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Max Winter

Im «Purzlinerlandl»

Arbeiter-Zeitung1) Nr. 357 vom 29. 12. 1901

Vor mir auf dem Schreibtisch steht eine kleine Porzellanvase. Sie ist kaum mehr als einen Dezimeter hoch. Aus der Kleeblattform des Bodens steigen drei glatte Wände auf, die stumpfe Kanten zum Gefäß vereinigen. Die Wandflächen sind in helles Rothbraun getaucht, von dem sich ein Maiglöckchenornament lieblich abhebt. Die Ränder zeigen Goldlinien. Ein Kunstwerk im kleinen, anspruchslos und bescheiden wie die Blüthen, die zum Ornament gedient haben, und auch so schön wie diese – ist es ein Produkt der nordwestböhmischen Porzellanindustrie, deren Schilderung die folgenden Blätter dienen sollen.

Wohl die wenigsten Menschen geben sich Rechenschaft über die Dinge, die sie täglich umgeben. Sie sind groß geworden mit ihnen, und hat die Wißbegierde des Kindes nichts über ihre Herkunft, über ihre Entstehung, über ihr Werden erfragt und erfahren – im späteren Leben bleibt ihnen kaum noch Zeit, sich über so manches zu unterrichten, was sie von je umgab. Nur die neuen Erscheinungen auf den verschiedenen Gebieten menschlichen Schaffens erregen unser Interesse, von ihnen suchen wir ein Bild zu gewinnen, für sie suchen wir uns eine Erklärung.

Auch die Porzellanvase ist so ein Ding, das mit uns alt wird, ohne daß viele von uns sich je fragen: Wie bist du geworden? Aus welchen Stoffen und mit welchen Mitteln bist du geformt? Wer gab dir die Form, wer die Dekoration? Sind es Künstler oder Handwerker, die dich schaffen? Unter welchen Bedingungen schaffen sie? So geht es uns mit den Schalen, den Schüsseln und Tellern, mit den Prunkgefäßen und den Töpfen, mit den Kannen und Tassen, mit den Isolatoren auf den Telegraphensäulen, mit den Beleuchtungs- und Wasserleitungsgegenständen aus Porzellan und den Waschbecken und Krügen, und was sonst noch aus der Masse geformt wird, deren Hauptbestandteil die weiche weiße Erde, das Kaolin ist. Man nimmt es hin als etwas Bestehendes, bedient sich der Gefäße, freut sich der kunstvollen Dekoration, der Farben und Formen, aber selten kommt Einer über das ästhetische Behagen hinaus und dringt tiefer ein. Dennoch gibt es auch in der Porzellanindustrie, wie in jeder Industrie, eine Menge zu beobachten, zu schauen, was über das spezielle Interesse der Brancheangehörigen, der Arbeiter aller Kategorien und der Unternehmer hinausgehend, allgemein interessant ist.

Die Porzellanindustrie ist an Oertlichkeiten gebunden. Nur dort, wo die Erde das Kaolin, das Zersetzungsprodukt des Feldspates, birgt, nur in der Nähe solcher Lager gedeiht auch die Industrie. In Oesterreich befinden sich größere Kaolinlager nur in Böhmen, in der Umgebung von Karlsbad und Teplitz, und in Mähren. Diese werden denn auch tüchtig ausgebeutet, und nicht mit Unrecht kann man den Landstrich um Karlsbad das «Purzlinerlandl» nennen, sind dort doch fast in jedem Orte Porzellanfabriken, Kaolingruben oder Schlemmwerke. Durch diese Heimstätten des vielbegehrten böhmischen Porzellans wollen wir einen Spaziergang machen.

In der weltberühmten Kurstadt Karlsbad laufen die Straßen zusammen, die wir wandern müssen, um in die oft schmutzigen, freudlosen Dörfer und Städte zu gelangen, in denen die Purzliner daheim sind.

Im Nordwesten, anstoßend an Karlsbad, das vernachlässigte Fischern und damit fast verbunden das schmutzige Altrohlau, im Westen Maierhöfen, Aich und das düstere Chodau, über dem jahraus jahrein Rauchschwaden lagern, im Südwesten Elbogen, das prächtige Egerstädtchen, das eine rühmenswerthe Ausnahme bildet, und hier einmündend das gleichfalls landschaftlich schöne Zechthal mit der berüchtigten Bude in Zeche, der Fabrik in Schlaggenwald und den Malereibetrieben in Schönfeld, im Süden Pirkenhammer, im Osten Klösterle, im Nordosten Schlackenwerth und im Norden Dallwitz, Lessau, Zettlitz, Ottowitz, Sodau und die einsame Idylle Merkelsgrün am Fuße des Erzgebirges.

In allen diesen Orten finden wir die Porzellanarbeiter in ihrer Thätigkeit oder, wie in Ottowitz und Zettlitz, die Bergleute, die die schmutzigweiße Porzellanerde zu Tage fördern, oder aber wir sehen, wie in Sodau, dem Leben und Treiben in einem Schlemmwerk zu, in dem die Porzellanmasse erzeugt wird. Und auf den Wanderungen von Ort zu Ort kommen wir an den vielen Kohlenschächten vorüber, an umzäunten alten Verbrüchen, an Gruben, die obertags ausgebeutet wurden und nun verlassen stehen – alles Zeugen der Reichthümer, die die Erde in ihrem Schoße birgt, Zeugen zugleich dafür, unter welch günstigen Vorbedingungen die nordwestböhmische Porzellanindustrie produzirt. Der vorgeschrittene Industrielle baut sich selbst seine Kohle ab, holt sich selbst das Kaolin aus der Tiefe, hat seine eigenen Schlemmwerke und verarbeitet dann die gewonnene Masse in den eigenen Fabriken. Nur die Flußmittel für die Masse Feldspat und Quarz muß er aus Schweden und Bayern beziehen, weil das im Lande gefundene Produkt für die Zwecke der Porzellanindustrie zu unrein ist. Dennoch klagen die Unternehmer, daß die Industrie nicht konkurrenzfähig ist, und mit Recht die Arbeiter über gedrückte Löhne, über Mangel an hygienischen Schutzvorkehrungen und über die immer wachsende Verdrängung der Männerarbeit mit ihrer schädigenden Gefolgschaft: Lohndruck.

Allen diesen Erscheinungen wollen wir nachgehen. Sie haben zum großen Theil ihre Ursache darin, daß die Industrie seit einem Jahrzehnt etwa in einem chemisch-technischen Umwälzungsprozeß begriffen ist. So können zum Beispiel heute, dank der Verwendung der Gipsgußformen und der Porzellangußmasse, auch große Gegenstände ohne Aufwand besonderer Kraft und von ungelernten Arbeitern hergestellt werden, und die Erfindung des Buntdrucks – Abzugbilder auf Porzellan – macht einen großen Theil der Maler überflüssig. Was früher der Dreher in mühevoller, peinlich genauer Arbeit fertigstellen mußte, was seine Kunst war, heute besorgen es Frauen, die die Form vollgießen und sie auseinandernehmen, wenn sich dadurch, daß der Gips das Wasser aufsaugt, der Scherben gebildet hat und sie die überschüssige Masse abgegossen haben. Was früher die Kunst des Malers war, heute ist es kaum mehr als ermüdende Handfertigkeit, zu der sich Frauen sogar besser eignen, weil ihre zarteren Hände mehr Geschick haben. So hat die Frau im letzten Jahrzehnt einen Eroberungszug in diese Industrie gemacht, auf dem ihr freilich die Industriellen die Wege ebneten; sind diese es doch, denen in erster Linie die Verbilligung der Arbeitskräfte zugute kommt. Das aber bedeutet die Begünstigung der Frauenarbeit auch in der Porzellanindustrie.

Ein Ende dieser technischen Revolution ist vorläufig nicht abzusehen, fast jeder Tag bringt neue Erfindungen, deren reicher Segen zunächst dem Kapitalismus in den Schoß fällt, weil sie ihm Arbeitskräfte ersparen, und Tag um Tag sind die Modelleure in den Fabriken thätig, um neue Gußformen zu ersinnen, um das theurere Drehen durch das billige Gießen zu ersetzen. Schon wird in der Knollschen Fabrik in Fischern eine englische Erfindung, der Aerograph, verwendet, ein Apparat für Porzellan- und Steingutmalerei, der flüssige Farben mittelst Preßluft verstäubt und das sogenannte »Stupfen» viel rascher und gleichmäßiger bewerkstelligt als der Maler oder das Malermädchen, das dazu einen Wollstöpsel verwendet, den sie immer wieder in die Farbe tauchen muß. Die «Viktoria» in Altrohlau wieder hat sich einen eisernen Becherdreher engagirt, der mit einem bischen Oel als Nahrung zufrieden ist und die Arbeit von Sechsen leistet, und zwar dadurch leistet, daß er gleichmäßig, wie von einem Uhrwerk geleitet, abwechselnd seine beiden Schablonenarme in den inzwischen vorgeformten «Hubel» senkt und dadurch der menschlichen Maschine, die ihn bedient, zum stummen Antreiber wird, zum Antreiber, der keine Klage hört, keinen Seufzer vernimmt, zum Antreiber, den nicht einmal eigene Müdigkeit dazu bestimmen kann, die Peitsche sinken zu lassen. Der eiserne Arbeiter geht seinen Uhrwerkstrott fort, und die menschliche Maschine muß mit.

Dieser ganzen Revolution steht die Arbeiterschaft eigentlich ungewappnet gegenüber. Erst seit einem Jahre geht sie daran, die fast überall bestehenden Organisationsansätze auszubauen. Zwei unglückliche Streiks, der heldenmüthige Ausstand von Dallwitz und der Streik von Aich, und der darauffolgende Konkurs der Aicher Fabrik haben das vor und während dieser Streiks von allen Arbeitern bewiesene Solidaritätsbewußtsein zerstört, sie haben aus dem «einig Volk von Brüdern» ein Volk von Mißtrauischen gemacht, und an Stelle des früher überquellenden Machtbewußtseins trat nun ebenso schädliche Zaghaftigkeit. Beim Dallwitzer Streik wurde alles auf eine Karte gesetzt, es war kein Kampf, kein Feldzug gegen den Kapitalismus, es war Va banque-Spiel, bei dem nicht der Verstand, sondern die Hoffnung auf Gewinn, auf Sieg führte. «Wenn der Streik verloren geht, ist alles verloren.» Das war die anfeuernde und später auch enthmutigende Parole – der Streik ging nicht ganz verloren, aber fast ganz in Brüche ging die früher so festgefügte Organisation. Die Ortsgruppe sank von einem Mitgliederstand von 420 auf 26 Mitglieder herab. Dieses böse Beispiel wirkte auch auf die übrigen Ortsgruppen, und so fand eine Zeit die Arbeiter in Zerrissenheit, Zerfahrenheit, Uneinigkeit und Rathlosigkeit, in der nur eine festgefügte, eiserne Organisation bestimmenden Einfluß auf das Fortschreiten der technischen Revolution in der Industrie hätte nehmen können.

Mühsam muß heute wieder aufgebaut werden, was nach 1897 zerstört wurde. Es ist eine harte, eine furchtbare Arbeit. Möge sie auch fruchtbar sein. Die Erkenntniß der eigenen Lage, der Lage der Industrie, die Erkenntniß der eigenen Fehler und der Fehler, deren sich das Unternehmerthum schuldig macht, diese Erkenntniß muß die Grundlage des neuen Baues sein.

 

1) Wir entnehmen diese Skizze dem Buche Max Winters: «Im Purzlinerland. Eine Studie über das Leben der nordwestböhmischen Porzellanarbeiter». zurück

 

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