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Max Winter

Herbstbummel im Wienerwald

Feuilleton

I: Arbeiter-Zeitung Nr. 258 vom 20. 9. 1901

Klein-Mariazell, gegen Ende September.

Wir Schreibtischmenschen sollten uns in jedem Jahre wenigstens einmal körperlich tüchtig ausarbeiten, sei es mit der Holzsäge, sei es mit Spaten und Schaufel, oder sei es auch nur, daß wir ein Stück Welt zu Fuß ablaufen. Die letzte Methode körperlicher Arbeit scheint allerdings die gefährlichste, wenn sie auch die kurzweiligste ist, denn wer so allein dahinwandert durch Thäler, über Berge und in Einschichten und Dörfern, abseits von den großen Verkehrsstraßen, Rast hält, dem drängt sich so viel auf, daß er sich dann zum Schluß doch wieder zum Schreibtisch setzt. Das Leben der Bauern ist ja so merkwürdig armselig, und die Welt, die große Welt erfährt so wenig davon. Gesprochen wird eigentlich genug davon. In den Parlamenten unserer Zeit wird alle Augenblick ein kleines Stück der großen Bauernfrage aufgerollt – aber das kann nicht zählen. Man kann sich daraus kein Bild machen von dem ganzen Jammer, der den Bauer drückt. Lebendig kann auch hier nur die Anschauung wirken. Wer etwas über das Leben der Bauern erfahren will, muß hinauswandern, da und dort Einkehr halten und Zwiesprach pflegen auf der Straße, im Walde, am Felde, im Wirthshaus. Auch über die ziegelgepflasterten, ungefegten Fluren der Bauernhäuser muß man gehen, in den Stuben rasten, und mit der Bäuerin muß man reden.

Mein Weg in den Urlaub war mit den besten Vorsätzen gepflastert. Er führte mit der Dampftramway über das Linienamt Mauer. Ich wollte dem Wienerwaldbauern ins Häferl gucken. Gerade beim Linienamt überholte uns ein Gummiradler. Auf dem Kutschbock der messingbeschlagene Koffer, im Fond des Wagens ein uniformirter Junge, so etwas wie ein Theresianist, und diesem zur Linken ein glattrasirtes Abrahamowicz-Gesicht, Feudaler oder Bedienter (vielleicht auch beides) – ich müßte den Weg nach Kalksburg nicht kennen, um nicht sofort zu wissen, wohin die Fiakerreise des Jungen geht. Diese Gruppe und ein Herr von der Dicke der Herausgeber der «Neuen Freien Presse», der in der Nähe des Philosophenweges bei Kaltenleutgeben seinen Morgenritt (es war 11 Uhr Vormittags) machte, erleichterten mir den Abschied von der großen Welt. Als ich Nachmittags vom Langen Berg zur Einschicht Rohrberg, die mit ihren vier Häusern hart an der Straße von Sulz nach Sittendorf liegt, hinabstieg, begegnete ich schon dem ersten Bauern, und im nächsten Wirthshaus – in Dornbach bei Heiligenkreuz – war über dem Eingang zum Tanzsaal, dessen eine Ecke die erhöhte Musikantenbank ausfüllte, schon ein Transparent angebracht, von dem es in giftgrüner Schrift herableuchtete: «Es lebe der Bauernstand! Der Waldbauernwirth ehrt seine Kundschaft.»

Später wurde ich nur einmal noch an die Stadt und die Städter erinnert. Das war in Alland. Ich hörte dort eine seltsame Klage. Die Zahl der Sommerfrischler geht zurück. «Kummen a’, so san’s Kranke. Die G’sunden bleib’n aus, sie hab’n an’ Angst weg’n der Anstalt.» Das ist schwer zu verstehen. Vor den Lungentuberkulosen, die zu Tausenden in Wien herumlaufen, deren Sputum in allen Straßen vertrocknet, um dann mit den Bazillenherden, den lieblichen Wiener Staubwolken, in die Lungen der Mitmenschen zu gelangen, fürchtet sich niemand so auffallend, daß er einen anderen Wohnsitz wählen würde. Vor den hundert in der Heilanstalt Alland untergebrachten Patienten, die in jeder Beziehung unter strenger ärztlicher Kontrole stehen, die es schon gelernt haben, sich des Spuckfläschchens zu bedienen, die es gelernt haben, bei Hustenanfällen die Ansteckungsgefahr für die Mitmenschen zu beseitigen, indem sie sich ein Tuch vor den Mund halten und dadurch den Bazillenregen verhindern, vor diesen hundert Lungenkranken, deren Wäsche desinfizirt, deren Absonderungen verbrannt werden, fürchten sich die urtheilslosen Menschen und meiden Alland. Bei ruhigem, vorurtheilslosem Erwägen der Umstände müßten freilich gerade diese Ueberängstlichen Alland als Sommerfrische aufsuchen. Nirgends wären sie so sicher vor den Gefahren der Seuche wie dort, wo die Gefahr voll erkannt und auch gewürdigt wird, und dazu bietet ihnen der Umstand, daß die moderne Wissenschaft der Tuberkulose nur mit guter Luft, guter Nahrung und Reinlichkeit beikommen will, die sicherste Gewähr dafür, daß um Alland herum gesunde, gute, staubfreie Luft ist. Dennoch bleiben die Sommerparteien aus und gehen lieber in eine Sommerfrische, wo ein Theil dieser günstigen Voraussetzungen oder vielleicht gar alle nicht zutreffen. Die wissenschaftlichen Bekämpfer der Tuberkulose haben noch viel zu thun an – Aufklärungsarbeit.

In Alland mußte übrigens ein guter Mensch Einfluß haben. In der Allee am Schwechatbach ist eine Tafel angebracht, die wohl mehr Wirkung thun wird als die in den öffentlichen Anlagen der Städte angebrachten Warnungen, Baum und Strauch nicht zu beschädigen. Die Aufschrift auf der Tafel lautet: «Ein guter Mensch beschädigt keinen Baum.» Das ist zugleich eine starke sittliche Einwirkung, die das Schamgefühl viel eher wecken wird als der Hinweis auf den Paragraph Soundso, nach dem die «Zuwiderhandelnden» bestraft werden.

Mit einbrechender Nacht erreichte ich Klein-Mariazell, das mitten in die Waldberge gebettet, dem Touristen eine willkommen schöne Station ist. Anders dem Bauern. Der möchte wohl lieber etwas mehr «Landboden» haben und etwas weniger Wald und – Hirschen. Das ist das zweite Wort, wenn man mit einem Bauern spricht, daß er über den Wildschaden klagt. Es ist aber auch arg. Im vorigen Winter, als der Schnee so «toif» war, wurden die Hirschen gar keck. Der Hunger trieb sie Nachts bis in die Häuser, und war wo ein Stadl nicht gut verschlossen, dann drangen sie ein und fraßen weg, was zu fressen war. Heu, Stroh, Körndl, Kraut, Rüben, Kartoffel und was sonst in einem Stadl zu finden sein mag. Einem Bauern, der tagszuvor Kraut eingeschnitten hatte, trug Nachts der Hirsch einen Krautbottich weg, auf dessen Boden einige Krautblätter gelegen waren. Um auf den Grund des Holzgefäßes zu kommen, mußte er mit dem Geweih voraus in den Bottich, dabei verfing sich das Gezweige seines Geweihs darin, und er konnte nicht mehr los. Am Morgen entdeckte der Bauer den Abgang des Gefäßes und wollte schon bei der Gendarmerie eine Diebstahlsanzeige erstatten, als er Hirschspuren im Schnee entdeckte. Der Jäger folgte der Spur und fand das Krautfaß hoch oben am Berge in einem Graben liegen. Der Hirsch hatte es endlich an den Bäumen abgestreift. Aber nicht nur im Winter muß der Bauer seine Besuche fürchten, auch im Sommer kommt der Hirsch. Da ist er der fleißigste Knecht. Wenn alles schläft, dann geht er an die Arbeit. Namentlich die Kartoffeläcker bearbeitet er. Freilich etwas einseitig. Er säet nicht, er erntet nur. Nachts bricht er aus seinem Dickicht hervor und schreitet den Kartoffelfeldern zu, die er dann aufwühlt, um mit Gier die Knollenfrucht zu verschlingen, mit der der Bauer schon gerechnet.

«A urndlichs Jagdg’setz brauch’n m’r.» Das ist die erste Klage des Bauern. Wildschadenersatz gibt es ja – aber die Schätzung nimmt nicht der Bauer vor, sondern die «Kommission», die dem Jagdherrn zu Gefallen ist oder gar in seinen Diensten steht. Der Förster, einige Adjunkten, meist Beamte des Gutsherrn, dessen Hirsche den Schaden gestiftet, sind die «Kommission». Schließlich mag der Bauer froh sein, wenn er ein Viertel des vernichteten Werthes zurückbekommt. Ist’s umgekehrt – wird nicht der Bauer vom Gutsherrn, sondern dieser vom Bauern bestohlen, dann ist der Gendarm mit den Forstleuten auf den Beinen, um den Wildschützen oder Waldfrevler zu erwischen, dann heißt es nicht ein Viertel des Schadens, sondern den ganzen ersetzen, und wenn darob des Frevlers Haus unter den Hammer kommt. Obendrein wandert der Bauer noch hinter Schloß und Riegel. Ja, Bauer, das ist was anderes! Das Eigenthum ist heilig – wenn es den anderen, den «Großkopferten» gehört.

Jetzt ist die Zeit der Hirschenfeuer. Sie flackern nur in der Nähe größerer Gemeinden am Waldrande auf, um die Hirschen durch den Lichtschein abzuhalten, auf die Felder zu gehen. Wie rechte Diebe scheuen auch die Hirschen nichts so sehr wie das Licht, umsomehr, wenn in der Nähe dieses Brandes, in einen Pelz gehüllt, der Feldhüter lagert, der von Zeit zu Zeit in sein Horn stößt, beim Nahen der Thiere aber einen Schreckschuß aus seiner alten Pistole abgibt. Dann stieben sie auseinander, und in eiliger Flucht geht es wieder zurück in das Dunkel des Waldes, in dem sie sich verlieren. Aber nur größere Gemeinden mit ausgedehnten Feldern können den Hüter bezahlen. Die Einschichtbauern oder die von kleinen Dörfern mögen zusehen, wie sie selbst fertig werden, denn die Feldumzäunungen mit Stacheldraht sind nicht immer sicherer Schutz. So die Bauern – wieder anders der Gutsherr, der seine eigene höchst ehrenwerthe Person sehr wohl zu schützen versteht.

Hier in Klein-Mariazell steht ein altes Kloster mit einer Patronatskirche, zu der heute noch Slovaken und Kroaten wallfahrten, trotzdem Gott das alte Kloster heute nicht mehr zu schützen scheint. Es ist kein Kloster mehr. Ein Mann der Wissenschaft ist hier als Gutsherr eingezogen, ein deutscher Arzt, und der verläßt sich nicht auf Gottes Schutz und Oesterreichs Gendarmen. Er hat eine ganze Gutspolizei organisirt, daß

 

...den sichern Bürger schrecket
Nicht die Nacht,
Die den Bösen gräßlich wecket,
Denn das Auge des Gesetzes wacht.

Um das alte gedrungene Gemäuer herum huscht es zur Nachtzeit fast gespenstisch. In einen weiten Mantel gehüllt schreitet der Nachtwächter, von einem bissigen Köter begleitet, die Runde um das Schloß ab. Fast lautlos. Dann macht er Halt. Sperrt ein Thürchen an der Wand auf und drückt auf einen Taster: die elektrische Kontroluhr für den nächtlichen Hüter der sieben Millionen, die der Arzt reich sein soll. Am Morgen liest dann der Herr Doktor ab, ob er hat ruhig schlafen können. In der Gesindestube hat außerdem immer auch einer von den Ochsenknechten Wachbereitschaft. Gibt der Nachtwächter aus seinem Revolver einen Schuß ab, dann weckt der Wachsoldat in der Knechtstube seine Kameraden, und die gesammte «Polizei» eilt dem Nachtwächter zu Hilfe. Vor Dieben ist also der Herr Doktor sicher, umsomehr, da er dafür gesorgt hat, daß man über das Walten seiner Polizei weitum im Umkreis unterrichtet ist. Die Bauern erzählen sich Wunder von dieser Polizei und Schaudermären von der Bissigkeit des vierfüßigen Polizisten, der nur ums Futter dient. Der andere hat 60 Kronen Monatslohn, freie Wohnung, Licht und Beheizung und ein Milchdeputat von einem oder anderthalb Litern. Im Vergleich zu den landesüblichen Schundlöhnen ist das ein hoher Lohn zu nennen; der Herr Doktor kann also Gewissenhaftigkeit beanspruchen, und doch kostet ihn seine Polizei keine 1000 Kronen im Jahr.

Wollten aber die Bauern die gleiche Wache für ihre Felder bestellen, so wäre das eine unerschwingliche Abgabe für sie, eine Abgabe, die in keinem Verhältniß zu dem Werth der Frucht stünde, die vor den Gourmands Gnade findet, so in dem 5800 Joch umfassenden Grundbesitz des Feudalherrn der Moderne frei herumlaufen.

Aber nur keinen Schießprügel zur Hand nehmen, Bauer! Es könnte dir so ein Schuß schlechter bekommen, als du vermeinst. Das Eigenthum ist heilig!

II: Arbeiter-Zeitung Nr. 270 vom 2. 10. 1901

Heiligenbrunn, Ende September.

Der Ort Heiligenbrunn wird wohl den wenigsten Wienern bekannt sein. Die Wegweiser, die dahinführen, sind auch mit einem ganz anderen Namen beschrieben und ebenso die Touristenkarten. Im Amtskalender heißt der Ort – St. Corona. Wer aber die Gegend zu Fuß durchwandert und sich bei Bauern Bescheid über den Weg holt, den wird kein Bauer nach St. Corona, aber jeder nach Heiligenbrunn weisen. Die mündliche Ueberlieferung erweist sich stärker als das gedruckte Wort. In der Schule freilich lernen auch die Bauernjungen, daß es St. Corona heißt, aber der Name Heiligenbrunn hat seine überlieferte Geschichte, und steht er auch nicht auf den Wegweisern, die Bauern sind mit dem Namen alt geworden und behalten ihn bei. Schließlich ist ja auch das Lesen nicht die stärkste Seite der meisten Bauern, und wenn viele der Jüngeren auch nicht wissen, warum der Ort so heißt, die Alten wissen es gewiß. Als zur Zeit der Türkennoth die Bauern Kriegsfurcht ergriff, da verließ auch der Pfarrer von St. Corona sein Gottvertrauen, und in dem Gedanken – sicher ist sicher – versenkte er die Monstranzen und Kelche in den Brunnen, der am Platze stand. Wie es dem Pfarrer weiter erging, weiß man nicht, aber sicher ist, daß er sein Geheimniß mit ins Grab nahm. Ein Jahrhundert später führte ein Zufall – eine nothwendig gewordene Brunnenreparatur – zur Entdeckung des Schatzes, und seither hieß der Brunnen der heilige, und bald hieß auch der Ort nach dem Begebniß. Die Großväter von heute kannten noch die zur Zeit des Fundes Lebenden; es waren ihre Großväter, die ihnen gar oft diese einfache Geschichte erzählten, durch Zuthaten zur Legende herausgeputzt. Heute schmückt ein monumentaler Brunnen, der von einer Monstranz bekrönt ist, den Platz. Und gleich nebenbei führen die Stufen zu dem Wirthshause hinan, dessen Besitzer ein rechter Schlaumeier ist. Vorn heißt das Gasthaus «zum heiligen Brunnen» – das ist der Eingang für die Bauern – rückwärts aber, wo der markirte Weg auf den Schöpfel vorbeiführt, da lockt ein Schild die Touristen an. Hier heißt es nämlich einladend «Gasthaus zum Touristen». Auch ich hielt hier Rast, und ich bereute es nicht, denn ich lernte hier in Einem, der von der anderen Seite ins Wirthshaus gekommen war, einen sehr vernünftigen, klugen Menschen kennen, der durch den Militärdienst ein wenig in die Welt gekommen war, an dem Herumgucken Geschmack gefunden hatte und sich einige Jahre in der Welt herumgetrieben hatte, eh’ er seinen Vater in die Ausnahm’ schickte und den Hof selbst übernahm.

Das war ein selten kluger Bauer, wie man im Niederösterreichischen wohl wenige finden wird. Wir sprachen von den letzten Reichsrathswahlen. Während der Wahlcampagne war auch er einmal in der Versammlung gewesen, und zwar in einer sozialdemokratischen. Er kramte aus dem Schatze seiner Erinnerung eine Wahlversammlung aus, in der er einen Sozialdemokraten reden gehört hatte. Es waren Gegner aufgetreten und hatten versucht, den Kandidaten in die Enge zu treiben. Die schlagfertige Abfuhr, die unser Genosse den Herren gab, imponirte ihm besonders: «Wann oaner net wortschlägi is, siecht er an’ Narr’n gleich.» Im allgemeinen sagt er, wollen die Bauern von der Politik nichts mehr wissen. Sie sagen sich: «Den m’r zualost, der red’t schön.» Sie erwarten von keinem was; dennoch hält er Versammlungen für das einzig wirksame Agitationsmittel. «Mit’n Lesen geht’s ’n Bauern schlecht, und dann kann koaner schreib’n, wo den Bauern von den Ort g’rad’ der Schuah druckt. Kummt aber a Redner, so kann er si mit die Bauern z’samm’setz’n, wenn no’ d’ Versammlung anhebt, und da kann ’r a Mengi hör’n.»

Wenig schmeichelhaft denkt der Bauer von der Thätigkeit der Minister: «Die Minister sitzen nur durt mit die Zigarren im Maul, thoan ’n Rauch wegblas’n und eahnan G’halt einstroaf’n.» Zu Gesicht hat er einen Minister nur einmal im Leben bekommen. Das war bei einer Jagd. «Nix b’sunders war an ihm nit dran,» meint er treuherzig, «es is oa Grof wia da andere. Aber Böck’ schiaß’n hat ’r könna!»

In der Gegend von St. Corona sind große ärarische Waldungen, von denen mir nun der Bauer erzählt. Das Holzknechtleben hat ihn nun zum Denken gebracht. Die Waldarbeiter sind nach Raummeter gezahlt. Wie viel sie für den Meter bekommen weiß er nicht, aber daß nicht viel mehr als 60 Kreuzer im Tag herauskommt, weiß er aus den Aufzeichnungen eines Holzknechtes; der sich Kreuzer um Kreuzer in sein Buch schrieb und zu Weihnachten dann die Schlußrechnung machte. Es kam dabei eine Gesammteinnahme von 250 Gulden heraus. Was aber für ein Elend über den Holzknecht kommen kann, hat er im vorigen Winter gesehen. Da haben sie eines Tages den Huber-Michl mit zerschlagenen Beinen vom Wald herabgebracht. Der fallende Baum hatte ihn erwischt und ihm beide Schenkel förmlich zermalmt. Zu wenig zum Sterben – zu viel des Leids, um das Leben zu ertragen. Der staatliche Waldarbeiter ist bei keiner Krankenkasse und nicht gegen Unfall versichert. Nur den Arzt stellt ihm sein Arbeitgeber bei. «Is das a recht? Unser Schmied muß sein’ Arbeiter akrat im Unfall hab’n und in der Krankenkassa, und ’s Aerar, was die Gesetze gibt, halt’s selber net! I pfeif’ auf’n Dokter, wann i nix z’fress’n hab’. Und wia ’r erbärmli durtg’legen is. Koa Betreuung und gar nix. Sei’ Weib hat arbeiten müss’n, damit s’ nit alle zwoa verhungern. Sie is scho ganz außer sich g’we’n: ‹Um Gott’swill’n, bringt’s m’r nur mein Mann furt!› hat s’ allerweil g’schrian – ‹wann’s ’n nur ganz d’rschlag’n hätt’!› Das is wohl a recht a unchristliches Begehr, aber wer kunnt’s der armen Seel’ verdenk’n! Sie hat ’hm ja nit helf’n könna, und ’s Aerar hat nix than.»

«Schau’n S’, da hat si no koa Abgeordneter drum ang’numma. Bei uns stirbt ja der Mensch elendiger wia ’s Viech.»

Da ich ihn auf die sozialdemokratischen Abgeordneten vertröstete, meinte er: «Da san no’ z’weni. Wann die Partei groß wär’, dann möcht’n die Bauern von selber kumma. Aber so sagt uns der Pfarrer von der Kanzel, wen m’r wähl’n soll’n. Und dabei bleibt’s dann g’wöhnli. Der Pfarrer is a Obrigkeit, die höchste Behörde für’n Bauer, und da is’s halt für die Sozialdemokrat’n schwer.»

Am selben Tag noch kam ich in Altenmarkt an der Triesting bei dem Haus eines Abbrandlers vorüber. Es war ein Müller. In einer Julinacht war der Brand ausgebrochen, und ehe Hilfe zur Stelle war, brannte gerade die Mühlstube aus und der Stein barst. Heute hat er die Mühle schon wieder so ziemlich hergestellt, aber das Mühlzeug fehlt noch. Er wüßte, nicht unweit, ein altes, das kostet aber 400 Kronen, und ehe es sein reicher Besitzer billiger geben würde, läßt er es vermodern und anfaulen. Der Müller klagt mir dies vielleicht in der unbestimmten Hoffnung auf Hilfe. Der andere hat sieben Häuser, erzählt er und schließt resignirt: «Aber a Reicher hilft ja den Armen net.» Dann führt er mich in den Dachraum neben der Mühle, den er zu einer Sommerwohnung hergerichtet hat. Ein sechs Meter tiefer Hauptraum und nur ein kleines Fenster; dieses nicht an der Längsfront. Rückwärts ist es finster. Wer soll da hineinziehen? Keiner, der etwas auf Gesundheit hält. Ringsum ist freilich prächtiger Wald, und das eine Fenster hat einen schroffzackigen Felsen zum Gegenüber – aber die Wohnung ist dumpf und die Luft hat keinen Abzug. Direkt ins Freie mündend, wäre nur an der schiefen Dachwand Oberlicht anzubringen. Trotz dieser Mängel hofft er auf Sommergäste im nächsten Jahr. Wenn’s ihm glückt! Der arme Mann hat sechs Kinder. Die Vermiethung dieser Sommerwohnung ist auch ihre Hoffnung.

Ein zweites, zur Mühle gehöriges Haus blieb vom Feuer verschont. Hier hat ein Schuster seine Werkstatt. Der rückwärtige, der Straße abgekehrte Theil dieses Hauses ist in die ziemlich steil ansteigende Wiese derart hineingebaut, daß die Dachbodenthür mit dem Wiesenboden in gleicher Höhe ist. Ueber diesen Hügel führt mein Weg. Es beginnt schon zu dunkeln, als ich ans Weiterlaufen denke. Die Dachbodenthür ist offen. Auf dem Heu macht sich einer sein Bett zurecht. Das Heu ist bettartig gepreßt, und darüber spreitet er nun einige Säcke aus gröbster Leinwand, einen alten Winterrock und Fetzenwerk. Darauf legt er sich. Es ist der Geselle des Schusters. Er lebt mit seinem Meister noch in dem alten patriarchalischen Verhältniß: Sieben Kronen Wochenlohn, die Kost und – dieses Bett unter dem Dach sind seine Bezüge. Bis zum Lichtbratlmontag, das heißt bis Michaeli will er bleiben. Wenn aber dann der Arbeitstag bei angezündeter Lampe bis in die Nacht ausgedehnt wird, dann will er nicht mehr in dem patriarchalischen Verhältniß bleiben, und wenn ihm die Frau Meisterin beim Lichtanzünden auch täglich ein Bratl hinstellen würde, wie es am Lichtbratlmontag seit altersher der Brauch ist. Da packt er dann sein Ränzl auf und wandert nach Baden, wo er den Winter über Arbeit findet. Dort ist er per Stück gezahlt, aber er sieht sich auch nicht besser draus. Mehr als vierzehn bis sechzehn Kronen ist in der Woche nicht zu verdienen.

Recht armselig geht es dem Arbeitsmenschen im Wienerwald, wenn er das Unglück hat, alt zu werden. Ins Wirtshaus neben der Kirche am Hafnerberg kommt so ein Alter. Er hat jetzt noch gute Zeit und ist recht fidel, als er seinen Schnaps begehrt und sich zum Tisch setzt. Er trinkt elenden Fusel, das Achtel um acht Heller. Im Winter versauert er im Armenhaus, kommt aber der Sommer, dann will er von der öffentlichen Versorgung nichts wissen und er geht wieder auf Arbeit aus. Er findet schon irgendeine verhältnißmäßig leichte Arbeit. Sein gegenwärtiges Amt ist «Streurecha». Der Bäcker von Altenmarkt hat Vieh und braucht Streu. Diese holt der Alte aus dem Wald. Hoch hinauf auf den Berg kraxelt er und putzt den Wald aus. «Es is a gar a noblich’s Haus, das beste von Altenmark,» erzählt er. «Alle Tag fufz’g Kreuzer und die Kost, a guate Kost. Alle Tag Fleisch, aber erscht auf d’ Nacht. Z’ Mittag bring’n s’ uns ’n Sterz auffi, aber auf d’ Nacht gibt’s Fleisch und Knödl.» Er schnalzt mit der Zunge... alle Tag... dann stiert er wieder auf das Achtelliterfläschchen, das vor ihm steht.

Eine merkwürdige Figur ist der Alte, der ringsum in den Dörfern als der Maler bekannt ist. Den «Vogelkorb» am Rücken, wandert der Siebziger von Dorf zu Dorf, von Bauer zu Bauer und bietet ihnen seine Kunst an. Er malt ihnen auf die Hauswände den «heiligen Florian» und nebenhin das brennende Haus und darunter die Fürbitt’ in schönen, großen blauen Buchstaben: Heiliger Florian, bitt’ für uns! Oder er zeichnet auf die Thüren das dreifache Heiligkreuzl K + M + B +, oder aber er bringt irgendeinen Segensspruch oder gar ein philosophisches G’setzl in blauer Farbe auf die Hauswand. So las ich eines Tages:

 

Disses Haus gehört mein und doch nicht mein
Mein Vorfahr war auch d’rein,
Und jetzt gehört es doch nicht sein.

Damit ist der Gedanke von dem ewigen Werden und Vergehen geradezu klassisch ausgedrückt. Der Alte malt alles, was man will, und nimmt alles, was man gibt. Er hat keine festen Preise, keinen Tarif. Auch gegen Kost verkauft er seine Kunst. Er ist überall wohlgelitten und jederzeit zu Spaß aufgelegt. Ob sie ihm etwas aufs Kreuzl malen werden, wenn er heute einmal in die Grube gesenkt wird? Vielleicht hat er es sich schon selbst bemalt und auf die Blechplatte einen Vers geschrieben in der niederösterreichischen Marterlpoesie:

 

Der hier ruht, ging stets überland,
Als Maler war er überall bekannt,
Er malte Sprüche auf die Häuser,
Er diente einstens auch dem Kaiser,
In hohem Alter sank er hin –
Halt, Wanderer! Bitt’ für ihn!

Max Winter.

 

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