Max Winter
Streifzüge durch die Brigittenau
Eine Studie aus dem Leben des Proletariats
Arbeiter-Zeitung Nr. 300 vom 1. 11. 1901
Wohl kein zweiter Wiener Bezirk bietet dem, der das Leben des werkthätigen Volkes schauen, sein Elend kennen lernen will, so viel wie der jüngste Wiener Bezirk, wie die Brigittenau. «Am Wasser» kann man das eigenartige, für diesen am Donaukanal gelegenen Bezirk charakteristische Treiben der Schiffsleute und Uferarbeiter beobachten. Hier wird auch der, der zu suchen versteht, die Unterschlupfe der Obdachlosen entdecken und unvergeßliche Einblicke in ihr hartes Leben voll Elend und Entbehrung gewinnen können. Klopft er dann in den modernen Zinsburgen an die Thüren, so wird er das Elend der einheimischen Bevölkerung ebenso schauen wie das der «Zugvögel», der Bauarbeiter und Slowaken, die der herannahende Winter zum Ziehen nöthigt, und macht er endlich in den ebenerdigen Häuschen Rast, die da und dort als Ueberbleibsel der alten Brigittenauer Ansiedlungen die öde, eintönige Flucht der modernen Wucherburgen unterbrechen, dann wird er das schlimmste Wohnungselend mit seiner unerläßlichen Begleiterscheinung: Kinderelend, in seinen krassesten Erscheinungsformen schauen. Hier kann er auch sehen, wie so mancher «kernige Brigittenauer» gemeinsten Wucher mit dem Trümmerhaufen seines Besitzes treibt, noch schlimmeren oft wie der jüdische Bauspekulant, der diesen Bezirk längst zum ertragreichen Feld gemacht hat. Dies alles und noch manches andere ist zu schauen. Es ist eine weite Wanderung, die wir vorhaben. Wer mitkommen will, ist eingeladen.
Am Wasser
Saure Rüben. Ende Oktober, Anfang November wird der Magen von Wien mit «sauren Rüben» versorgt. Da herrscht dann ein Leben und Treiben am Brigittenauer Ufer des Donaukanals wie an wenigen Tagen des Jahres. Hunderte von Kindern umschwärmen die mit weißen Rüben hochangefüllten «Trauner» und Plätten, und die Schiffsleute brauchen Falkenaugen, um alle die vielen kleinen Diebskniffe zu schauen, die die lauernde Kinderschaar anwendet, um in den Besitz einiger dieser vielen, vielen tausend Rüben zu kommen. «Es is grad’, wia wann s’ Hakeln an die Finger hätten,» meint ein Bauer aus Aschau zu mir. «Wann S’ da von der Plätten auf a Stund’ weggehn, brauchen S’ kane Leut’ mehr zum Aussatrag’n!» Lachend bestätigt dies ein Markthelfer. «Da schau’n S’ hin, wia s’ den Wagen nachrenna.» Der Wagen eines Sauerkräutlers war eben mit voller Ladung abgefertigt worden und setzt sich nun gegen die Treustraße zu in Bewegung. Hinter ihm her eine Kinderschaar, die sich nicht nur um die dank der Unebenheit des Bodens vom Wagen geschüttelten Rüben rauft, sondern die es auch sehr gut versteht, der Unebenheit des Bodens nachzuhelfen. «Wia die Raben stehl’n s’,» ergänzt der Markthelfer. Der Sauerkräutler wendet sich auf dem Bocksitz um und schnalzt mit der Peitsche. Wie ein gestörter Fischschwarm stieben die Kinder nach allen Richtungen, um in der nächsten Minute wieder an dem Wagen zu hängen und dem Pferde die Last zu erleichtern. Der Zuruf eines der Jungen: «Der Krampen d’rzaht’s eh net!» läßt wenigstens darauf schließen, daß es den Jungen nur um die Bethätigung thierfreundlicher Absichten zu thun ist. Daß sie darin so arg mißverstanden werden, macht ihnen anscheinend das größte Vergnügen.
Auf dem Verkaufsplatz ist mittlerweile wieder ein Wagen angefahren, und die Markthelfer gehen an ihre Arbeit. In geaichten Butten schleppen sie die weiße Feldfrucht, die auf ihrem Kopf frischgrünen Aufputz trägt, über den Damm hinauf, stürzen die Butte in aufgehaltene Säcke um oder leeren sie auf den Wagen und laufen um die nächste. Ist Arbeit da, dann sind sie flink, denn Butte um Butte, die sie gefüllt bringen, trägt ihnen zwölf Kreuzer ein, die der Käufer zu zahlen hat. So oft sie also die 75 Kilo Rüben den Damm hinaufschleppen, die die Butten fassen, ebenso oft vervielfacht sich ihr Lohn, der trotzdem nur zur Zeit der Hochsaison (nach Allerheiligen) die üblichen zwei bis drei Kronen übersteigt.
Im Anfang geht es langsam. Drei, vier Tage lang oft müssen die «Rubenbauern» ihre dreißig Kreuzer täglich an den Magistrat zahlen, bis das Schiff leer ist. Die Markthelfer haben übergenug Zeit, sich zwischen dem Kommen einer und der nächsten Kundschaft zu langweilen. Sie sitzen dann auf den Schiffen herum oder plaudern am Ufer, oder sie haben ein Stichblatt, dem ihre «Frozzlereien» gelten, oder aber sie vergnügen sich mit dem «Kreuzerrollen». An eine Planke oder einen Stein oder Balken wird ein Brettchen so angelegt, daß es eine schiefe Ebene darstellt. Auf dieses setzen sie ein Kreuzerstück an und lassen es hinabrollen. Der Nächste muß trachten, mit seiner Münze dem am Boden liegenden Kreuzer so in die Nähe zu kommen, daß das «Maßl» – ein etwa fingerlanges Holzstäbchen – die Entfernung deckt. Das «Kugelspiel’n» der Alten! Der Unterschied ist nur, daß es hier um Geld geht, und daß ein gemeinsames Maß die Ungerechtigkeiten ausgleicht. Die Fingerspannweite ist verschieden, und der, der eine Hand «wia a Todtentrücherl» sein eigen nennt, wäre dem anderen, der vielleicht nur «Christbambrettln» hat, überlegen.
Am liebsten ist es freilich den Markthelfern, wenn sie recht viel zu thun haben, denn dann gibt es schönen Verdienst und den können sie, so wie jeder brauchen. Das Leben kostet Geld. Zwei reden gerade davon. Der eine will sich vom anderen ein «Fünferl» ausleihen. Der schlägt es ab. «I kann d’r net alle Tag’ a Fünferl leihen. Du hast heut g’wiß kane achtzig Kreuzer daham hergeb’n. I hab’ a net mehr wia du.» – «I hab’ a Kranl daham einbrennt... Fünf Kreuzer hab’ i dir geb’n, und dann hab’ i gestern auf d’ Nacht warten müssen, bis ’r kummen is, da hab’ i m’r a Krügl Bier kauft. Oes seids um a halber Sechse furtgang’n, i hab’ warten müass’n, und der kummt m’r erst um a viertel Siebene daher. So geh’, gib’s her dös Fünferl auf a Jausen.» – «Friß a Ruab’n!» – «Geh’, du stierer Bimpf, gib her, sag’ i.» Lachend entschließt sich endlich der andere, sein Vermögen zu theilen, da die Argumente immer wuchtiger werden.
Dann geben die beiden mir Audienz. Am gegenüberliegenden Ufer kreuzen eben zwei Stadtbahnzüge. Darauf anspielend, komme ich mit ihnen ins Gespräch. «Wie sich die Gegend verändert hat?!» - «Ja, wenn die alten Leut’ aufsteh’n thäten, dö leg’rten si’ gern wieder nieder. Wann uns dös wer g’sagt hätt vur a paar Jahr’n, daß die Roßau so ausschau’n wird...» – «Hat der Donauverkehr unter den Bauten stark gelitten?» – G’litten? Dös is do heut gar nix mehr. I denk’ no, wia’s die Lampeln abig’führt hab’n zur Lampelmauth und wia’s ’s Salz no bracht hab’n in die Trauner. Heut’ is ka Leben mehr auf d’r Donau. Ka Salz, ka Holz, kane Staner. All’s kummt per Bahn. Schau’n S’ ’nüber auf d’ Knöpferlbahn, was dö heut’ daherzaht... Ja in der alten Zeit. Wenn aner da g’leg’n is im Gras,» – er weist dabei mit seiner knochigen Hand auf die Böschung – «da hab’n ’n die Scheiber glei’ g’fragt, ob ’r arbeiten will. Hat ’r net woll’n, so hab’n s’ ’n mit’n Stecken davong’jaugt. Heut’ kinnen S’ bis Nußdorf ’naus um a Arbeit betteln gehen und Sie kriag’n kane... Dös bißl Holz, was no kummt. A wenig a Bauholz (Bretter) und a bißl a Wagnerholz, und fertig san s’. Die Scheiter zähl’n heutzutag gar nix mehr.»
*
Strobler. Die Böschung ist neben dem Ankerplatz der Rübenschiffe etwas abgeflacht, damit die Pinzgauer die mächtigen Stämme, die jetzt noch zum Floß gefügt auf dem Wasser verankert sind, aufs Land schleifen zu können. Mit «Hü», «Hüoh» und «Hüsterhoh» und Peitschenknall geht es zur Höhe. Gleich daneben besorgen Menschen die Roßarbeit. Sie tragen Rustenstämme (Ulmen), die ein Zehner-Trauner von Tulln gebracht hat, zu zweit und dritt den Damm hinauf und legen sie dann auf einen kommunalen Lagerplatz, bereits sortirt nach Stärke und Länge. Der Schiffsmann gibt immer den Platz an, wo der Stamm abzuwerfen ist. Sie sind fest dahinter. Besonders einer, ein kleiner, blonder Kerl, ist überall dort, wo die Arbeit am schwersten ist. Seine kräftigen Muskeln quillen unter den aufgerollten Hemdärmeln hervor, die Adern geschwollen und blau wie die Tätowirung am Unterarm. Aber auch seine Beine zittern unter der Last. «Ho hipp!»... so führt er das Kommando, und schon haben er und sein «G’spann» das eine Ende des Stammes dem Dritten auf die Schulter gehoben. «Ho...heb’ auf!»... und auch das andere Ende sitzt auf einer Schulter – ohne Tragleder.
Ein alter Herr kommt vorüber und sieht die beiden mit dem Stamm heraufächzen. Der voran ist bis in die Stirn roth. Sein struppiger, schwarzer Vollbart kann die Wirkung der Anstrengung nicht verhüllen. «Habts denn kane Lederpolster?» fragt sie der Alte, und dann zu mir gewendet: «Das ‹beißt›. I waß, was das is.» – «Wo soll’n s’ denn die Tragleder hernehmen?» frage ich zurück. «Das is schwer. Sie krig’ns net z’leihen.» – «Sollt’ halt der Stroblermeister welche haben.» – «Ja freili sollt’ er’s haben, freili, freili,» ergänzt der alte Herr... «Aber bitt’ Sie, wer kümmert sich denn um die armen Menschen?» – «Der Gewerbe-Inspektor könnt’ sich d’rum kümmern, das ist eine Schutzvorrichtung wie a jede andere. Diese Menschenschinderei muaß net sein. Dö müssen auf die Schultern ja ganz offen sein.» – «Freili... freili,» bestätigt der alte freundliche Herr und streicht dabei durch seinen silberweißen, kurzgestutzten Vollbart... «So a alter Strobler hat auf der Schulter, auf der er tragt, a ganz a harte Haut. So a Stecken beißt durchs Leder a no. Das san deutsche Stecken. Hab’n a a G’wicht danach. Freili sollt’s net sein. Sollt a jeder sei’ Leder hab’n; ’s beißt...»
Und weiter ging er.
Bald darauf gelüstete die Akkorder nach einer Jause. Sie hatten um 1 Uhr begonnen – wahrscheinlich mit leerem Magen -, und nun war es halb 5 Uhr. Das Jausengeld war schon lange verdient. Sie gingen den Schiffsmann an, und der sagte es dem Stroblermeister. Dieser gab jedem 40 Heller auf die Hand, und fort liefen sie. «Net z’lang ausbleib’n. Zeitli’ finster wird’s!» ruft ihnen der Stroblermeister noch nach. Die Mahnung war unnöthig. Zehn Minuten später ächzten sie schon wieder unter der Last der Bäume, die sie die Böschung hinauftrugen. Sie peitschten sich selber vorwärts. Je schneller sie fertig sind, desto schneller haben sie ihre 24 Kronen verdient, die ihnen der Stroblermeister für das Ausladen des Trauners zahlt. Da er selbst von der Partei 38 Kronen dafür bekommt, ist sein Geschäft kein schlechtes. Er wünscht nur, daß Tag um Tag einiges «Zillenfuhrwerk» bei ihm anhält.
Heute ist so ein Tag. Neben den Akkordern schleppen Tagarbeiter aus einer Stockplätten Tischlerholz. Fünf Bretter läßt sich jeder auf das Achselleder legen und steigt dann langsam die Böschung hinauf. Viel Plage auch, aber keine Hetzjagd, freilich auch nicht 6 Kronen, sondern nur 2 Kronen 80 Heller Taglohn, und auch nicht das Ungebundensein. Kommt der Tagwerker am Morgen zu spät, so kommt er in der Regel überhaupt schon zu spät, denn sein «Leder» ist dann gewöhnlich schon vergeben.
Außer dem Lohn hat der «Stroblermeister» auch für die Kranken- und Unfallversicherung sowie für die Arbeitsbehelfe aufzukommen. Die Stegladen, Böcke, Karren und – Tragleder hat er beizustellen. Wie die Akkorder schmerzlich empfinden, erspart er sich die Tragleder gerade bei ihnen gern, und zwar – den Akkordern zuliebe, weil diese sich durch die Tragleder in der raschen Arbeit behindert fühlen sollen. Die Akkorder sollten lieber 9 Stunden in Schmerzen als 9 ½ oder 10 Stunden ohne Schmerzen arbeiten? Möglich, daß es einzelne solche Schwärmer gibt, aber die Mehrzahl wird nicht so denken.
Wenn sie Scheiter ausladen, arbeiten sie ja auch zehn volle Stunden und nicht minder angestrengt. Da sind dann ihrer fünf in der Partie: zwei «Holzscheiber» – sie laden auf und führen den Karren –, zwei «Anzahrer» – auch sie laden auf und nehmen dann das Zugband über die Achsel, um den Karren über den Steg zu ziehen – und ein Holzleger, der das mit den beiden Karren gebrachte Holz geschlichtet haben muß, bis die Scheiber ihm die nächste Fuhr hinwerfen. Dafür haben die Holzscheiber 5 Kronen 60 Heller, die Anzieher 3 Kronen 60 Heller und die Holzleger 5 Kronen.
Daß auch sie nichts Geschenktes haben, dafür sorgt schon der Stroblermeister.
Geschenkt bekommen nur die Kinder etwas. Sie dürfen die Abfälle, Rinden und Späne sammeln und tragen sie dann in Körben und Säcken nach Hause. Sie sind eifrig an der Arbeit, die kleinen Knirpse, die Holzklauberkinder der Großstadt.
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Das Donauufer als Kinderspielplatz. So reich die Brigittenau an freien unverbauten Plätzen ist, die freilich als Kinderspielplätze ebensowenig geeignet sind, der liebste Aufenthalt ist den Kindern doch das Ufer des Donaukanals. Da gibt es Unterhaltung. Auf den Reitschranken, die die Uferstraße überqueren, um das Fahren von Wagen zu verhindern, die in früherer Zeit die auf der Erde liegenden gespannten Seile abräderten, bilden sie sich zu Seiltänzern heran, und die Kühneren unter ihnen versuchen ihre Kunst auch auf den Seilen selbst, mit denen das Zillenfuhrwerk an die Reitpflöcke gebunden ist. Die Pflöcke ersetzen den Buben zugleich die Böcke der Turnschule, und das was man in der Sprache am Wasser einen «Bock» nennt, ist ihnen das Reck. An den Querstangen der Böcke, mit denen die Füße der Böcke verspreizt sind, wird die Arm- und Knödel-, die Bauch- und Affenwelle geübt, der Bauchaufschwung und der Kreuzaufzug nicht minder wie der Zehen- und Kniehang.
Die interessantesten Objekte bietet aber das Wasser selbst. Das «Vaterlspiel’n» in einem Salz- oder Steinschiff oder gar das noch weit gefährlichere Herumtollen auf den Flössen. Mit all’ dem findet aber der jugendliche Uebermuth nicht sein Auskommen. Eine Lustfahrt in der «Rettungszille» ist das höchste Ziel der Wünsche aller fünfhundert Buben, die sich an sonnenhellen Nachmittagen am Donauufer herumtreiben. Weit draußen, wo das werkthätige Leben sie nicht mehr stört, macht sich eine Bubenschaar mit der Rettungszille zu schaffen. Sie haben sie losgekettet und rudern ihrer sechs, sieben hinaus. Hinüber zum rechten Ufer, dann handeln sie die Zille an den Uferpiloten gegen die Strömung und fahren wieder herüber. Keiner sitzt, alle stehen, der Gefahr nicht achtend, in dem schwanken Boot. Jeder will an dem Vorwärtskommen Antheil nehmen. Es gibt Streit. Die beiden Anführer rudern rasch auf das linke Ufer zurück und setzen die übrigen Jungen trotz ihrem Sträuben ab. Nun rudern sie allein hinaus. Da naht aber auch schon das Verhängniß.
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Ein Wachmann kommt. Der 484er beschleunigt seine Schritte. Aber die Buben haben ihn längst entdeckt. Sie retiriren etwa sechzig Schritte von dem Platz, an dem die Zille hängt, um aus sicherer Entfernung die weitere Entwicklung der Dinge beobachten zu können. Nur einer bleibt im Vollgefühle seiner Unschuld stehen. Er ist heute nicht gefahren, ihm kann also nichts g’scheh’n. Strandbummler und dort wohnende Wasserleute verfolgen den weiteren Vorgang. «I s’s denn schad’ um so an Hund, wann ’r d’rsauft? A halbe Stund’ schau i ihna scho’ zua,» sagt eine kleine Dame, die strumpfstrickend auf- und abschreitet, und die sich nun, da der Wachmann an ihr vorüberkommt, verpflichtet fühlt, auch ihren Text dreinzugeben. Für diesmal ging ihr frommer Wunsch nicht in Erfüllung. Die beiden Jungen, die in der Zille ertappt wurden, gewinnen mühelos das rechte Ufer, hängen dort das Rettungsboot an den Querbaum, der die Piloten abschließt, nehmen auf ihm Stütz, und hoppla! Sind sie schon auf der Uferböschung.
Wie sie rennen!
Der Wachmann hat das Nachsehen.
Jubelnd verfolgt die Kinderschaar die gelungene Flucht.
Aber bald ändert sich die Stimmung. Der eine, «dem nix g’scheh’n kann», wird von dem Wachmann abgefragt. «Warst du a dabei?» Der Wachmann hat schon sein Notizbuch herausgezogen, den Bleistift genäßt und setzt zum Schreiben an. «Da war’ i do net steh’n blieb’n,» gibt der Junge schlagfertig zurück. «Aber du kennst die Buab’n, dö in der Zill’n war’n. Wia haßen s’ denn?» – «Ja, alle kenn i net!» – «Wem kennst d’ denn?» – «Der ‹G’flickte› war dabei.» – «Wer is dös?» – «I glaub’, Glümmer haßt ’r.» Der Wachmann notirt den Namen. In dem Moment nähert sich dem Angeber ein kleiner Junge, ein sechs- bis siebenjähriger Knirps. Er hält die rechte Hand an die Wange, da er nun die Drohung ausstößt: «Ui, paß auf, du hast mein’ Bruadern anzagt. Ui, g’freu di.» Der Wachmann lacht über diese Frechheit des Knirpses, ist aber gleich gefaßt und nimmt nun diesen lächelnd ins Verhör. «Du, Glümmer, wo wohnst d’ denn?» – Keine Antwort. – «Wo wohnt ’r denn?» frägt er wieder den Angeber. «Im Vierazwanzger-Haus!» – «In der Treustraß’n?» – «Ja!» – Jetzt nimmt der Kleine Reißaus. Da er 15 bis 20 Schritte weit entfernt ist, wiederholt er schreiend seine Drohung: «Ui, G’scheangleter dö Paik («Packeln», Schläge), uii, g’freu di,» und zu dem mittlerweile vorsichtig näher gerückten Haufen der Jungen gewendet, schreit er: «Der G’scheanglete hat mein Bruadern verrathen!» Ein gedehntes «Uii... wuii» der Entrüstung geht durch die Reihen. Schon wollen einige Kühnere vordringen und an dem Verräther gleich Rache nehmen trotz der Anwesenheit des 484ers, da nimmt aber ein neues Ereigniß ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.
*
Der G’flickte. Auf dem Roßauer Ufer bringt ein Wasserarbeiter einen Jungen daher, den er rückwärts am Rockkragen führt. Ein Schrei des Entsetzens und Bedauerns fliegt von Mund zu Mund und vereinigt sich in mächtigem Chorus «D’r G’flickte!»
Widerstrebend läuft der «G’flickte» mit seinem Häscher über die Böschung hinab. Dort gesellt sich ein zweiter Proletarier vom Wasser zu dem Häscher, springt voraus ins Boot, nimmt dann den bloßfüßigen Jungen in Empfang, den ihm der andere am Rockkragen ins Boot hebt, der Häscher springt auch in die Zille, und fort geht es mit dem Jungen, der sich nun zusammenduckt, hinüber in die «Arme der Gerechtigkeit», die ihn breit lächelnd erwartet.
Lautlos folgt die Jugend der Szene.
Jetzt stoßen sie an.
«So Bürscherl, da warst d’ ja!» nimmt ihn der Wachmann in Empfang. «Wo is denn dei Freunderl?» – «A’taucht is er!» sagt der Junge unnachahmlich frech. Die übrige Kinderschaar, die nun die Gruppe umringt, gewinnt durch dieses Glück im Unglück ihren kecken Humor wieder und lacht aus vollem Halse. Die beiden Wasserleut’ ketten das schwarze Rettungsboot wieder an, nehmen das «Dank schön, meine Herr’n» des Wachmanns stumm entgegen und wenden sich dann zum Gehen. Der Wachmann hat den «G’flickten» mittlerweile mit sicherem Griff beim Rockkragen erwischt und frägt ihn ab, wer der Freund sei und wo er wohne. Der Gefangene bleibt standhaft. «Na wart’, Bürscherl... kumm’ nur mit aufs Wachzimmer. Wannst deine urnd’tlichen Salzer hab’n wirst, dann wirst scho reden... Geht’s denn net furt, Mistbuab’n...» so scheucht er die Schaar, die ihn und den kleinen Ausreißer umdrängt. Der «G’flickte» bleibt verstockt, er lacht nur einmal, da ihn der Wachmann mit «Herr Glümmer» anspricht.
Endlich geht es fort zur Wachstube. Die Schaar hinten nach: Zwei, drei Schritte hinter dem Wachmann, der die Komik der Szene von allem Anfang an erkannt hat und mit Humor seines Amtes waltet. Er lacht mit allen Zeugen der Szene mit, da die Jungen nun auf Befreiung sinnen. «Druck a, G’flickter, dei Kaffee wird d’r ja kalt!» ruft eine kleine Wanze und die andern im Chor: «Druck a’! Druck a’!» «Lass’ ihm dein Janker, den kann ’r si mitnehmen!» ruft ein anderer. Und wieder «Druck a’, Druck a’!» der Chor.
Wir kommen wieder an der kleinen strickenden Dame vorbei: «Na, dö Kinder von heut! So was!» – «Aber geh’n S’, is’s denn wirklich so arg? War’n wir denn anders? Geb’n S’ den Kindern ordentliche Plätz’ zum Spiel’n und sie werd’n net auf solche Sachen verfall’n. M’r muaß do a a Einseh’n hab’n.» – «Wahr is’s eh,» pflichtet sie mir nun bei, und da wird sie plötzlich eine andere. Ein Lächeln der Erinnerung gleitet über ihre Züge, sie denkt an ihre Jugendstreiche und fängt mir zu erzählen an, wie sie mit ihren Brüdern in den Zillen «Vaterl» gespielt hat und wie sie mehr als einmal in der Gefahr war zu ertrinken. «Bis Nußdorf ’nauf san m’r g’fahr’n. Als Kind kennt m’r ka G’fahr.» – «Na, also sehen Sie’s, Frau oder Fräulein – ich weiß nicht, was Sie sind –, denen Kindern is ’s net zum Verdenken. Kinder san halt Kinder. Der Uebermuth muß heraus! Aber die Kommune könnt’ den Kindern Spielplätz’ errichten, dann möchten s’ nicht zur Donau geh’n und m’r könnt dann auch strenger mit die Kinder sein.» – «Wahr is’s eh,» bestätigte sie mir, völlig umgestimmt, und ich eile weiter, um die Arretirung ganz auszukosten.
Der Wachmann bringt den Jungen in die Wachstube in der Othmargasse. Die ganze Schaar postirt sich vor dem Lokal und weicht auch nicht von dem Platze, als ein dicker Inspektor hinzukommt und sie wegjagt. Es vergehen keine fünf Minuten, und der Junge tritt wieder heraus. Ein Jauchzen geht durch die Schaar: «Serwas, G’flickter!» schreien hundert Kehlen wie auf Kommando, und dann setzt sich die Schaar wieder zum Donaukanal hin in Bewegung.
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«Tschari prack’n.» Der «G’flickte» schreitet wie ein gefeierter Held in der Mitte. «Kummts, geh’n m’r Tschari prack’n,» sagt der «Rothschädlete», den der Ruhm des «G’flickten» nicht ruhen läßt, und dabei zieht er eine Gummischleuder aus der Tasche und macht die Geberde des Zielens. Da zu meiner Bubenzeit die Spatzen «Tscherngst’n» hießen, war mir der Ausdruck «Tschari prack’n» fremd und ich fragte den nächststehenden Jungen nach seiner Bedeutung. Er wollte mit der Farbe nicht heraus. «Tscherngsten schiaß’n,» rief Einer im Hintergrund. Ich verwies den Kindern diese Roheit und erntete – neue Roheit. Ein Bub zieht einen todten Spatzen aus dem Sack und wirft ihn wie einen Ball in die Höhe, fängt ihn auf und warf ihn wieder hoch. «Schämst dich nicht? Wenn dich Einer mit einem Stein erschlagen thät! Der Spatz will auch leben.» Der Bub fühlt nun sein Unrecht, oder fürchtet er um seine Jagdbeute, kurz, er nimmt Reißaus und läuft, was ihn seine Beine tragen können.
Die anderen aber gehen – «Tschari prack’n,» wozu sie sich auch der Leimspindel bedienen, das ist ein Virginierhalm, den sie mit Schusterpapp bestreichen. Beides ist ihnen nicht schwer zugänglich.
Unterdessen kommt wieder der 484er aus der Wachstube, und ich frage ihn nach dem weiteren Schicksal des Knaben. «Gar nix könn’ m’r mach’n. Der Schul’ wird ’r anzagt!»
Wie weise muß ein Lehrer sein, der unter solchen Umständen bessernd wirken will! Kann er in den wenigen Schulstunden überhaupt gutmachen, was die Straße als Erzieherin verdorben hat? Wie viele dieser Schaar sind rettungslos verloren, trotzdem in einer vernünftigen Gesellschaft wohl alle, mit Ausnahme der krankhaft Veranlagten unter ihnen, zu nützlichen Gliedern der Gesellschaft heranwachsen würden. Die Wiener Patrioten gehen mit dem «kostbaren Kapital des Staates» verbrecherisch leichtsinnig um.
Das Wort, das die kleine Frau am Ufer ohne böse Absicht sprach, war nur das Echo des Geredes derer, denen die öffentliche Fürsorge für die Kinder des Proletariats obliegt. «’s is ka Schad’ um so an Hund, wann ’r d’rsauft...» und auch für die moralisch Verunglückten gibt es ja – Gott sei Dank – noch Gefängnisse und schließlich – Galgen genug, und – «Leut’ san eh’ gnua auf d’r Welt!»
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Den «Steinscheibern» gilt unser nächster Besuch. Sie verrichten Athletenarbeit. Man muß sie nur dabei sehen, namentlich die «Anzahrer». Den Oberkörper nackt – es war am 27. Oktober! –, sonnverbrannt noch vom Sommer her, den Unterkörper nur in einer Leinenunterhose steckend, den blauen Schurz zwischen den Füßen durchgezogen und hinten aufgebunden, so laufen sie über die Böschung hinunter, schwingen sich auf den Laden, der quer über das Schlepp gelegt ist und werfen die Steine, die ihnen der im Schiff stehende «Aufischmeißer» auf den Laden legt, auf den Steg hinauf, der, auf hohen Bockgerüsten ruhend, eben bis zum oberen Rand der Böschung läuft. Der Steinscheiber nimmt die siebenzölligen Würfel oder die «langen Siebner» oder die «Pfaffenkapp’ln», das sind die zugespitzten Randsteine an den Tramwaygeleisen, in Empfang und schlichtet sie auf den Karren, ihrer mehr oder weniger, je nach der Schwere. Zehn, elf Würfel oder sieben Lange, deren jeder 30 bis 35 Kilo wiegt, oder aber vier «Guldenstaner» laden sie auf, wie die «Pfaffenkapp’ln» auch heißen, weil einer dieser Steine, die aus dichtestem Material sind, einen Gulden kostet, während ein gewöhnlicher Granitwürfel auch heute noch einen «Zwanz’ger» kostet, aber nicht Konventionsmünze wie in dem Wien der Sechziger-Jahre, in dem man sich den Spaß erzählte, daß Wien mit lauter Silberzwanzigern gepflastert sei. Nun schwingt sich der Anzieher auf dem Bock in die Höhe, nimmt die Zugleine über die Achsel, und zwar so, daß er die Endschlinge in der vorgestreckten Hand hält. Beide Arme gestreckt – stählern treten die Muskeln hervor – beginnt er nun den Lauf über den schmalen, geländerlosen Steg. Die Adern im Gesicht schwellen ihm an, da er endlich auf festen Boden kommt. Alles scheint Stein an dem Menschen, selbst die Virginier, die er mit den zusammengepreßten Zähnen hält. Vor dem Schlichter macht er Halt, und der «Steinscheiber» leert den Karren ab. Der Anzieher wirft das Zugband auf den Karren und geht wieder die Böschung hinab, während der Steinscheiber den leeren Karren auf den Steg fährt. Während die zwei Scheiber ihre Karren beladen, muß der «Stanschlichter» die Steine, die im Haufen vor ihm liegen, schlichten. Wieder eine Athletenarbeit. Die Würfel wiegen 20, die «Siebner» 30 bis 35 Kilo, die «Pfaffenkappeln» gar 46 bis 48 Kilo, und diese müssen alle kunstgerecht übereinandergeschlichtet werden: 4, 7 oder 10 in der Minute, je nach ihrer Schwere, aber immer hat der Schlichter die Arbeit für zwei Karren zu besorgen. Je höher er kommt, desto schwieriger wird es. Und man bedenke: 3000 bis 4000 Steine zu schlichten ist die Leistung neunstündiger Arbeit! 60.000 bis 80.000 Kilo hebt er also im günstigsten Fall, 90.000 bis 100.000 Kilo, wenn «lange Siebner» oder «Pfaffenkappeln» ausgeladen werden, in der Stunde somit 10.000 Kilo. Das sind athletische Dauerleistungen, die sich sehen lassen können. Und für alles das bekommt er 6 Kronen im Tag, der Steinscheiber hat 7 Kronen, der Anzieher 5 und der Hinaufwerfer gar nur 4 Kronen. Gearbeitet wird von 6 bis 6 Uhr mit dreistündigen Pausen. «Aber glaub’n S’, Herr, daß m’r si Abends ka Gaude mehr verlangt, wann m’r da ’n ganzen Tag g’arbeit’t hat? Da fallt m’r ins Bett wia a Stückl Holz, und am andern Tag glaubt m’r’s gar net, daß ’s scho Fünfe is und daß m’r wieder auf muaß. ’S Stanabladen is a harte Arbeit. D’ Weaner wiss’n net, wia viel Schweiß als s’ tret’n than, wann s’ über ihner Pflaster gehen. Na, gehen m’r’s wieder an!» Er nimmt den Scheibriemen auf und geht sicheren Schrittes über den schwanken Steg. Ich aber suche noch vor dem Hereinbrechen der Nacht etwas über die Schlupfwinkel der Obdachlosen zu erfahren, die sich da irgendwo an der Donau befinden sollen.
Arbeiter-Zeitung Nr. 307 vom 8. 11. 1901
II: Im Hotel «zur Teppichklopferei»
In einer kleinen Kneipe hatte ich zwei Freunde gewonnen: einen Bauarbeiter und einen Kutscher, die mir mehr von den öffentlichen Geheimnissen der Brigittenau erzählen konnten, als ich zu erfahren gehofft hatte.
Das Leben hatte auch sie tüchtig in der Arbeit gehabt, und manche trübe Erinnerung an frühere Tage wurde in ihnen lebendig, da sie zu reden begannen. Es waren zwei brave tüchtige Menschen, die das Herz am rechten Fleck hatten, und da ich sie zu einem nächtlichen Spaziergang zu den Quartieren der Obdachlosen einlud, schlugen sie ohne Bedenken ein.
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Auf Rekognoszirung Es ist halb 12 Uhr, da wir aufbrechen und die Treustraße hinauswandern, die nächtlich stille, in welcher unsere schweren Schritte wiederhallen. Am Ende der Straße, dort, wo sie sich in holprige, verfahrene Geleise verliert, machen meine Begleiter Halt.
Zur Rechten sehe ich jetzt im Dunkel der Nacht die Umrisse eines im Freien stehenden Gehöftes, am Rande der Straße einen Baum mit mächtiger, breit ausladender Krone, die sich nun, da der Mond aus den Wolken tritt, gespenstisch in das Geäste auflöst. Zur Linken thürmen sich Sandhaufen auf einem offenen Platze. Schmale Gassen führen zwischen den einzelnen Sandhügeln dahin, blinkend weiß im Mondlicht, wie die Hügel selbst. «Da san m’r,» sagte der Kutscher, ein kleiner gedrungener Mensch, und schreitet mir durch die schmalen Sandstraßen voraus. Der Dritte folgt. Fast lautlos schreiten wir dahin. Kaum daß der Sand unter unseren Tritten knirscht.
«Da unter der Schupfen in die Zill’n schlafen s’! Pst, still!» ... Lautlose Stille. Der Mond ist wieder hinter schwarzes Wolkengeschiebe gerathen. Finster liegt die Sandstätte vor uns. Die Contouren eines langgestreckten offenen Schuppens heben sich im Dunkel ab, und unter dem Dach starrt uns schwärzestes Schwarz entgegen. «Wo schlafen s’?» – «Unter der Schupfen san die Hochwasserzill’n von der Kommune eing’stellt und in dö liegen s’ drin,» raunte mir der Bauarbeiter zu. «... Pst!... Hör’n Sie’s!» Gedämpfte Stimmen, tiefe Männerstimmen schlagen an mein Ohr. Sie sind noch wach. Wie aus einem Grab kommen die Laute. Einen Moment ist es ruhig. Da rollt furchtbares Husten unter dem Dach hervor...
Dann wieder Grabesstille.
Wir rühren uns nicht von der Stelle. Kein Lüftchen regt sich. Kaum zu athmen wagen wir, um unsere Anwesenheit nicht zu verrathen. Im Rücken der Sandhaufen, vor uns das Nachtlager der Obdachlosen, so stehen wir mitten auf dem freien Platz regungslos, wie Säulen.
Wieder meldet sich Einer. Das Stöhnen eines unruhig Schlafenden dringt an unser Ohr. Er wirft sich hin und her und stöhnt und ächzt dabei, und dazwischen knarrt sein «Bett», das roh gezimmerte Rettungsboot. Armer Mensch, ist das dein menschenwürdig Los? Furchtbar, ungeheuerlich!
«Hören Sie’s?... Gehen m’r,» so mahnt der Bauarbeiter.
Aus dem Dunkel der Nacht hat sich eine Gestalt losgelöst und schreitet nun an dem Rand des Holzdaches dahin. Jetzt beugt sie sich nieder. Der Mond muß hinter weniger dichten Wolkenpartien stehen. Es wird heller, oder nimmt das ans Dunkel gewöhnte Auge nun alles deutlich wahr? Die Gestalt beugt sich zu einer Zille nieder und sucht das Innere ab. «Was willst denn?» fragt eine rauhe Stimme. – «Bleib’ liegen!».... Sekunden später, und aus dem Dunkel der Nacht lösen sich weitere vier, fünf Männergestalten los. Sie scheinen direkt auf uns zuzukommen.
«Gehen m’r!» mahnt der Bauarbeiter nochmals und wendet sich dem Sandhaufen zu. «G’hört hab’n Sie ’s und g’sehn a, mehr hab’ m’r da net verlur’n. Es is net ganz geheuer,» sagt er , da wir uns der Straße nähern. «M’r kann nie wiss’n, mit wem m’r ’s z’thun hat.» Der Kutscher der nur widerstrebend den Beobachtungsposten verlassen hat, widerstreitet ihm. «Mir hätt’n ganz ruhig mit die Leut’ reden könna. Sie san net so g’fährli. Höchstens war’n s’ davong’rennt.» – «Lern du mir die Leut’ kennen! Ja, wann m’r an kennat von sie, dann ja... aber mitt’n in der Nacht... Da san s’ mit’n Messer a glei da. Dös waß i von Militär her, i hab’ Streifungen g’nua mitg’macht.»
Eilig gehen wir die Treustraße zurück. Ein kommunaler Straßenarbeiter, der bei der Dampfstraßenwalze Nachtwache hält – um den Schundlohn von 1 fl. 10 kr., nebenbei gesagt – erzählte uns, daß erst in der letzten Woche einmal ein ganzer Trupp, vielleicht 25, von der Polizei dort ausgehoben worden sei. Mächtig erregt gehe ich nach Hause. Diese Quartiere und ihre unglücklichen Bewohner mußte ich kennen lernen!
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Das Asyl für Obdachlose der Kommune Wien. Schon am nächsten Nachmittag war ich wieder auf dem Sandplatz. Ich kam gegen Sonnenuntergang hin, in der Hoffnung die ersten «Bettgeher» schon dort anzutreffen. Meine Hoffnung erfüllte sich. Auf dem Sandplatz fand ich zwei Arbeiter, die eine über zwei Böcke gelegte Zille reparirten. An sie wendete ich mich um Auskunft. «Sag’n S’ m’r, wo schlaf’n denn eigentlich die Leut’?» – «Die ‹Bettgeher› manen S’?» – «Ja, die halt in der Nacht da san.» – «Na, in die Zillna und hint’ im Grab’n. Sie können S’ Ihna eh anschau’n.» Der Eine ging mir voran und balancirte auf einem Balken zur rückwärtigen Wand der vorne offenen Bretterhütte. Er stieg dann auf den Rand der untersten Zille – ihrer vier lagen auf dem Balkengerüst übereinander – und guckte in die oberste. «Da hab’n S’ glei a Bett!» – «Hab’n S’ da scho wieder ans drin?» fragte der zweite Arbeiter. «Jetzt hab’n m’r ’s ihnen erst vurgestern ausramen müass’n.» – «Ah, Ihna Herr leid’t’s net, daß s’ da schlaf’n?» – «Na er hat nix dagegen, san ja eigentli die besten Wachter, aber dös Glumpertwerk kann leicht brennert werd’n.» Ich klettere hinauf und sehe nun auf dem Boden des Kahns einen Haufen von Fetzen, Stroh und Hobelscharten liegen: das Bett der Obdachlosen.
«Da hab’n S’ auch a Bett,» sagte der erste wieder und weist dabei hinunter in den Graben.
Die rückwärtige Partie der Hütte liegt tiefer. Die Bretterwand reicht aber bis hinunter, so daß unter den auf einen Balkengerüst aufliegenden Zillen ein leerer Raum entsteht. Dieser dient den Obdachlosen nicht nur zu den diskretesten Zwecken, wie der furchtbare Gestank verräth, es gibt auch verthierte Menschen, die sich hier zur Ruhe legen. Ziegelsteine und Dreckhaufen liegen herum, und inmitten dieser hat sich so ein armer Teufel sein Nest gebaut. Da liegt das Bett vor mir. Ein zusammengedrückter Strohhaufen und darauf Fetzenwerk – ich glaube ein alter Rock lag auch dabei.
Wir waren wieder auf den Sandplatz getreten. «Und wie lang geht denn das fort mit’n Schlaf’n. Die Leut’ erfrier’n ja in diesem kommunalen Asyl für Obdachlose.» – «Im Winter liegen s’ a da. Was soll’n s’ denn thun, wann s’ ka Quartier hab’n?» – «Na ja, die Leut’ können schließlich schwer heraus aus solchem Elend, aber die Kommune könnt’ doch ein anderes Asyl für Obdachlose herstellen als diese Barack’n. Es muß ja net sein, daß in der Millionenstadt Wien die Leut’ so z’grund gehen!» – «Frag’n S’ s’ übrigens selber, durt hab’n S’ glei a paar Bettgeher.» Damit weist er auf eine Gruppe junger Leute, die am unteren Ende der Baracke stehen. Ich schreite auf sie zu.
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Neue Freunde. Es sind ihrer drei. «Sag’n S’ m’r, Sie san Bettgeher von da?» – «Ja, was woll’n S’ denn von uns?» – «A klane Auskunft. Mich interessirt das sehr, wie Sie hier schlafen und wer Sie sind. Ich bin so herumg’streift da und hab’ gestern Nachts dieses Quartier entdeckt... Da möchte’ i halt, daß Sie mir von Ihrem Leben erzähl’n. Sie brauch’n keine Angst zu haben, ich bin nicht von der Polizei...» – «Eh net,» fiel mir da der Kleinste der drei, ein etwa 14- bis 15jähriger Junge, ins Wort. Sein rechtes Augenlid ist etwas verkürzt, wodurch sein kecker Blick, mit dem er das «Eh net» begleitet, einen Stich ins Freche bekommt. «Die Polizei waß ja eh, daß m’r da schlaf’n, dö kann scho kumma,» ergänzt er und schiebt dann seine Hände in die Säcke der Pepitahose, die an einem verknüpften Spagat – anstatt an Hosenträgern – an der Achsel hängt. – «Ich bin also,» beginne ich von neuem – «na, das is ja Nebensach’, wer ich bin, aber ich komme als Freund zu euch und will euer Leben kennen lernen.» Und nun beginne ich zu fragen.
Den Kleinen zunächst. Er schläft seit Mai dort. Seine Eltern sind schon seit einigen Jahren todt. «Sind’s zugleich g’storb’n?» – «Na, die Mutter is z’erst g’storben, a Jahr drauf der Vater.» – «Wann is dei Mutter g’storben?» – Der Knirps denkt nach, da kommt ein Elendskamerad seinem Gedächtniß zu Hilfe: «Im 97er Jahr.» – «Ja, 97, da war i no in der Lehr’,» bestätigt der Kleine. – «Ja, wie alt sind Sie denn eigentlich», wendete ich mich nun erstaunt an ihn. – «I? I bin 18 Jahr’!» – «18 Jahr’? Na hör’n S’, Sie stell’n ja kaum einen 15jährigen vor!» Das Mitleid begann sich zu regen. – «Was wollen S’ denn, bei dem Leben. Da kann ja ans net stark werd’n.» – «Verdienen Sie etwas?» – «Manchsmal a paar Kreuzer!» – «Womit denn?» – «I pack’ all’s an. Beim Wasser, beim Fuhrwerk, was daherkummt!» – «Aber Sie sind ja zu schwach!» – «I schau nur so aus, a Kraft hab’ i scho.» – «Na, lass’ m’r’s guat sein. Mit der Kraft wird’s net weit her sein. Es is ja a net möglich. Ihner Reindl, was S’ am Kopf hab’n, is eh das einzige Fette, was S’ an Ihna hab’n.» Dabei befühle ich seine Armmuskel, die schlaff – «lätschert» sagt der Wiener – am Knochen hängen. Armer Kerl! – «Mir scheint, Hemat hab’n S’ a kans an.» – «Na, mei Staud’n hab’n s’ m’r putzt. I hab’s g’waschen und hing’hängt zum Trocknen. I bin dann hintri ’gang’n, und wia i vüri kumm’, is’s nimmer da.» Jetzt hat er ein graues Sacco auf dem bloßen Leib. Er hat es unter die karrirte Sommerhose geschoben.
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«Hotel Teppichklopferei.» Allmälig hatte ich das Vertrauen der Leute gewonnen, sie merkten es, daß ich nicht als Feind komme, und sie wurden darum auch ein wenig redseliger. Vielleicht trug dazu auch etwas die Friedens-«Sport» bei, die wir miteinander rauchten. Die Zahl der «Bettgeher» ist schwankend. Aber die drei meinen dann, daß es schon etwa fünfzig sein mögen, die hier übernachten. Jetzt noch: Ende Oktober! «In Summer, da san’s gar net zum Zähl’n. Da lieg’n’s auf die Sandhauf’n umanand, aner neb’n ’n andern.» – «Sag’n S’ m’r, hat das Hotel an besondern Namen?» Die drei lachen: «Hotel Teppichklopferei» haßen mir’s.» – «Warum das?» – «Sehn S’, durt hint in dera Schupfen war amal a Teppichklopferei.» Dabei weist der zweite auf einen offenen Holzschuppen, der am Ende des langgestreckten Holzbaues, diesen überragend, der Quere nach da steht. Auch in ihm sind Zillen aufgeschichtet.
«Schlaft dort auch jemand?» – «Ja, g’wöhnli der ‹Hausmaster›!» – «Wer is der?» – «Wissen S’, der is so wia der Stub’nvater. Er is scho’ am längst’n da, und da haßt ’r halt der Hausmaster.» Hier fällt der schweigsame Dritte ein: «A urndlich’s Hotel braucht a an Hausmaster.» Die anderen lachen.
«Möchten Sie mich nicht dem Hausmeister für morgen Früh anmelden? Ich möchte das alles genau kennen lernen.» – «Kummen S’ nur her. Murg’n is Sunntag, wann S’ da um Sechse kumma than, treffen S’ uns fast no alle.» – «Aber, wia g’sagt, als Freund behandeln. In a Rauferei will i net ’neikumma.» Dabei übergab ich dem Größten eine Krone zur Vertheilung an die drei neugewonnenen Freunde. Damit war das Eis vollends gebrochen – «Kummen S’ nur murg’n her,» ermunterte mich der Kleine. «Wann Ihna wer anrührt, den hau-r-i ’s Hirn ein. Kummen S’ nur, wir werd’n ’s scho machen.»
So war es auch.
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Ein Sonntagsmorgen. Es war am Sonntag den 27. Oktober, als ich um ¾ 6 Uhr dem Ende der Treustraße zu hastete, um rechtzeitig am Platze zu sein. Der Tag begann schon sein Ringen mit den Schatten der Nacht, und als ich den Vorplatz des «Hotels zur Teppichklopferei» betrat, konnte ich schon alles deutlich unterscheiden. Die «Bettgeher» hielten noch Nachtruhe. Lautlos trat ich an den langgestreckten Schuppen heran und ließ eine Weile die Eindrücke auf mich wirken.
Ganz nahe an der offenen Wand des Schuppens stehend, vernehme ich die leisen Stimmen der Nacht. Ich höre das Athmen Schlafender und sehe sie nicht. Rechts von mir wälzt sich einer stöhnend auf seinem Lager. Wie da das Gefüge des Kahns knistert und knarrt, vernehme ich, das Stöhnen dringt an mein Ohr, aber ich sehe nichts. Tief unter mir höre ich husten, leises Hüsteln, das schließlich zum Gebell anwächst. Das müssen sie gehört haben, denke ich und schiebe nun meinen Kopf unter das Dach des Schuppens. Mit lauter Stimme rufe ich in das Dunkel den Namen des Hausmeisters hinein. Keine Antwort. Ich rufe nochmals. Abermals Schweigen. Nur einer scheint sich auf seinem Lager umzudrehen. Ich beschließe, ruhig abzuwarten, und trete wieder auf den Sandplatz zurück; da steht plötzlich so ein Elendsbruder vor mir: einer, den ich gestern nicht gesehen hatte. Aber er wußte schon um meinen Besuch. Meine drei Freunde hatten Wort gehalten und die Obdachlosenkolonie verständigt. Er war Schwerkutscher. So lange er Arbeit hatte, schlief er im Stall, und da er vor vierzehn Tagen die Arbeit verlor, hatte er auch kein Quartier mehr, natürlich auch kein Geld, sich eines zu miethen, und so schläft er seither bei einem Gärtner auf dem Misthaufen. Von dort war er eben gekommen. Er muß auch am Sonntag früher auf, um nicht entdeckt zu werden, während den Passagieren des «Hotels zur Teppichklopferei» die Sonntagsruhe auf dem Sandplatz zugute kommt. «Sie suach’n den klan’ Ranisch. Sie hab’n ja mit die Bub’n gestern g’sprochen? Warten S’, i wir den Klan’ aufwecken.» Damit geht er an das andere Ende des Schuppens und verschwindet unter dem Dach.
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Tag wird’s! Mittlerweile waren auch schon die Spatzen auf dem Pappelbaum gegenüber dem Sandplatz munter geworden und begrüßten mit hellem Jubelgezwitscher den heraufsteigenden Tag. Ich trete an den Kanal hinaus. Ein Dampfer fährt vorüber – stromaufwärts, pustend und schnaubend. Die Lichter auf der Stadtbahn drüben am Spittelauer Ufer sind verloschen. Der Tag ist da und mit ihm kommen nun auch die Elendsgestalten aus ihrem Bau heraus. Fröstelnd, den Rockkragen aufgestellt, die Hände in den Taschen, so kommt einer nach dem anderen. Bald habe ich einen ganzen Kreis um mich versammelt. Nur Einer hatte sich gedrückt. Ich bekam von ihm nur die Rückenansicht zu sehen. Den grauen Hut hatte er tief ins Gesicht gezogen. Sein dunkler Rock hatte in der Gegend der rechten Schulter einen großen hellen Fleck aufgenäht. Später tauchte er wieder auf. Nun sah ich auch sein vergrämtes altes Gesicht. Er verschwand in der Richtung der Jägerau. Meine neuen Freunde nannten ihn einen «bürgerlichen Branntweiner». Das schien er mir auch zu sein, wie er dahinschlotterte. Kraftlos, müde, scheu, herabgekommen – ein Opfer des Branntweins, dem er rettungslos verfallen scheint.
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Der «Taxameter». Einer nach dem anderen erzählt seine Leidensgeschichte: Zögernd die einen, denen ich alles abfragen muß, geläufig, wie einen oft gesungenen Vers, die anderen. Mitunter sprechen auch drei, vier zugleich. Jeder kennt die Elendsgeschichte des anderen, seine Familienverhältnisse, einer weiß vom anderen, wann er ein paar Kreuzer und wie viel er dann verdient hat. Das sind ihre Gespräche an den langen Abenden, wenn sie da im Finstern liegen und nicht eher einschlafen können, als bis Erschlaffung in ihre Glieder fährt und das Kältegefühl überwindet. Die Parteien vom «ersten Stock» – das sind jene, die in den obersten der aufgeschichteten Kähne schlafen – sind so souverän, auf Unterhaltung zu verzichten. Bei diesen sorgt nicht selten der Branntwein für das nöthige Maß von Erschlaffung. Die Insassen der «Kellerwohnungen» dagegen und namentlich die der drei «Coupés» führen ein rechtes Familienleben. Sie hat das Elend förmlich zusammengeschweißt. Einer kennt das Leid des anderen. Einer dieser erzählt mir, daß er wohl «am Wasser» ein bis drei Tage in der Woche Arbeit finde, immer gegen einen Lohn von 2 Kronen 40 Heller, daß aber diese paar «Netsch» nicht hinreichen zu ordentlicher Lebensführung. «I bin froh,» sagt er, «wann i net mit’n ‹Taxameter› ausrucken muaß. Von an Quartier zahl’n kann ka Red’ sein.» – «Was ist das, Ihr ‹Taxameter›? – Die «Bettgeher» schmunzelten. «Das Häferl für d’ Klostersupp’n haß’n m’r so!» – «Habts ihr a jeder an’?» – «Das muaß m’r ja hab’n. Unseraner lebt do oft die ganze Woch’n von nix andern.»
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«Aus ’n Brot.» Einige von ihnen sind verunglückte Lehrbuben. Der Ranisch war Schusterlehrling, ein anderer, der mir nun seine Lebensgeschichte erzählt, lernte Goldarbeiterei. Es freute ihn nicht und er lief davon. Seine Eltern leben selbst so im Elend, daß sie ihm nach diesem Jugendstreich eines an ungebundenes Leben gewöhnten Burschen nichts bieten konnten oder wollten, was ihn vor dem Los des Lumpenproletariers bewahrt hätte. Der Vater ist Maurer, die Mutter geht hausieren. «Wissen than sie’s, daß i da schlaf. Aber dö scherrn si net d’rum. Meine drei Brüader kummen öfter her. Dann und wann bring’n s’ mir a was z’essen oder Zigarett’n, was der größere is, aber hamgeh’n kann i net. Z’ Haus is ka Geld, und mein Vater hat eh gnua z’ thuan, daß ’r die Klanern d’rhalt. I bin schon aus ’n Brot.» An seinem Sacco hat er eine Nähnadel stecken, um die ein Zwirnfaden gewunden ist. An dieser Ordensdekoration des Heimatlosen erkenne ich, daß er sich in sein Schicksal bereits ergeben hat.
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Der Hausmeister schläft noch. Er liegt im «ersten Stock», und zwar direkt in der Teppichklopferei, dem höheren Schuppen, der quer zu dem Längstrakt des «Hotels» steht. Der kleine Ranisch, der die ganze Zeit über mit seinen bloßen Füßen unruhig herumtanzt, um sich zu erwärmen, fragt mich, ob er ihn wecken soll. Er sucht Beschäftigung für seine Füße, die unbekleidet und ohne Hülle der Kälte der Oktobernacht ausgesetzt waren. Kein Hemd, keine Strümpfe, keine Schuhe! Die Nacht war kalt, der Morgen ist frisch, und kein wärmendes Frühstück macht ihn widerstandsfähig. So tanzt er denn herum auf seinen vorn breit ausladenden Füßen, die ohne den Zwang der Schuhe sich kräftig entwickeln konnten, und läuft jetzt zur «Teppichklopferei», da ich zustimmend nicke. Mit Affenbehendigkeit klettert er über die vier ineinander gestellten Kähne und beugt sich dann über den dort Schlafenden, von dem allerdings nur der alte Menschikoff zu sehen ist, mit dem er sich zudeckt. Er rüttelt den Schlafenden. «Hausmaster, der Herr is da!» Knurrend erhebt sich der Mensch von seinem Lager und steigt langsam herab. Auch dabei knurrt er, und erst die Morgenzigarette, die ich ihm anbiete, stimmt ihn versöhnlicher. Es schüttelt ihn vor Kälte, da er den Ueberrock anlegt. «Seit wann san Sie in dem Quartier?» – «Jetzt wird’s bald zwa Jahr sein.» – «Im Winter san S’ a da?» – «Wo denn? – «Ja mit was decken S’ Ihna denn da zua?» – «Mit’n Himmel.»... «Mit der großen Tuchend», ergänzt ein anderer scherzend. Der Hausmeister ist aber nicht zum Scherzen aufgelegt. Er wendet uns den Rücken und verschwindet bald hinter der Baracke. «Der hätt’s e net notwendi, daß er da schlaft. Der arbeit’t unt’ am Wasser, verdient a schön’s Geld, tragt aber all’s zum Branntweiner. Wir war’n manchmal froh, wann m’r a Stückl Brot hätt’n, und der versauft’s.» So lautete die Nachrede.
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Weihnachten im Misthaufen. «Was machts denn ihr im Winter,» wendete ich mich an die anderen. «Wenn’s recht kalt is, geh’ m’r zu die Gärtner. Aber m’r hat ja ka Ruah. Die Polizei kummt alle Augenblick nachschau’n und nimmt an’ mit. In Summer hab m’r ’s guat, da kummt die Polizei, wanns grad an suacht, der was ang’stellt hat, find’s ’n, ’s guat, nimmt’s ’n mit und vielleicht a a paar andere, dö si net ausweis’n könna, oder dö a Kutscherstraf’ schuldi san, aber die andern können dann wieder weiter schlaf’n. Aber im Winter nehmen s’ gern mit, was d’rwischen.» – «Wo schlaft ihr denn da bei den Gärtnern?» – «Im Misthaufen» – der «böhmische Franto» lacht. Es ist der, der mich zuerst am Morgen begrüßt und mir dann erzählt hatte, daß er auf einem Misthaufen geschlafen habe. «Da is wenigstens warm im Mist,» ergänzt ein auffallend hübscher und starker Bursch von etwa 16 Jahren, den ich «Ferdl» nennen will. Er bringt sich als Schwerkutscher durch, ist nun aber postenlos und übernachtet auch hier. «Haben Sie denn auch schon im Mist g’schlafen? – «Ja, zu die letzten Weihnächten.» – «Mit was deckts euch denn da zu?» – «Mit’n Mist! Den heb’n m’r so auf (er macht mit beiden Händen eine hebende Bewegung), leg’n uns dann eini und lassen den Mist auf uns fall’n. Da is ’s warm.» Ein zweiter, etwa Dreiundzwanzigjähriger, war damals auch mit dabei. «Da hab’n m’r’s schön g’habt,» bestätigt er, «aber vierzehn Täg d’rauf san ma amal in der Fruah aufg’standen, und da is der Schnee schuhhoch am Haufen g’legen, und wir drunter.»
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Eine gute Seele. Der Dreiundzwanzigjährige erzählt seine Familiengeschichte. Sein Vater ist «ein alter Esel», der sich an ein «jung’s Mensch g’hängt» hat, die mit ihren 19 Jahren natürlich nicht als Mutter zu den erwachsenen Kindern paßt. Die rechte Mutter war todt, dennoch blieb alles beim Alten. Denn die eigentliche Erzieherin der Kinder war seit jeher nicht die Mutter, die sich als Hausiererin ihr Brot verdiente, sondern ein altes Hausmöbel, eine Proletarierin, die gegen Kost und Quartier als Lohn die Wirthschaft führte. Diese fremde Frau pflegte auch die Mutter, als sie drei Jahre krank war, aufopfernd, und da die Mutter starb, erklärte die Pflegerin, den Kindern weiter Mutter sein zu wollen. Doch es kam anders. Der Alte war glücklich, bei einer jungen Person Anwerth zu finden, und diese setzte sich gar bald ins Haus, während die alte Wirthschafterin hinausgeworfen wurde. Ihr nach folgte bald Kind um Kind. Zuerst die Größeren und dann die zwei Kleineren, von denen die «neue» Mutter behauptete, daß sie so «Pülcher» nicht brauchen könne. Diese sind noch schulpflichtig und lagen nun auf der Straße. Was thun? Die alte Proletarierin, die die Kinder nicht aus den Augen ließ, erfuhr davon und brachte sie in einer Familie unter, wo sie nun selbst das Kostgeld für die Kinder zahlt. – «Hat sie denn Geld?» unterbrach ich den Erzähler. – «Na, sie geht in d’ Stadt betteln, und davon zahlt sie ’s Kostgeld. Dö Alte is a guate Seel’!»
Die Bettlerin als zielbewußte Wohlthäterin, als Schutzengel von Kindern, deren Erzeuger ihr nur Undank bewiesen haben, wer könnte sich ein edleres Bild ausdenken?!
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Ein Frühstück im Freien. Es mochte mittlerweile 7 Uhr geworden sein. Der kleine Ranisch friert erbärmlich und macht sich alle Augenblicke etwas zu schaffen, um Bewegung zu machen. Jetzt kriecht er dort nach rückwärts, wo mir am Vortage die beiden Arbeiter die «Kellerwohnung» inmitten der Kothhaufen gezeigt hatten. Dorthin ruft er: «Taxameter! Steh auf!... Hörst, hast g’hört, steh auf!» – «Lass’ mi in Fried’!» gibt eine Stimme zurück. Der Ranisch lockt aber weiter: «Hast g’hört, geh her, kriegst an schön’ Matschker,» womit er einen auserlesenen Zigarrenstumpf meint, der sich zum Kauen eignet. Der «Taxameter» – es ist dies der Spitzname eines herabgekommenen Fiakers oder Einspänners – rührt sich aber nicht. Selbst der schöne «Matschker» treibt ihn nicht aus seinem Bau.
«Ja, sagt’s m’r, Leut’ln, Ihr werd’s ja an’ Hunger hab’n, was is’ denn mit an’ Frühstück?» – An’ Hunger hätt’ m’r scho...» – «Wollt’s ‹Safaladi› hab’n? Was kost’t denn a Bandl?» – «Vier Stückln acht Kreuzer.» Er meinte selbstverständlich Roßwürste. Ranisch springt darum fort. Keine fünf Minuten später kommt er bepackt zurück. Da niemand ein «Nusch» (Messer) hatte, schneide ich den Laib Brot auf, während sich die sieben Bettgeher, die nun um mich versammelt sind, in die fünfundzwanzig Würste theilen. Jeder bekommt zunächst drei. Alle essen. Und wie gierig! Keiner hat für anderes Zeit. Zwei Bissen und die erste Wurst ist verschlungen sammt Haut und – Haar. Jetzt erst kommt das Gespräch wieder in Fluß. «Guat san’s.» – «Stark g’salzen!» – «Dös is ja guat, wann’s net so süaßlet san. I mag’s gar net anders.» Und dabei würgen sie die Würste fabelhaft schnell hinunter. «Ferdl» meint treuherzig, nachdem er zwei Würste gegessen hat: «I wer m’r ane auf z’ Mittag aufheb’n. Heut hätt’n m’r eh net hoff’n därf’n, daß m’r was z’ess’n krieg’n.» Seinem Beispiel wollten andere folgen, ich ermuntere sie aber, nur die Würste zu essen, es seien noch vier da für Mittag, und den anderen werde ich dafür das Geld geben. Der Vorschlag stößt auf keinen Widerspruch und bald hat jeder seine drei Würste vertilgt.
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Höhlenbewohner in Wien. Nun glaubte ich die Zeit für gekommen, um in die Schlupfwinkel ohne Gefahr eindringen zu können. Ich schneide noch das restliche Brot auf, vertheile die letzten Würste und äußere dann den Wunsch, daß ich nun noch die Wohnungen sehen möchte. «Woll’n S’ z’erst in’ Keller geh’n?» – «Was ist das?» – «Mir hab’n’s uns da unt’ ausg’ramt und aus Ziegeln zwa Mäuern aufg’führt, das is unser Quartier, die ‹Kellerwohnung›. Es san drei so Löcher nebenanand. Aber das Ansercoupé is eing’stürzt. Die Polizei hat’s lang net g’wußt, daß mir da unt’ Höhl’n hab’n, aber jetzt hat’s ihr scho aner g’steckt. So oft s’ in die letzten Woch’n kumma san, hab’n s’ abig’schrien: ‹Zwarercoupé auf!› Sie haßen’s Coupé!» Alle lachen bei diesem Ausdruck. «Sie hab’n den Nam’ auf’bracht.» – «Und was geschieht dann?» werfe ich dazwischen. – «Da müaß’n m’r halt außikräul’n.» – «Hinein kommt die Polizei nicht?» – «Na, da war no ka Wachter drin!» – «Warum denn nicht?» – «Weil’s net so leicht geht. So mager is ka Wachter, daß ’r da einikummt.» Die Coupégenossen lachen über den Spaß, der, wie ich mich gleich überzeugen sollte, eine sehr reale Unterlage hat. – «Geh du füri und mach’ a Licht, damit’s der Herr siecht,» gibt Einer Befehl, und schon springen mir ihrer drei voraus unter das Dach des Schuppens und nach rückwärts, dort wo die abschüssige Stelle von Booten überdacht ist. Die Boote liegen auf Balken und sind fast ganz nahe an die Rückwand des Schuppens angeschoben. Nur ein schmaler Spalt bleibt. Auch dieser wird für mich erst sichtbar, da die «Bettgeher» ein Brett aufheben, das darüber liegt. Sie lehnen es an die Rückwand, und nun sehe ich in der Mitte des Streifens, der von dem Brette überdeckt war, einen etwa meterlangen und zirka 40 bis 50 Zentimeter breiten Spalt, der in die Tiefe führt. In diesen Spalt lassen sich zwei der Bettgeher hinab. Ich folge ihnen, unterstützt von oben und unten. Unten packen, als ich mich im Stützstand in den Spalt lasse, die zwei Führer meine Beine, und die anderen halfen mir oben nach.
In der nächsten Minute bin ich in der Höhle, die etwa zwei Meter lang und anderthalb Meter hoch und breit ist. Sie ist von dem Licht erhellt, das ein Kerzenstümpfchen verbreitet, das der eine meiner Führer, am Boden kniend, angezündet hat. Der schwarze Erdboden ist mit Hobelscharten überdeckt. Als Plafond dient der Boden einer Zille. Die beiden Breitseiten und ein Längseite sind von alten Ziegeln gebildet, die übereinander geschichtet sind. Die andere Längseite ist von der Rückenwand des Schuppens gebildet. Natürliches Licht empfängt die Höhle keines, und Luft nur durch die Spalten, die im Bretter- und Ziegelgefüge sind. Dieser Raum ist bei einer Bodenfläche von 3 Quadratmetern und einem Luftkubus von 4 ½ Kubikmetern selbst für einen Menschen ungenügend, da die Hygieniker für eine Person 17 Kubikmeter Luftraum fordern. Dennoch schlafen in diesem Raum gegenwärtig vier so arme Teufel, und früher schliefen hier gar acht Troglodyten, acht Höhlenbewohner der Großstadt, eng aneinandergepreßt die Leiber, um dadurch gegen die Kälte Schutz zu finden.
Acht Menschen! Seid ihr wirklich noch Menschen, ihr armen Thiere in Menschengestalt, für die es keinen «Thierschutzverein» gibt, die die Polizei ruhig verderben läßt, weil sie ihnen kein anderes Obdach als den stinkigen, überfüllten Polizeiarrest bieten kann, den diese armen Menschen noch mehr fürchten als dieses ihr selbstgebautes Höhlenhaus? Die Polizei läßt sie gewähren, und sie thut noch gut daran, daß sie so handelt, wo sie selbst nicht helfen kann; aber wenn ein Funken sozialen Geistes in den Polizeigehirnen stecken würde, dann müßte die Polizei diese ihr längst bekannten Thatsachen hinausschreien in die Welt, immer und immer wieder bekanntmachen, um dadurch den Wiener Magistrat zu zwingen, diesem menschenunwürdigen Zustand ein Ende zu bereiten.
Ich bin überzeugt, daß diese Brigittenauer Kolonie, in die mich der Zufall führte, nur eine der vielen ist, daß hunderte Menschen, vielleicht tausende, Nacht um Nacht in Wien im Freien schlafen oder in solchen Höhlen, Tausende, die in Asylen und kommunalen Herbergen unterzubringen die verfluchte Pflicht und Schuldigkeit unserer christlichen Stadtväter wäre!
Die armen Teufel selbst sind sich ihres menschenunwürdigen Zustandes unbewußt. Sie ahnen es nicht, wie unsagbar elend sie sind. Sie nehmen ihr Dasein unter dem Niveau der Thiere als den natürlichen Zustand hin und sind froh, wenn sie unbehelligt bleiben.
Sie begreifen nicht mein Entsetzen, als ich mich in dieser Höhle umsehe, und lachen noch dazu. Für sie ist es ja noch ein idealer Zustand, in dem sie leben, besser als «im ersten Stock», und besser als in den Misthaufen ist es hier, und besser auch als in dem einschichtigen Bett, das sich weiter oben der «Taxameter» in der Nachbarschaft der menschlichen Exkremente hergerichtet hat.
Mit zwei, drei kommunalen Asylhäusern könnte diesem Jammer ein Ende gemacht werden. Hunderte von Wiener Wohnungen stehen leer, viele große Paläste sind unbewohnt, und hier müssen Menschen in Höhlen hausen! Sie begreifen es nicht, diese armen Kerle, weil sie nicht wissen, wie reich die Welt ist und wie gewissenlos sie ist, wenn sie sich dieser primitivsten Menschenpflicht entzieht.
Ich strebe wieder hinaus. Durch den Spalt strecke ich meinen Kopf hinaus und suche mit den Händen einen Halt. Da packen mich schon von oben hilfreiche Hände. Ein Ruck und ich – stecke, stecke in dem Spalt, durch den ich wohl dank meiner Schwere hinunterkam, der nun aber nicht so leicht zu durchklettern ist. Oben ziehen sie an mir, die Zwei unten tauchen, ich stemme mich kräftig auf, und durch bin ich. Erleichtert athme ich wieder auf, da sich der blaue Himmel über mir wölbt und vom Donaukanal her mir eine Brise frische Luft zuträgt.
Die Einladung, auch das andere Coupé zu besichtigen, lehne ich ab. Ich hatte genug gesehen.
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Das große Lavoir. Die Toilette der «Bettgeher» wird am Sonntagmorgen sorgfältiger besorgt als an anderen Tagen. Die Coupégenossen halten streng auf Reinlichkeit und einer verpflichtet den anderen, daß er sich täglich wasche und daß er seine Wäsche wenigstens einmal wöchentlich reinige. Beides besorgen die Passagiere des «Hotels zur Teppichklopferei» im «großen Lavur», wie sie den Donaukanal nennen.
Der hübsche Sechzehnjährige hatte mir schon vor dem Frühstück, da er fröstelnd vor mir stand, erzählt, daß er deshalb so erfroren sei, weil er sich am Abend vorher seinen «Barchentjanker» gewaschen und ihn die Nacht über am Leib getrocknet habe, da er ihm sicher gestohlen worden wäre, hätte er ihn wo zum Trocknen hingehängt. Nun sehe ich sie bei der Toilette.
Nachdem sie sich eifrig bemüht hatten, die Hobelscharten, die an meinem Havelock bei dem Besuch der Höhle hängengeblieben waren, zu beseitigen, denken sie an ihre Toilette. Sie eilen die Böschung hinab, knien sich auf die Randsteine und waschen sich Gesicht, Hals und Hände. Mit den Aermeln ihrer Röcke oder mit schmierigen Fetzen trocknen sie sich zur Noth. Einer leiht seinen Kamm her, und mit diesem macht nun einer nach dem anderen seine genäßten Haare zurecht.
Der Ranisch ist als erster fertig. Während sich noch die anderen kämmen, legt er sich platt auf die Randsteine und schlürft mit dem Munde Wasser aus dem offenen Gerinne der Donau. Entsetzt wende ich mich an meinen Nachbar. «Der trinkt ja Donauwasser?!» – «Was soll ’r denn thun? Das trink’ m’r alle. Was woll’n S’ denn in der Nacht thun, wann S’ an Durst hab’n? Vurgestern hab’n m’r uns Abends an Haring kauft, und da hab’n m’r unser zwa aus ’n Coupé außakräul’n und sauf’n gehen müass’n. Wo woll’n S’ denn hingehn mitt’n in der Nacht.» – «Aber das ist ja ekelhaft und gefährlich, ihr könnts ja die schlimmsten Krankheiten krieg’n.» – «Wahr is’s ja, der Ferdl is erst vurige Woch’n so beinand g’wes’n, daß m’r glaubt hab’n, er d’rfangt si’ nimmer. Da hat ihm aner aber Tropfen geb’n, und es is ihm leichter wurd’n. Aber das Wasser is net schlecht zum Trinken, es is ja frisch und rein...» Ich gab weitere Aufklärungsversuche auf.
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Voll Ingrimm über eine Gesellschaftsordnung, in der ein derartiger Zustand von brauchbaren Gliedern dieser Gesellschaft auch «zur Ordnung» gehört, verließ ich diese Stätte menschlichen Jammers. Es war mittlerweile acht Uhr geworden. Die Bettgeher aber gingen an die Suche nach Erwerb, voll Freude, daß der Tag für sie «so gut» begonnen, und vielleicht hoffend, daß der Tag ihnen noch weiter Glück bringen werde.
Arbeiter-Zeitung Nr. 311 vom 12. 11. 1901
III: Wie das arbeitende Volk wohnt
Wer Brigittenauer Proletarierquartiere sehen will braucht nicht erst lange zu suchen. Wo immer in diesem Elendsbezirk der aufmerksame Beobachter seinen Fuß hinsetzt, dort drängt sich ihm das Wohnungselend des Volkes in seinen schlimmsten Erscheinungsformen auf. Es ist in den großen Wucherburgen ebenso zu finden wie in den alten kleinen Hütten, die da und dort als Reste der alten regellosen Brigittenauer Ansiedlungen zurückgeblieben sind: Gleich schlimm in beiden! Wer sehen will, braucht nur in eines der Häuser zu treten, fast ohne Wahl, und dann kann er namentlich in den Hinterhäusern von Wohnung zu Wohnung gehen und er wird überall gleich gräßliche Bilder schauen.
Die charakteristischen Merkmale aller dieser Wohnungen sind: Ueberfüllung, viele Kinder und das Beisammenwohnen und Beisammenschlafen, oft in einem Bette, von Personen, die einander ganz fremd sind.
Treten wir also in eine Zinsburg in der Klosterneuburgerstraße. Das Leben ist stärker als das schönste Resumé.
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Eine Hausordnung. Im Hinterhaus steigen wir – ein Brigittenauer Genosse begleitet mich als Dolmetsch und Führer – die ausgetretenen schwärzlichen Stufen hinan. Es ist Abends. Die langen schmalen Gänge mit den abgestoßenen, verkratzten, schmierigen Wänden, die wohl schon seit vielen Jahren nicht geweißt sind, empfangen von einer flackernden Gasflamme spärliches Licht. Thür an Thür, und die öde Reihe ist nur hie und da von einem vergitterten «Kabinet»-fenster durchbrochen, das auf den Gang mündet. Die eine, flackernde, nur halb aufgedrehte Flamme wirft dennoch ein grelles Licht auf die Zustände in dieser Zinsburg, denn ihr Schein fällt auf die Hausordnung, die, mit Tinte geschrieben, über dem Bassin der Wasserleitung an die Wand geheftet ist. Dieses Dokument ist in mehr als einer Beziehung charakteristisch. Vor allem zeigt es freilich von hausherrlicher Brutalität. Es lautet:
Bei Kündigung ist verboten
Das Spielen der Kinder auf den Gängen, Stiegen und
im Hofe, das Beschmutzen und Beschädigen des Mauerwerks,
das Aufhängen der Wäsche am Gang und Wohnungsfenstern,
das Ausleeren von Spülwasser in die Wasserleitung, sowie das
abendliche Versammeln und Verstellen des Hausthors.
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Die Administration.
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Zuerst die Strafe, dann die Paragraphe! Und was für Paragraphe! Sie geben uns in ihrer lapidaren Kürze sofort einen Begriff von den Wohnungen, von diesen engen, überfüllten Behausungen, von diesen luftlosen Löchern, aus denen es die Menschen und namentlich die Kinder hinaustreibt auf Gang, Stiege und Hof, von den Verrichtungen in diesen Wohnungen, in denen nicht selten ein Raum für alles dient: zum Kochen, Waschen, Wohnen, Schlafen, Lernen und gewerblichen Arbeiten, und endlich von den Bewohnern selbst. Was müssen das für gedrückte Menschen sein, denen man dafür, daß man sie als Besitzer solcher Wohnstätten ausbeutet, solche Bedingungen diktiren kann, die die Menschen in die enge Behausung zwingen, und nur in diese, solche brutale Bedingungen und in so brutaler Form! Auch mich bereitete diese Hausordnung auf das Kommende vor.
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Der Bettgeher bezahlt alles. Wir steigen in das dritte Stockwerk hinauf und treten in die erstbeste Wohnung. Eine Frau mit einem Säugling an der Brust empfängt uns und läßt sich von ihrem Kind unsere Wünsche ins Slovakische übersetzen. Durch die finstere Küche gelangten wir in das einzige Zimmer, an dessen Wänden grellbunte Papierbänder in Büscheln hängen. Neben einem Marienbild und einem Spiegel bilden sie den einzigen Schmuck der Wände. In dem länglichen Zimmer, das zwei in einen Hof mündende Fenster hat, finde ich vor: Rechts von der Thür an der Längswand ein hölzernes Feldbett, mit Holzkreuzen anstatt der Füße, als Schlafstelle für zwei Kinder, daneben einen Koffer, dann einen Tisch, und an diesen angeschoben ein gewöhnliches Bett; es dient der Frau, ihrem Säugling und ihrem Manne, einem gegenwärtig arbeitslosen Maurer, zusammen also drei Personen, als Liegestätte. Das Bett füllt die Ecke aus. Die anstoßende, der Thür gegenüberliegende zweite Wand würde unter gewöhnlichen Umständen zur Anbringung von Möbelstücken entfallen, denn sie ist von zwei Fenstern durchbrochen und die zwischen beiden bleibende Wandrippe ist kaum mehr als einen Meter breit. Dennoch ist an das Bett der Quere nach ein Divan angeschoben, der den Zutritt zu dem einen Fenster ganz, zu dem anderen halb versperrt. Neben dem Divan, der einem Bettgeher als Schlafstelle dient, steht der kleine Koffer dieses Aftermiethers. Er stoßt an einen Kasten, der die nächste Ecke ausfüllt. An den Kasten reihen sich an der zweiten Längswand zwei Betten, vor denen ein großer Koffer steht. In dem ersten Bett schlafen zwei Männer. «Brüder?» frage ich. – «Nein, es hat jeder ein halbes Bett allein aufgenommen.» – «Was zahlen sie dafür?» – «Jeder siebzig Kreuzer in der Woche.» – In dem zweiten Bett schläft ein Mädel, eine Bauarbeiterin. Sie zahlt zwei Kronen in der Woche. Den Raum zwischen diesem Bett und der Thür nimmt ein Koffer ein, der vierte, den ich zähle. Es schlafen in diesem Zimmer also außer der fünfköpfigen Familie des slovakischen Maurers noch drei Männer und ein erwachsenes Mädchen, zusammen sechs Erwachsene und drei Kinder. Der Raum hat eine Bodenfläche von 20 Quadratmetern und einen Luftraum von ungefähr 70 Kubikmetern. Für ihn und die Küche zahlt der Wohnungsinhaber monatlich 25 Kronen Miethe. Von den Bettgehern vereinnahmt er wöchentlich: für den Divan und von dem Mädchen je zwei Kronen und für das Doppelbett 2 Kronen 80 Heller, zusammen also 6 Kronen 80 Heller oder in vier Wochen 27 Kronen 20 Heller. Er hat somit nicht nur die ganze Miethe bezahlt, sondern er bekommt auch für die Abnützung der Wäsche noch einen kleinen Betrag. Freilich ist der Raum auch bis auf das letzte Fleckchen ausgenützt und jede der neun Personen, die in diesem Zimmer hausen, muß sich mit einem Luftraum von nicht ganz 8 Kubikmetern zufrieden geben.
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Ein Frauenasyl finde ich auf demselben Gange in einer Eckwohnung vor. Sie besteht aus Zimmer und Küche, die der Hausherr an eine Partei und aus einem in die Küche mündenden Kabinet, das der Hauseigenthümer an eine zweite Partei vermiethet hat. Zwei einander fremde Miethparteien in einer Wohnung! Treten wir zuerst in das Zimmer. Es ist von drei Parteien mit eigenen Möbeln bewohnt:
1. Von einer 75jährigen Kräutlerin, die ihrem Geschäft wegen Krankheit nicht mehr nachgehen kann. Sie besitzt an eigenen Möbeln das Bett, in dem sie schläft und einen großen Schubladenkasten mit allerlei bunten Gläsern und Geschirr darauf.
2. Von einer Strohwitwe und ihrem sechsjährigen Mädel. Sie liegen zusammen in dem Bett, das in der rechten Ecke steht. Hoch aufgehäuft liegt darauf das buntgestreifte, roth und blaue Bettzeug für drei. Außer diesem Bett gehört der Frau noch ein Schubladenkasten, der zwischen den beiden Fenstern steht. Ihr Mann ist vor fünf Wochen nach Amerika ausgewandert, um dort sein Glück zu versuchen. Er ist Taglöhner. Sie bringt sich als «Gemüsekrowotin» fort. «Bis heut’ hat er mir noch nicht geschrieben,» so klagt die Frau.
3. Von den Wohnungseigenthümern: einem Taglöhner, der seit anderthalb Jahren ohne ständige Arbeit ist, bald beim Pilotenschlagen, bald «am Wasser», bald bei Bauten einige Tage arbeitet, dann aber wieder wochenlang keinen Kreuzer verdient; seiner Frau und ihrem vierjährigen Buben. Ihnen stehen zwei Betten und ein Tisch zur Verfügung. Für Zimmer und Küche zahlt der Mann ebenfalls 25 Kronen monatlich. Die alte Frau zahlt ihm 1 Krone 20 Heller wöchentlich, die Strohwitwe 2 Kronen wöchentlich, er nimmt also in vier Wochen 12 Kronen 80 Heller, somit etwas mehr als die halbe Miethe ein.
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Das Schicksal einer Proletarierin. In dem Kabinet wohnt eine Taglöhnerin, die sich am Bau 1 Krone 32 Heller täglich verdient. Sie zahlt 10 Kronen Miethe und 40 Heller Reinigungsgeld. Ihr Lebensschicksal ist tieftraurig. Siebzehn Jahre lang lebte sie mit einem Proletarier im gemeinsamen Haushalt. Vor zwei Jahren starb er plötzlich. Er war Spediteurkutscher. «Bei seiner schwer’n Arbeit hat er si beim Herz a Adern abg’sprengt, und in vier Täg’ war er todt.» – «Sie waren nicht verheiratet?» – «Das is ja mei’ Unglück. Mir san nia dazuakumma. Wann i was g’sagt hab’ vom Heirat’n, hat er g’sagt: «Lass’ nur gehen, mir wer’n ’s schon mach’n», und dann war’s auf einmal aus. Traurig gnua, daß i jetzt so allan bin.» – «Haben Sie Kinder?» – «Viere: A siebzehnjährig’s Madl, die is im Dienst; an fufzehnjährigen Buab’n, der is bei seine Kosteltern in der Lehr’; an dreizehnjährigen – den hab’ i bei mir; und der letzte wird aufs Jahr zehn Jahr’ alt, dann kriag i ’n a am Hals. Der is no in der Kost vom Findelhaus aus. Bis zehn Jahr zahlt die Gemeinde, weil i a Niederösterreicherin bin.» – «Aber Sie kennen das Kind ja gar nicht. Es ist ja seit der Geburt fort. Haben Sie es in der Zeit einmal gesehen?» – «Na nur die Auskunft krieg i mit’n Kopfzettel im Findelhaus.» – «So, so.» – «Ja, da kann m’r nachfrag’n, ob das Kind noch lebt.» – «Sonst erfahren Sie nichts von dem Kind?» – «Nein, die Kostfrau hat noch nix g’schrieb’n.» – «Da wird er Ihnen ja ganz fremd sein, wann er kommt?» – «Freili, aber was kann m’r denn mach’n? Nehmen muß i ihn, und b’halten hab i ihn damals net können. Sei’ Kostfrau is sei’ Mutter, und i bin ihm fremd.»
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Der alte kommunale Arbeiter. Im zweiten Stockwerk treffe ich in einer Wohnung eine große Familie an. Der Großvater war 25 Jahre in kommunalen Diensten. Bis 1894 war er bei den Kehrichtsammelwagen beschäftigt. Da hob er sich beim Aufladen einer eisernen Kehrichtkiste einen Bruch und wurde nach seiner Wiederherstellung als Straßenkehrer weiter verwendet. Vor fünf Wochen etwa war er vier Tage krank, und diesen Anlaß benützten die kommunalen Arbeitgeber, den alten Mann auf’s Pflaster zu werfen. Sie nahmen ihm seinen Arbeitszettel ab, und seither sind alle seine Bemühungen, wieder unterzukommen, vergebens. Der Bezirksarzt wies ihn ab. Er ging nun zum «Stadtvisitus», und der sagte ihm nach der Untersuchung: «Wenn Sie fünfundzwanzig Jahre gearbeitet haben, so können Sie jetzt auch wieder arbeiten.» Dennoch hat er den Besen nicht wieder bekommen. Darüber klagt er, und seine Frau jammert dazwischen, daß er kein Krankengeld bekommen habe und auch sein Krankenbuch und seine Legitimation nicht mehr zurückbekommen könne. «Der Inspektor Kratochwill nimmt auf und entlaßt, wen er will. Ich war bitt’n dort: ‹Thun’s m’r’n nicht so hinausstoßen. Jetz is ’r alt› – aber er hat nix g’sagt als: ‹Hab’n S’ Geduld. Warten S’!› Wie lang soll m’r denn no wart’n, ’s Brot wird eh scho’ allerweil klaner.»
Auch die anderen Familienmitglieder stimmen in die Klage ein, und es sind ihrer wahrlich genug. Außer den beiden Alten wohnen in dem Zimmer zwei Söhne, die sich als Aushilfskräfte durchbringen, eine verheiratete Tochter mir ihren zwei Kindern im Alter von sieben Jahren und sechs Monaten und eine ledige zwölfjährige Tochter, die «Susitant». Diese acht Personen schlafen in vier Betten. Der Schwiegersohn, ein Taglöhner, der 16 Kronen in der Woche verdient, schläft in der Küche. «Die Weanerstadt is groß,» – so klagt er – «aber ’s Elend is a groß. I hab’ m’r’s verbessern woll’n und hab’ m’r’s verschlechtert.»
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Bei einem Flickschuster im ersten Stock finde ich merkwürdige Schicksale bei einander wohnen. Da ist zunächst der Schuster. Er übernimmt von den Trödlern die alten Schuhe und flickt sie um 50 bis 60 Heller zusammen, macht frische Absätze darauf, drei, vier Fleck oft, und hat dann, wenn er am Ende der Woche Rechnung macht, nicht einmal 6 Kronen verdient. Manchmal macht er auch neue Schuhe und geht damit hausieren. Auch damit ist es nichts. Da hat er oft an einem Paar, das er in der Noth verkaufen muß, kaum eine Krone Arbeitslohn. Um 3 Kronen 60 Heller muß er oft das Paar neuer Schuhe hergeben, das ihn selbst an Material 3 Kronen kostet. Seine Augen verlassen ihn auch schon. Er kann Abends bei künstlichem Licht nichts mehr arbeiten. So siechen er und sein eingetrocknetes Weiberl immer mehr dahin.
Ein Ehemann, den sein Weib, offenbar dem Zwang der Noth gehorchend, verlassen hat, sitzt auch beim Tisch, halb in eine Fensterecke gedrückt. Sie hatten ein Geschäft, das daniederging. So lange hielt das Band. Dann schien ihn seine Thatkraft verlassen zu haben. Die Frau ging in einen Dienst und er haust nun hier allein und verlassen. Sechzehn Jahre lang war er verheiratet. Ob er seine Frau öfter sieht? Ich frage ihn danach. Er knurrt etwas vor sich hin. «Die Kinder wissen’s ja, wo sie ist. Ich bin nicht so a Mensch... Ich pfeif’ darauf... Was geht sie mich an, ich mag nicht wissen, wo sie ist. Sie möcht’ höchstens sagen, ich wart’ schon auf sie... Ich sch...» Der Stolz ist ihm geblieben. Dieser allein hat ihn vielleicht veranlaßt, in diesen abgerissenen, kurzen Sätzen seine Lebensgeschichte preiszugeben. Jetzt sinkt er wieder in seine Ecke zurück und bleibt theilnahmslos wie bisher.
Eine Frau, halb Strohwitwe, halb arbeitsloses Dienstmädchen, ist die vierte im Zimmer. Sie sitzt auf ihrer «Wohnung», der braunpolitirten Bettstatt. Zuletzt war sie Bedienerin. Zwölf Kronen Lohn und die Kost – aber wenig. «An alten Menschen bleibt mehr am Tisch, als was ich hab’ kriegt. Hab’ ich mir alle Täg’ was kaufen müssen.» Was bleibt ihr da? Acht Kronen zahlt sie fürs Bett. Einen Nothpfennig braucht sie für die Zeiten der Arbeitslosigkeit – erst gestern hat sie wieder für eine Annonce 96 Heller ausgegeben. Wird sie einen Posten bekommen oder nicht, das ist die eine Sorge, die sie quält, und die andere gilt «ihm». Er schläft sonst in dem vierten Bett, das in dem Zimmer steht. Jetzt ist er aber auf auswärtiger Arbeit. Er ist Telegraphenarbeiter und ist irgendwo draußen auf der Strecke. Dann kommt er wieder – über den Sonntag vielleicht, und am Montag ist er schon wieder fort. Ihre zwei Kinder hat sie bei der Großmutter. Einen eigenen Hausstand gründen? Ihre Augen leuchten, wenn sie daran denkt. Das möchte sie. Aber wovon? Er verdient auf der Strecke vier, in Wien nur drei Kronen im Tag – da ist nicht daran zu denken.
Die Küche ist an eine Witwe vermiethet – das heißt nur das schmierige Bett, das dort in der finsteren Ecke steht. Sie ist in Döbling auf einem Bau Taglöhnerin. Erst seit einigen Tagen wohnt sie hier. Ihr Bub – der zweite ist schon in der Lehre – geht noch in Döbling in die Schule, dort, wo die Mutter arbeitet. Sie hat niemanden, dem sie das Kind tagsüber anvertrauen könnte, und so läuft der Bub mit ihr am frühen Morgen nach Döbling hinüber, spielt in den schulfreien Stunden in der Nähe des Baues, theilt ihr Mahl – beim Greisler oder Auskocher – und kommt Abends mit der Mutter heim. Gleich müde wie diese, und wo soll er lernen... am Bett, in der finsteren Küche, nun soll er die Aufgaben schreiben, auf der Herdplatte vielleicht?
Der Flickschuster zahlt 27 Kronen Monatszins. Je 8 Kronen zahlen ihm der brummige Alte und die Bedienerin und 10 Kronen zahlt die Taglöhnerin für sich und ihren Buben. Der Schuster und seine Frau haben also ihr Bett, in dem sie gemeinsam unterkriechen, um eine Krone monatlich. Das ist ihr Glück, denn sonst hätten sie noch weniger Erdäpfel im Topfe.
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Vier Schwestern hausen einige Häuser weiter als Trockenwohner in einer modernen Zinsburg. Flügelthüren – daran kreisrunde, messingbeschlagene «Guckerln» –, Spiegelscheiben in den Fensterrahmen, die nach innen zu öffnen sind, gußeiserne Geländer im Stiegenhaus, bunte Kacheln als Verkleidung der Gänge – alles schön, alles neu, wer sollte denken, daß er beim Betreten der ersten Wohnung krassestem sittlichen und sozialen Elend gegenübersteht? Wir sind im ersten Stock. Eine Wohnung, bestehend aus Zimmer, Küche und Kabinet, ist an zwei Parteien vermiethet: das Zimmer an vier Schwestern sammt Anhang, das Kabinet um 12 Kronen 40 Heller an einen Bauarbeiter und seine Lebensgefährtin, die in die Fabrik geht.
Die zwei älteren der vier Schwestern leben im Konkubinat mit zwei Arbeitern. Der eine ist ein schwergeplagter Schwerkutscher, der um 5 Uhr Früh, oft auch früher, das Haus verläßt und um 11 Uhr Nachts nach Hause kommt, der andere ein Tagwerker, der bald «am Wasser», bald dort und da einige Kreuzer verdient. Jede dieser beiden Schwestern hat ein Kind, die eine ein krankes Buberl, das seit zehn Monaten einen Gipsverband trägt, um nicht zu verkrüppeln. Es büßt den «Leichtsinn» der Eltern, daß sie in eine feuchte Wohnung als Trockenwohner gezogen sind, schwer mit einer Hüftgelenksentzündung und ihren Folgeerscheinungen. Die beiden jüngeren Schwestern gehen in die Fabrik. Sie sind 16 und 17 Jahre alt. Alle diese Personen: sechs Erwachsene und zwei Kinder, oder deutlicher gesagt: zwei Frauen, zwei Mädchen, zwei Männer und zwei Kinder schlafen in dem einen Zimmer, das im ganzen zwei Betten aufweist. Eines dieser beiden Betten, das der Tagwerkerfamilie mit dem kranken Kind, ist vor einiger Zeit durchgebrochen und seither unbenützbar. Es mangelt an dem Nöthigsten. Da zu wenig Strohsäcke vorhanden sind, schlafen die beiden jüngeren Schwestern auf dem bloßen Boden, auf dem sie als Unterlage nur einen alten Rock breiten. An Miethe zahlen diese sechs Personen 23 Kronen.
Wie sie leben, wovon sie leben? Der Schwerkutscher verdient und verbraucht für sich täglich 4 Kronen. Er verköstigt sich davon ganz und muß, da er mit Wirthen zu thun hat, da und dort ein Krügel Bier trinken. Dazu ist er täglich 16 bis 18 Stunden unterwegs. Sein Nebenverdienst – 1 bis 2 Kronen – gehört der Familie und für die Miethe. Der Tagwerker hat nur zufälligen Verdienst. Er steuert hie und da etwas zum Haushalt bei. Seine Frau verdient in der Fabrik 8 bis 12 Kronen. Ebensoviel verdient die eine Schwester und die jüngste verdient 4 bis 8 Kronen wöchentlich. Die älteste ist Pflegerin der Kinder und besorgt das Hauswesen. Sie hoffen, langsam in die Höhe zu kommen. Jetzt haben sie es ja schon leichter. Bis zum Vorjahr wohnten die vier Schwestern sammt ihrer kranken Mutter, die drei Jahre darniederlag, und sammt dem Mann und Kind der ältesten und dem Kind der zweitjüngsten, also acht Personen, in einem Kabinet. Die Mutter starb, und seither arbeiten sich die Schwestern etwas hinauf. Sie sind bereits zum Zimmer avancirt, und erleidet ihr Verdienst keine Unterbrechung, so werden sie sich auch nach und nach zu soviel Strohsäcken aufschwingen, als Personen im Zimmer schlafen.
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Der Bauarbeiter im Kabinet ist täglicher Leser und Käufer der «Wiener Volkswacht». An dem Tage, an dem ich ihn besuchte, hatte er den ganzen Tag über mit 24 Hellern gelebt. Als Mittagessen kaufte er sich um 6 Heller Aepfel und ebensoviel Brot, zum Frühstück und zur Jause um je 4 Heller Brot, und 4 Heller gingen für Zigaretten auf. Die Zeitung holte er sich Abends beim Verschleißer und blieb sie schuldig. In seinem Kabinet hat er einen kleinen eisernen Kochofen, ein Küchenkastl, einen Schubladkasten und ein Bett an der Wand stehen, an der anderen einen Kleiderschrank, zwei Sesseln und ein Tischchen. Dazwischen bleibt ein schmaler Gang. Ueber dem Tisch ist an der Wand sozialdemokratische Dekoration angebracht. Die beiden Tableaux mit den sozialdemokratischen Abgeordneten von 1897 und 1901, einige Bilder aus Maischriften, eine Märzerinnerungskarte, einige Ansichtskarten mit Porträts von Parteigenossen, das alles ist in symmetrischer Anordnung an die Wand als Schmuck genagelt. Es ist das Heiligthum des Braven. Seine Frau ist eben daran ihm seine Lieblingsspeise zu kochen: Semmelschmarrn. Auch sie fristete tagsüber mit einigen Kreuzern ihr Leben und hob sich den ganzen Hunger für Abends auf. Wenn sie Abends aus der Fabrik kommt, da kann sie doch noch kochen, und das kommt billiger als die Gasthauskost. Daß zwei arbeitsame, fleißige Menschen so leben müssen, ist das schlimmste Zeugniß, das unserer heutigen Wirthschaftsordnung ausgestellt werden kann.
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Die «Bockhäuser». Das erste der in diesem Artikel geschilderten Häuser ist das Eigenthum eines Juden, eines Herrn Glücksmann. Daß sich Patentchristen, Glieder der Lueger-Garde, ebenso auf die Auswucherung der Proletarier verstehen, davon konnte ich mich überzeugen, als ich eine Viertelstunde später in einigen Wohnungen der sogenannten «Bockhäuser» Revisionen vornahm. Die Bockhäuser sind Eigenthum eines waschechten Christlich-Sozialen, des Straßenbau- und Pflasterermeisters Josef Kaufmann, der selbst IX. Augasse Nr. 13 wohnt. Der gute Mann kennt seine «Chaluppen» und meidet sie darum. Sie sind in der Jägerstraße gelegen, und zwar keine drei Minuten von dem Herz der Brigittenau, vom Brigittaplatz entfernt. Dort, wo zur Linken die regelrechte Häuserreihe aufhört; und neben dem Geleise der Dampftramway ein ungepflasterter Fußsteig längs den Planken hinführt, dort gelangt man zu den «Bockhäusern». Vorerst sind schon einige solcher Chaluppen hinter den Planken zu sehen. Vor den Häusern weite Höfe, in den Höfen Misthaufen, auf den Haufen Ferkeln, Ziegen und Gänse – kurz, Idyllen, wie man sie sonst in Wien nur noch vielleicht in der Erdbergermais oder auf der Simmeringerheide bei den Gärtnern finden kann. Dann kommt man hundert Schritte weiter zu einem der ebenerdigen Häuschen, von denen der stark übertreibende Volkswitz erzählt, daß eine Katze mit dem Schweif bis zur Erde reicht, wenn sie auf dem Dache sitzt. Die fensterlose Seitenfront von Zimmerbreite ist der Straße zugewendet. Sie trägt die Nummertafel 65. Nach links abbiegend muß man über ein kleines, holperiges Bergerl zu der Hauptfront der «Bockhäuser» hinabsteigen. Das langgestreckte Haus ist so gebaut, daß die Oeffnungen aller Wohnungen direkt in den Hof münden. Dieser ist etwa vier Meter breit und zieht sich längs des Hauses hin. Gegen die Straße zu ist er offen, von dem Nachbargrund durch eine Planke abgegrenzt.
Es ist stockfinster, da ich mich in den Hof taste, um die Wohnungen in diesem Hause aufzusuchen. In der Hoffnung, überall alle Miether zu Hause zu finden, auch die Bettgeher, hatte ich absichtlich eine späte Abendstunde für meine Revision gewählt. An das erste Fenster in dem ich Licht sah, klopfte ich und bald öffnete sich eine rohgezimmerte Thür, die ich im Dunkel gar nicht von dem Brettergefüge der Hauptwand unterscheiden konnte, und ich trat in die erste Wohnung. Die guten Leute thaten sehr respektvoll, ließen mich ruhig die Messungen vornehmen und beantworteten bereitwillig meine Fragen, ohne selbst zu fragen, wer der Eindringling sei. So wurde es mir möglich, ohne die Leute gegenüber ihrem «Hausherrn» zu kompromittiren, Einblick in die Verhältnisse zu gewinnen.
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Fürsorge für kranke Proletarierkinder. Eine typische Wohnung der Bockhäuser ist gleich die erste, in die ich trete. Vom Hof aus gelange ich in die enge, kaum zwei Meter breite Küche. Ich zähle nicht zu den großen Menschen, muß mich aber doch gehörig bücken, um die Thür passiren zu können. Die Küche ist 3,8 Meter lang und 1,9 Meter hoch. Sie ist von der Afterpartei: einem Taglöhner, seiner Frau und dem fünfjährigen Kinde der beiden bewohnt. Sie schlafen zu dritt in dem einen Bett. Jetzt liegt nur das fünfjährige Kind, ein Blondschäderl, darauf, zusammengekrümmt, die Beine auf die Brust gezogen, mit Lappen zugedeckt – so schläft es. Seine Mutter erzählt eine traurige Geschichte. Das Kind ist schwer krank. Die Beine sind im Wachsthum zurückgeblieben, kraftlos und so schwach, daß sie den Körper nicht tragen können. Das wenige Fleisch hängt schlaff an den Knochen. «Gibt es denn keine Hilfe für die Kleine? Haben Sie noch keinen Arzt befragt?» – «O ja, ich bin eh’ ins Karolinenspital mit ihr ’gangen und die Doktors haben’s elektrisirt. Aber ich kann nicht mehr hingehen.» – «Warum denn nicht?» – «Ich hab nix für sie zum Anziehen. Das Hemderl, was an hat, und das Kleiderl da ist alles.» Dabei weist sie auf ein rosa Waschkleidchen, das über dem Herd zum Trocknen hängt. «Damit ist’s ihr zu kalt und etwas anderes hab ich nicht für meine Tonitschka. Ich kann, seit ’s so kalt ist, nicht mehr zur Visit gehen.» – «Nehmen sie es denn im Spital nicht an? Haben Sie das schon versucht?» – «Der Herr Doktor hat nur g’sagt, ich soll’s zweimal in der Woche bringen. Sie haben keinen Platz.» Die alte Geschichte, die immer neue Varianten gräßlichsten Kinderelends gebiert. Kein Platz in den Kinderspitälern, keine Hilfe für dahinsiechende Proletarierkinder, keine Hilfe darum, weil die Eltern zu arm sind, um ihr Kind vor der Kälte schützen zu können, und weil sie zu unerfahren sind, um sich das Fehlende zusammenzubetteln – die einzige Form der Hilfe in solchen Fällen. Vereinzelt ist dieses Schicksal nicht. So wie diesem kranken Taglöhnerskind, geht es hunderten. Es ist nur ein Beispiel. Hier haben die ausgebeuteten Eltern kein Geld auf Kleider, mit deren Hilfe die regelmäßige ambulatorische Behandlung möglich wäre, dort haben die Eltern keine Zeit und im dritten Falle nicht das Verständniß, nicht die Energie, um die allerdings tollen Hindernisse wegzuräumen, die die heutige Gesellschaft der Armuth aufthürmt, wenn sie die öffentliche Hilfe dieser Gesellschaft in Anspruch nimmt.
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Fürsorge für schulpflichtige Proletarierkinder. Der Taglöhner zahlt für das Bett und die Küche als Wohnraum 8 Kronen monatlich Miethe an den Wohnungseigenthümer, der selbst im ganzen 15 Kronen und 20 Heller Miethe zahlt. Auch er ist ein Taglöhner. Er bewohnt mit seiner Frau und zwei Kindern das Zimmer. Es ist von denselben Dimensionen wie die Küche, nur die Frontbreite ist doppelt so groß; sie beträgt 4 Meter. Bei einer Bodenfläche von 15,2 Quadratmetern hat es 28,88 Kubikmeter Rauminhalt und dient zwei Erwachsenen und zwei Kindern, darunter einem Säugling, als Wohnstätte, Koch- und Waschraum. Ueber zwei Koffern steht gerade ein gefüllter Waschtrog. Ein zweiter Waschtrog dient dem Kinde als Wiege. Seine erfinderischen Eltern haben an den Boden des Trogs Wiegenkufen angenagelt.
Das zweite Kind, ein Bub, ist schon schulpflichtig. Er soll in die vierte Klasse gehen, geht aber nicht. Die Frage nach dem Warum beantwortet die Mutter mit einer Erzählung über das Wiener Schulelend. «Ich war einschreiben mit ihm, aber die Klasse hat noch keinen Lehrer und er muß warten, bis mich der Herr Oberlehrer verständigt. Er hat gesagt, er wird schon herschicken.» Diese Erklärung konnte ich nicht recht glauben und ich erkundigte mich nach dem Grunde. Er ist ein sehr einfacher. Dank der Luegerschen Schulwirthschaft ist das zum Sprengel gehörige Schulgebäude, die neue Schule in der Rafaelgasse, nicht zur Zeit fertig geworden und der Junge muß nun warten, bis die Schule eröffnet wird. Gestern am 11. November endlich wurde die Schule feierlich eröffnet. Feierlich zunächst! Den Kindern soll sie erst erschlossen werden, so daß die Proletarierkinder erst zwei Monate nach dem gesetzlichen Schulbeginn zum Unterricht kommen werden. Die «kernigen Brigittenauer» suchten gestern diese Schande mit ihren Flaggen zu verhüllen, die sie zu Ehren Luegers aufsteckten, und die Lehrer thaten das Ihre, indem sie die Kinder drei Tage lang im «Hoch Lueger!»-Rufen drillten, wie mir eine Kleine gestern erzählte! Aber die Proletarier ersehen darum doch die Schande, und sie sind von dem Schreien ihrer Kinder nicht taub geworden, sie hören das Wort der Aufklärung. Sie sehen und hören, weil sie es empfinden, wie leichtfertig die gegenwärtigen Kommunalverwalter die geistige Ausbildung der Kinder behandeln. Und sie empfinden auch, welchen körperlichen Gefahren ihre Kinder ausgesetzt sind, wenn sie in eben fertig gewordenen, nicht ausgetrockneten Schulen den Winter über sitzen müssen. Krasses Wohnungselend mit allen seinen Gefahren haben die Kinder wahrlich daheim genug, sie müssen nicht auch in der Schule als Trockenbewohner behandelt werden.
Daß diese Erkenntniß in den Gehirnen reift trotz allen Flaggen und trotz allem eingedrillten «Hoch Lueger!»-Rufen, dafür sorgt die Sozialdemokratie!
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Ein unbenütztes Bett. In dem Zimmer stehen außer der Waschtrogwiege zwei Betten und ein Divan. Auf diesem schläft der Junge. In einem der beiden Betten die Eltern. In dem anderen? Sie sagen niemand, und da ich weiter forsche, warum sie dann zusammen in einem Bett schlafen, geben sie an, daß sie dadurch Wäsche ersparen wollen. «Haben Sie Bettgeher?» – «Nein!» – «Wer ist denn dann der Herr?» (Es sitzt noch ein dritter Mann in Hemdärmeln da. Ich weise auf ihn.) – «Ah, der schlaft net, er is nur zu Besuch da.» – Ein unbenütztes Bett in den Brigittenauer Elendswohnungen ist eine so außergewöhnliche Sache, daß ich mit Recht mißtrauisch wurde.
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Was es sonst in den Bockhäusern zu sehen gibt. Wie hier, so sind auch in den anderen Wohnungen die beiden Räume und in fast allen herrscht Ueberfüllung. Meist sind es slowakische und tschechische Arbeiter, die hier mit ihren zahlreichen Familien – der Nachbar hat gleich fünf Kinder – hausen. In einer Wohnung, der nettesten von allen, ist eine Witwe zu Hause, eine «Wollwicklerin», die die großen Wollbündel zu Strähnen abhaspelt und damit den Unterhalt für sich und ihr ebenfalls krankes Kind, das an einer linksseitigen Lähmung laborirt – gewinnt. Die Aerzte wissen ihr keinen Rath, und so muß die kleine Katherl, die gar nicht «g’schreckt» thut und treuherzig plaudert, als Krüppel aufwachsen. Ob dem Kinde wohl auch dasselbe Schicksal beschieden wäre, wenn es in der Wahl seiner Eltern vorsichtiger gewesen wäre, wenn nicht eine Proletarierin, sondern eine vermögende Frau seine Mutter wäre?!
In jeder Wohnung höre ich ein anderes Klagelied.
Wie es sonst in dem Hause aussieht, sehe ich erst bei Tag. In eine Wohnung regnet es hinein, alle 16 oder 18 Parteien – so viele mögen es ungefähr sein – müssen zwei offene Aborte benützen, die in dem zweiten großen Hofe stehen, der als Materialplatz für den Pflasterermeister diente. Nicht weit von den Aborten ist eine gut 3 Meter tiefe, offene, nicht überdeckte Senkgrube, die nicht nur die Luft ringsum verpestet und schlimme sanitäre Gefahren mit sich bringt. Wie leicht kann da auch eines der Kinder hineinstürzen, denen der Hof als Spielplatz dient, wie leicht ein Arbeiter, der auf dem Materialplatz zu thun hat, wie leicht ein Obdachloser, der Abends hier vielleicht vor den Verfolgungen der Polizisten Zuflucht sucht. Das magistratische Bezirksamt genirt diese so gefährliche Grube natürlich nicht. Es hat andere Sorgen, als christlich-soziale Gesetzesübertreter zur Erfüllung ihrer Pflichten zu verhalten!
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«Kauft nur bei Gesinnungsgenossen!» Nachdem wir nun genug gesehen hatten, gingen mein Begleiter und ich dem Brigittaplatz zu, um noch die dort befindlichen «Patzrik-Hütten» in Augenschein zu nehmen. An der Ecke der Pappenheimgasse kommt uns ein Geschäftsdiener mit der Frage entgegen, wo die Pappenheimgasse sei. «Sie san eh da,» antwortet mein Begleiter. «Auf was für a Numero woll’n S’ denn gehen?» – «I glaub’ 59, da steht’s auf der Adress’,» damit weist er auf den großen Pack, den er auf der Schulter trägt. «Dös kann eh’ nur beim Gemeinderath Hütter sein,» prophezeit mein Begleiter. Der Geschäftsdiener ist in Livrée und hat eine Kappe mit der Firma. Wir gehen zur nächsten Laterne, er hebt den Pack herunter und nun lesen wir
Gebrüder Pollitzer
I., Bauernmarkt ...
Hochwohlgeboren
Herrn Hütter
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XX.
Pappenheimgasse.
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Mein Begleiter hatte recht gehabt. Das Paket gehörte dem christlich-sozialen Helden Hütter. Daß die Gebrüder Pollitzer seine Gesinnungsgenossen sind, habe ich bisher nicht gewußt.
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Kinderschutz- und Rettungsgesellschaft, heraus! In den «Patzrik-Hütten» sollte ich das schlimmste Bild menschlicher Verelendung schauen, das mir in bewohnten Häusern noch je untergekommen ist. An dem Abend freilich durfte ich es wegen des großen Hundes nicht mehr wagen, den mit Unkraut verwachsenen Hof des Hauses Nr. 50 zu betreten, aber ich erfuhr von Stammgästen des «Hotel Schiller», der originellen Branntweinkneipe von gegenüber so viel über die Bewohner dieses Hauses, daß ich am nächsten Tag mit Ruhe daran gehen konnte, in diese Elendsstätte zu dringen. Abends kehrte ich nur bei der Wurstauskocherin Patzrik ein, kaufte zwei faustgroße «Fleischlaberln» – jedes zu 10 Hellern – und sah mich dabei ein wenig um in dieser Räuberhöhle, die dreckig und speckig wie sie ist, besonders Abends mit ihrer Oellampe, ihren rothen Vorhängen, ihren berußten schwarzen Wänden, deren eine mit schwarzem Zuckerpapier tapeziert ist, ihrer schmierigen dicken Eigenthümerin und ihren lumpenproletarischen Gästen einen geradezu unheimlichen Eindruck macht.
Der Besuch dieses Lokals bot mir einen kleinen Vorgeschmack von dem, was ich am nächsten Tag sehen sollte. Ich wählte zu meinem zweiten Besuch die Stunde, da Frau Patzrik gewöhnlich ihr Mittagsschläfchen hält, und blieb auch glücklich ungeschoren. Was ich sah? Kurz: Einen Stall, der für Thiere zu schlecht geworden ist, fand ich als Behausung für zehn Menschen, darunter drei Kinder, die in wilder Unzucht unter völlig herabgekommenen Lumpenproletariern leben.
Die Umfriedung des Hofes, der an die Hütten grenzt, dient außen als Plakatwand. Sie bildet die Ecke des Brigittaplatzes und der Jägerstraße. Geht man zehn Schritte in der Jägerstraße vor, so kommt man zu einer Thür, die die Planke unterbricht. Durch diese trete ich auf einen großen von Unkraut überwucherten Platz. Zur Linken ist eine Ruine mit einem hölzerne Abortanbau. Die Ruine ist unbewohnt, in ihr ist nur das Lager des großen schwarzen Hundes, der jetzt, am Halsband gehalten, ungefährlich ist. Vielleicht ist er es auch sonst. Quer zur Ruine steht ein an das eigentliche Haus angebauter etwa zwei Meter hoher Ziegelbau, dessen drei kleine Fenster keine Scheiben mehr aufweisen. Die Rahmen sind, so gut es ging, mit Blech vernagelt. In manchen stecken noch die Reste der Scheibe. Das schief ansteigende Dach des Anbaues ist mit Brettern gedeckt, soweit diese noch nicht verheizt wurden. Die entstandenen Lücken sind mit Fetzen, Dachpappestücken und anderem Zeug, einem alten Selcherzöger und Strohdecken zur Noth ausgefüllt, und darauf liegen Steine, zerbrochenes Geschirr und durchlöcherte Reindln zum Beschweren. In dieser Hütte, unter diesem gastlichen Dach, das sogar den Regen aufnimmt, ist die Wohnung von zehn Menschen.
Ich trete ein. Ein von Branntwein stinkendes, über und über in Lumpen gehülltes Weib tritt mir entgegen. «Frau Rosa?» – «Ja, was verschafft mir die Ehr’?» – «Von was sind’s denn so g’schwoll’n, Frau Rosa?» Das Weib hat die rechte Backe bis zum Auge, das blau unterlaufen ist, angeschwoll’n. – «Von was? Von was? Gestern hab’ i a paar Fotzen kriagt. G’schlag’n hat ’r mi, daß m’r ’s Bluat aus die Augen g’spritzt is. G’schlag’n hat ’r mi, der Hund...» – Sie wird immer erregter. «Warum denn?» – «Er schlagt mi do allerweil,» und nun bricht sie in Weinen aus.. «Das is ja mei Unglück, er schlagt mi, weil i auf der Welt bin.» – «Sie sind doch eine Witwe?» – «Ja aber mit den leb’ i.» – «Wo schlafen S’ denn?» Sie weist auf das Feldbett, das rechts neben der Thür steht. Es ist ekelerregend, schmutzstarrend. Das bischen Bettzeug haben die Kinder draußen im Hof ausgebreitet und kugeln sich darauf herum. «Wer schlaft da?» – «I und meine Kinder.» – «Und er?» – «Er schlaft a da.» – «Also fünf Personen in einem Bett?» – «Ja.» – «Wie alt sind Ihre Kinder?» «Die Theres’ is 13, die Barbara 10 und die Klane is viere, ins fünfte geht’s.» Die Frau selbst wird an die 50 sein, ihr «Mann» ist 15, 16 Jahre jünger. Die Kinder sind total verwahrlost. Besonders die Barbara, von der mir von mehreren Nachbarn bestätigt wird, daß sie schon in einer Unzuchtsverhandlung eine Hauptrolle spielte. Von ihrer Mutter pflegt dieses – zehnjährige! – Kind zu sagen, so oft der Mann – ein Taglöhner – sie schlägt: «Was braucht denn die Kanailli an jüngeren G’schwuf’n. G’schiecht ihr scho’ recht, d’rschlag’n soll er’s. So dumm wär’ net amal i.» Die Jüngste sieht kaum wie eine Dreijährige aus, nur die Aelteste soll sich aus diesen Verhältnissen heraussehnen. Sie erklärt immer und immer wieder, wenn die Mutter sie auf die Bettelgänge fortschickt, daß sie dieses Leben satt habe und viel lieber einen Dienstplatz annehmen würde, als betteln zu gehen, damit sich die Mutter «beim Branntweiner an’ Rausch kaufen kann.»
So sieht diese Familie aus. Sie bezahlt für dieses Bett per Woche zwei Kronen. An dieses Bett stößt ein zweites. Es ist von einem «Rastelbinder» und einem anderen Lumpenproletarier bewohnt. Jeder zahlt per Woche 80 Heller. Die nächste Schlafstelle an dieser Wand ist ein Divan mit tiefer Liegegrube. Anstatt auf Füßen, ruht er vorne auf vier übereinandergeschichteten Ziegeln auf. Ihn benützt ein ehemaliger Schneidergehilfe, der nun nur hie und da beim Wasser einen Tag Arbeit findet und seine Geliebte, eine ganz und gar verkommene Person; auch sie zahlen je 80 Heller in der Woche. Gegenüber diesem Divan ist auf die aufgerissenen, verfaulenden Diehlen ein schmieriger Strohsack gelegt. Er dient einem Mann als Liegerstätte. Alles in allem schlafen in dem Raum also zwei Frauen, fünf Männer und drei Kinder, die erwachsenen Personen durchwegs Lumpenproletarier, die Kinder furchtbar verwahrlost.
Der Raum ist 6,16 Meter lang, 2,55 Meter breit und 2,12 Meter hoch, er hat also eine Bodenfläche von 15,72 Quadratmeter und 33,326 Kubikmeter Luftraum. Dies für 10 Personen! Die hier wohnenden Menschen müssen also auch körperlich verkommen. Der Raum ist eine sanitäre Gefahr, ebenso, wie das Weiterleben in dieser Umgebung den sittlichen Untergang der Kinder zur Folge haben muß. Und für diesen Raum nimmt die edle Hüttenbesitzerin Patzrik 270 Kronen Zins im Jahre ein.
An die Kinder-Schutz-und Rettungsgesellschaft ist eine Anzeige bereits abgegangen. Die Sanitätsbehörde aber und die Schulbehörden mögen aus dieser Schilderung ersehen, was sie unter Pflichterfüllung verstehen. Beiden können die Zustände in der «Patzrik-Hütte», die in der Brigittenau öffentliches Geheimniß sind, nicht unbekannt sein, bestehen sie doch schon seit mehr als zwei Jahren. In diesem Zeitraum wird doch auch schon ein behördliches Organ davon etwas erfahren haben. Rasches Eingreifen thut noth!
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