet ihn auf die Bahn.

Die Mutter und die Kinder – diese haben ihre Schultaschen auf einem Sessel liegen – kommen wieder zurück. Die Proletarierin bringt den Tisch in Ordnung, an dem sie den Abschied begossen hatten, dreht das rothe, geblumte Tischtuch um – wischt sich dabei noch einigemale die Augen aus und verschwindet dann durch die Hinterthür mit den Kindern.

Die Drechsler im Lokal reden noch eine Weile vom Ferdl; welche Stütze er seinen Eltern war, erzählen sie, und dann wenden sie sich wieder den Wirtshausfreuden zu. Der Tag «is amal anpatzt», und so bleiben sie im Wirtshaus. Die einen spielen, die anderen «dischkuriren», den Dritten ist das «Biberln» Selbstzweck. An meinem Tisch werden Drechslergeschichten erzählt.

*

Von Stufe zu Stufe. Draußen geht ein gebückter Alter vorüber. Mißmuthig schreitet er dahin. «Ui je, der alte Huaber, der g’hörert a scho lang ins Beckenhäusl; hat eh ka guats Stückl mehr zum Anziag’n.» – «Kennen Sie den Alten?» – «Ob i ihn kenn! Er hat do a Haus g’habt und a große Fabrik. Dreihundert Leut hat ’r beschäftigt. Er war einer der größten von unsern G’schäft. Jetzt is er a armer Hausg’sell wia i. Er liefert nach Hetzendorf zu an Master.» – «Is er an der Krise z’grund gangen?» – «’s wird schon mitg’holf’n hab’n, aber den hat sei’ Familie umbracht. Er war a anständiger Herr, aber, scheint’s a bißl z’guat gegen sei’ Familie. Er hat all’s seiner Familie überlass’n. Wia er in Konkurs kumma is, da hat sei’ Frau ihr Vermögen herauszog’n und hat sie a paar Fiakerzeug’ kauft. Sie is no heut Fiakerin. Von ihr’n Mann hat s’ seit der Zeit nix mehr wiss’n woll’n. Wann er heut zu ihr kummt, schmeißt ’n sei’ Sohn ’naus... Das is erst der Wahre. Von jeher war der a leicht’s Bürscherl, und die Muatta hat ihm d’ Stangen g’halten. Ja, wann m’r vo den d’rzähl’n wollt’. Als vierzehnjähriger Bua hat ’r scho mit an Madl a Verhältniß g’habt, was ’hn bald ins Kriminal bracht hätt’. Er und der seinige Schwager, der Bruader vo sein Madl, hab’n Großvattern tausend Guld’n g’stohl’n und hab’n s’ dann verhaut. Den Buab’n is nix g’schehn, den hab’n s’ aussag’haut, aber den andern, der was d’r arme Teufel war, hab’n s’ auf a Jahr eing’naht. Das war a Taglöhner. Wia ’r dann aussikumma is, is ’r bald darauf g’sturb’n. In Kerker hat sei Beuschl ’n Rest kriagt. Mit aner andern hat ’r drei Kinder g’habt, und heut’ is ’r der große Herr. Er hat si achtzehntausend Guld’n d’rheirat und fahrt jetzt als Gawlier mit’n Kutschirwagerl umanand. Ja, wann m’r da reden wollt’...»

«Was is denn mit’n Alten weiter g’schehn?»

«Der hat si a a Zeug kauft und is a Zeitlang als Fiaker g’fahrn; is aber wieder z’grund gangen, und heut is er net mehr als a Bettelmann. Er arbeit’ für sich allan als Master, kauft sich selber ’s Material, is aber do ka Master net, weil ’r zu an andern Master liefern thuat. Der d’rfangt si sei Lebtag nimmer.»

*

Hinauf zur Höhe. «Segn S’ da kunnt i Ihna glei no a and’re G’schicht d’rzähl’n vom Exporteur Popp. Der hat sei’ Zeit anders g’nutzt. Vur zehn, zwölf Jahr’n is er no mit der Taschen um ’n Ausschuß hausiern gang’n. Zu alle Perlmutterdrachsler is’r kumma und hat den billigen Schund z’samm’kauft, und heut is ’r a dreifacher Hausherr und hat vielleicht hunderttausend Guld’n in Vermög’n.»

«Na, na, sie werd’n ’s scho’ billiger geb’n.»

«Dös hat ’r wenigstens!»

Jetzt mischte sich auch der dritte Tischgenosse ins Gespräch und ereiferte sich: «Der Popp ist der größte Exporteur. Mei Master is a schöner großer Master, und der hat’s g’sagt. Der wird’s do wissen...»

Ich unterließ weiteren Widerspruch. Das Gespräch drehte sich dann um allgemeine Dinge, um den Segen der verkürzten Arbeitszeit, den die Drechsler priesen. Erinnerungen an die alte Zeit flogen auf, da die Drechsler noch vierzehn und fünfzehn Stunden bei der Drehbank standen. Der Organisation, die auch die Drechsler zu Menschen gemacht hat, wurde ein Loblied gesungen. Schließlich mußte ich trachten, den Tag weiter zu nützen.

*

Entschwundene Herrlichkeit. In Alt-Ottakring war es. Weit draußen auf der Ottakringerstraße, über die noch die einspännigen Wagen der Vorortetramway humpeln, gleichsam als Ueberbleibsel eines entschwindenden Zeitalters. Ich bummelte beobachtend dahin. Da stand ich vor einem alten verfallenden Haus. Kaum drei Meter hoch ist die Dachrinne über der Erde. Das alte Thor steht offen. Ich sehe in einen langgestreckten schmalen Hof. Er mündet in einen Garten. Auch der ist verwahrlost wie das Gemäuer, das Thor, die Wohnungen zur rechten Seite des Hofes, verwahrlost wie der Hof selbst, in dem eiserne Röhren, alte und neue Oeferln, verrostetes Blech, einige Kaminaufsätze – «Schampian» heißt man sie in Wien – eiserne Schalen und Abfälle aus der Schlosserwerkstatt zur Linken umherliegen. Wo die Werkstatt noch Fenster in den Rahmen hat, sind sie angerußt, rauchgeschwärzt. Das Fenster einer Wohnung stand offen. Eine Scheibe war herausgebrochen und mit Papier überdeckt, die andere blind vor Schmutz:

 

Durt, wo die Fenster san
Verschmiert mit Hafnerlahm...

dorthin war ich gerathen. Diese in den Neunziger-Jahren eine Zeitlang populären Coupletverse kamen mir in Erinnerung.

Mitten im Hof steht der Meister. Ein Fünfziger etwa. Sein Schurz konkurrirt mit den anderen Schmutzablagerungsstätten. Er ist freundlich genug, zu erkennen, daß es nicht müßige Neugierde war, die mich in den Hof getrieben. Einfach, ohne Umstände zu machen, führt er mich in den «Garten», ein gras- und blumenloses Stück Boden, aus dem einige Hollerstauden und einige Eschen ihre Kraft saugen. Zur Rechten ein «Salettl», nach den Spuren auf den Bänken und dem windschiefen Tisch zu urtheilen, eher ein Hühnerstall. «Jetzt hab’ i Ihna da hereinführ’n woll’n, ober all’s machen’s an voll, die Ludern,» sagte er in einem Wienerisch, dem man es anhörte, daß es auf das breite Deutsch des Ungars aufgepfropft war. «Da hab’n ma immer unser Tarokpartie g’hobt.» Er wies fast wehmüthig auf den Tisch. Und da er merkte, daß ich die Verwahrlosung ringsum betrachtete, fügte er erklärend hinzu: «Schau’n S’, dos war so. Aner von uns is furtzog’n, dos war mei’ zweiter G’sell, und jetzt hob’n m’r kann Dritten und kümmert sich auch niemand um Gorten. Mein’ Frau is auch g’sturb’n. No so schaut niemand d’rauf. Wann ich noch war’ g’sund, hätt’ ich g’heiratet, aber so...»

Ein wehmüthiges Lächeln umspielt seine Mundwinkel.

Wir gehen in den Hof zurück. Ein Besteller kommt. Eine Ofenröhre ist schadhaft geworden und muß ausgewechselt werden. «Hob’n S’ den Maß da?» – «Na, da muß wer mitgehn, mir kinnen’s net abinehmen, die Röhr’n.» – «So, no da war i glei mitgehn!» Er vergewissert sich, ob er noch den Zollstab in der äußeren Brusttasche stecken hat, und geht dann langsam fort.

Draußen schaue ich mir noch einmal die alte «Chaluppen» an. Auch sie war einmal neu und sauber, das Haus eines aufstrebenden Handwerkers...

 

Und drinnen waltet
Die züchtige Hausfrau,
Die Mutter der Kinder,
Und herrschet weise
Im häuslichen Kreise
Und lehret die Mädchen
Und wehret die Knaben
Und reget ohn’ Ende
Die fleißigen Hände...

Und heute ist es das trostlose Heim des zugrunde gehenden Kleinmeisters, der nicht mehr mitkann, den der Kampf müde gemacht hat; heute ist es ein verfallendes Wahrzeichen eben dieses Kampfes. Die alte Herrlichkeit ist entschwunden. Der Brettelsänger löst den Dichter ab:

 

Durt, wo die Fenster san
Verschmiert mit Hafnerlahm...

So singt er heute draußen im Liebhartsthal beim Heurigen, wo sie schon einladend die «Mostkranzeln» ausgesteckt haben.

*

Ueber die Schmelz trete ich den Heimweg an. Das Drachenfliegenlassen ist auch heute noch in Blüthe so wie einst

 

. . .am alten Linagrab’n,an
Wo wir als Buab’n uns g’spielt no hab’n.

Und auch auf das «Abgeigeln» versteht sich die Jugend von heute noch so gut wie einst. Auch sonst ist alles beim Alten: Den «Lüftler», den «Handler», den «Hechten» und «Vordersprung», den «Bug», das Händgehen und was es sonst an halsbrecherischen Künsten gibt, die die Jugend so gern den Parterregymnastikern beim «Künstler» abguckt, das alles können die Buben von heute so gut wie wir es gekonnt haben, vielleicht noch besser. Aber Eines haben wir nicht gekannt: um Geld «schnapsen». Die Buben auf der Schmelz thun es. Um den Rand einer fußtiefen Grube herum, die etwa einen Meter im Durchmesser hat, sitzen so fünf, sechs kleine Wichte und spielen «66» mit einem Eifer, der einer besseren Sache würdig wäre. In der Mitte der Grube haben sie einen Stein liegen, der ihnen den Spieltisch ersetzt. Auf diese hauen sie die alten, verwischten Karten mit der Spielleidenschaft alter Wirtshausbrüder auf. Gewinnt einer den Heller, um den das «Bummerl» geht, dann jubelt er, während den Verlierenden verzehrende Leidenschaft packt. Am liebsten möchte er dem anderen an die Gurgel fahren, «bei der Huasten pack’n», wie es dort heißt. Häßliche Züge zeigt diese Jugend in ihrer Entartung. Die Schmelz als Erzieherin! Wer wollte die Kinder verantwortlich machen? Keine dreißig Schritte weg von dieser Gruppe tarokirt eine Partie Arbeitsloser; es mögen auch Kosaken, Nichtsthuer unter ihnen sein; vielleicht arbeitslose Bauernfänger, einige von ihnen sind wenigstens verdächtig nobel gekleidet. Es wurde soeben ein «Vallat» gewonnen – vier ganze Kreuzer müssen die Verlierenden zahlen, Grund genug für einen armen Teufel, «auszuspringen». «Den ganzen Nachmittag verlier’n, da pfeif’ ich aufs Leb’n!» ruft er erregt, «jetzt verspiel’ i scho elf Kreuzer...»

Die Oktobersonne ist untergegangen. Rasch kommt die Nacht. Wieder schrillen die Fabrikspfeifen durch die Luft, die kleinen Knirpse und ihre großen Vorbilder packen die Karten zusammen und gehen. Wieder beginnt das Hinüber und Herüber der Arbeitenden. Wie mit einem Schlag ist das große Exerzierfeld wieder belebt. Die Schwärme der Müden kehren heim in die dumpfen, öden Gelasse, die ihnen mehr Obdach als Wohnung sind. Wieder wie am Morgen, hastend die einen, die Mütter, die die Sehnsucht oder Sorge vorwärtstreibt, die Mädchen, die nun erst mit ihrer Schneiderei beginnen, die Väter und Männer, die daheim Kranke haben, die Lerneifrigen, die ihr Buch nach Hause treibt, die Mitarbeiter an der proletarischen Organisationsarbeit, die rasch noch essen wollen, ehe sie in die Sitzung oder Versammlung gehen; langsam, gemächlich, schlaff und müde die anderen, die keine starke Sorge vorwärtspeitscht, und jene tausend, die mürrisch empfangen werden, wenn sie zu früh ihr «Daheim» aufsuchen – die Bettgeher. Die Bettstatt ist kein Daheim!

 

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