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Max Winter

Bauet Obdachlosenasyle!

Noch eine Nacht im Ringofen

Arbeiter-Zeitung Nr. 354 vom 25. 12. 1901

In dem vorigen Artikel versuchte ich die erschütternden Eindrücke wiederzugeben, die ich bei meinem ersten Besuch im «Simmeringer Ring» empfangen hatte. Sonst, wenn ich mir eine solche Sache von der Seele geschrieben habe, weicht die Spannung. Diesmal zitterten die mir unvergeßlichen Eindrücke noch zehn Tage später so stark in mir nach, daß es mir nicht genügte, das erbärmliche Los der Wiener Obdachlosen in einem Artikel aufgezeigt zu haben. Ich beschloß, einen Schritt weiter zu gehen und nicht nur in die Zeitung, sondern auch in die Akten ein Bild von dem Hundeleben der Ausgestoßenen zu zeichnen. «Was nicht in den Akten ist, das ist nicht in der Welt,» sagt ein lateinisches Sprichwort. Dieses Wort, das namentlich auf österreichische Verhältnisse so gut paßt, als ob sein Erfinder das Oesterreich von heute vorgeahnt hätte, fiel mir zur rechten Zeit ein. Nach meinen Brigittenauer Erfahrungen konnte ich annehmen, daß die Polizei sofort nach dem Erscheinen des Artikels eine der so beliebten Streifungen anordnen werde, um wenigstens dem Minister, wenn schon nicht der Oeffentlichkeit ein allerdings verzerrtes Bild von diesem grauenhaften Mißstande zu geben. Daß dieses Bild der Wahrheit entsprechen sollte, dafür wollte ich sorgen. Im Ministerrapport der Polizeidirektion sollte diesmal wenigstens die volle, ungeschminkte Wahrheit zu lesen sein. Dies waren meine Beweggründe, daß ich mich am Tage des Erscheinens des letzten Artikels aufmachte, um Zeuge des weiteren Schicksals der Obdachlosen zu sein. Ein Parteifreund, Genosse Johann Pölzer, begleitete mich. Ich bedurfte unter Umständen eines Zeugen, und darum war es mir sehr angenehm, daß Genosse Pölzer meine Einladung annahm.

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Auf dem Marsch. Einem herrlichen Tag, erfüllt vom frühlingswarmen Sonnenschein, folgte ein heller Abend. Nach zehn Uhr machten wir uns auf die Wanderung nach dem Ringofen der Firma Löwy am Laaerberg. Wir sind unser Sechs. Vier «Bettgeher» und wir zwei. Wieder stapfen wir über die Felder und der Aspangbahn entlang bis zur Station Simmering und dann hinauf auf den Berg. Unsere Karawane ist mittlerweile zehn Köpfe hoch. Wir sind langsam gegangen und haben Nachschub bekommen. Ein «Bettgeher,» ein noch junger Bursche, wollte eilig an uns vorüber. «Was schiabst denn so? Hast ka Spiersechserl für ’n Ring?» So ruft ihn der «Rudl», der heute den Wegweiser macht, an. Der Angerufene schenkt ihm aber kein Gehör und läuft weiter. Andere Nachzügler sind weniger spröde – einer namentlich schließt sich sofort an mich an, nachdem mich einer der Vier ihm mit den Worten vorgestellt hat: «Waßt, dös is der Herr, der was dös heut ins ‹Leserl1)› einidruckt hat.» – «Sö san der Herr Max Winter?» – «Ja.» Und nun entwickle ich ihm und den anderen meinen Plan. Da für heute Nacht die «Schmier» zu hoffen sei, ginge ich mit hinauf und ich wollte mich zusammen mit allen Obdachlosen «verschütten» lassen. Um dies zu erreichen, sollten alle, die von einem Zusammentreffen mit der Polizei nichts zu fürchten hätten, von der Polizei verlangen, auch mitgenommen zu werden, damit die Polizeibehörde einmal wenigstens sehe, wie viele Menschen des Obdachs entbehren und es auf diese Weise auch dem Wiener Magistrat offenkundig werde, daß er seine Pflicht gegenüber der Masse der Obdachlosen endlich erfüllen und Unterkunftshäuser für die Obdachlosen bauen müsse. Dazu die Ringbewohner zu bewegen, sollten sie mir helfen.

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Der «Schamster-Diener-Karl». Meine Begleiter erklären sich damit einverstanden und bringen sogar eine gewisse Begeisterung auf. Jeder einzelne verspricht, nach Kräften an der Verwirklichung meines Planes mitzuarbeiten. So kommen wir, Pläne schmiedend, bis zur letzten Wegkrümmung. Der Fußweg läuft jetzt in einem Graben. An der einen Lehne des Grabens hocken zwei Elendsgestalten. Die eine erhebt sich unsicher, da wir vorbeikommen. «Serwas, ‹Schamster-Diener2)-Karl›! Was is ’s denn mit euch? Wem hast denn da?» So fragen ihn meine Begleiter. – «Den ‹Tischler›. Geht’s helfts m’r! Weiter bring’ i ’n net. Bis daher hab’ i ’n ’zaht.» – «No der hat urnd’tli auf.» Mit diesen Worten tritt der «Rudl» an den Betrunkenen heran und reißt ihn auf. «Kumm, Tischler, da kannst net lieg’n bleib’n!» Der «Rudl» und ein zweiter fassen ihn unter und schleppen ihn fort. Mechanisch machen die Füße des Trunkenen den Gehtrott mit. Da es aber bergauf geht, versagen sie plötzlich den Dienst, und die beiden schleifen ihn ein Stück, bis sich der «Rudl» zu einem Radikalmittel entschließt. Er nimmt den Volltrunkenen auf seinen breiten Rücken und trägt ihn das letzte Stück hinauf. Wir anderen keuchen hinterdrein.

Der «Schamster-Diener-Karl» erzählt mir mittlerweile, wieso es dazu gekommen war: «An’ Kameraden därf m’r net verlass’n; was a Kamerad is – schamster Diener! –, der muaß a mit sein’ Kameraden theil’n. I hab’ heut a paar Netsch verdeant, und weil er nix hat, san m’r zum Branntweiner, und dann war’s Malheur firti – schamster Diener! Na ja, er hat nix, und so vertragt ’r a nix, und gess’n hat ’r a nix – schamster Diener! Und da war er um so ehender firti. Schamster Diener! A paar Liter Bier und hernachend a ‹Neunerpistol’n3)›, und er war firti. Firti war er – schamster Deaner, mir san Weaner.»

Auch dem «Schamster-Diener-Karl» fehlt nicht mehr viel. Ich habe meine liebe Noth mit ihm. Endlich sind wir aber doch auf dem Berge und dem ebenen Boden des Ziegelwerkes. Nun wendet sich wieder meine ganze Aufmerksamkeit der Ausführung meines Planes zu.

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Im Ringofen verbreitet sich bald die Kunde von meiner Anwesenheit. Beim Betreten ist der erste, den ich im flackernden Lichte der mitgebrachten Kerzen erkenne, der barmherzige Samariter «Rudl». Er hat seine Last glücklich vom Rücken, aber er hat den «Tischler» noch nicht dort, wo er ihn gerne haben möchte. Mit dem Gesicht im Staub des Bodens, alle Viere von sich gestreckt, so liegt der Volltrunkene da. Der Rudl ist bemüht, ihn vom «Störloch» weg wenigstens bis zu dem Sandhaufen zu schleppen, der links neben dem Eingang ist. «Geht’s, packts a paar an und legts ’n auf ’n Haufen!» Diese meine Mahnung wirkt. Sie tragen ihn zum Sandhaufen, wo sich eben einer sein «Bett» zurechtmacht, indem er in dem Bausand eine seinem Körper angepaßte Grube mit den Händen ausschaufelt. Noch ist der «Tischler» nicht auf seinem Platz, als auch schon von da und dort meine Freunde kommen. Zuerst der «Italiener», dann der «Kutscher», der «Kesselschmied», der «g’flickte Böhm» und wie sie alle heißen oder gerufen werden. Aus dem Hintergrund tauchen die Gestalten auf, aus den «Fuchsenlöchern» kriechen sie, und bald sind Genosse Pölzer und ich von einer Elendsschaar umringt, die uns freundlich begrüßt und unverhohlene Freude äußert, daß wir wieder in ihrer Mitte sind. Ich theile ihnen in Kürze meinen Plan mit und ermahne sie, sofort Posten aufzustellen. Der «Italiener», wie der ehemalige Realschüler mittlerweile umgetauft worden ist, übernimmt das Kommando und bestimmt die Posten. Wir schieben die Postenketten möglichst weit vor, um vor Ueberraschungen sicher zu sein, und dann gehe ich ans eigentliche Werk, an die Organisirung der Obdachlosen zur Durchführung meines Planes. Wir durchschreiten zuerst den linken Flügel des ellipsenförmigen Rundbaues. Wieder dasselbe Bild wie neulich. Längs der Mauer liegen die Ringbewohner Leib an Leib. Viele sind bereits wach und sitzen. Sie schließen sich unserem Zuge an. Am Ende des Flügels, dort wo eine lose gefügte, heiße Ziegelmauer die in Brand befindliche Kammer abschließt, machen wir Halt, und ich weihe nun die Ringbewohner in meinen Plan ein. «Seid ihr so einverstanden?» – «Alle!» tönt es mir im Chor zurück. – «Wer aber von der ‹Schmier› ’was zu fürchten hat, der soll nur ‹pallisiren›. Ich will es nicht auf mein Gewissen nehmen, daß sich auch nur Einer von euch sein Los verschlechtert.» – «Einverstanden!» ruft eine Stimme im Hintergrund. «Wir haben Posten aufgestellt, damit wir nicht überrascht werden. Es kann also jeder, der will, rechtzeitig abfahr’n!» – «Bravo!»

Dann gehe ich an die Zählung.

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Die Armee der Obdachlosen. Mein Zählsystem ist ein einfaches. Ich ziehe eine Schachtel Dramazigaretten aus dem Sack und beginne von Mann zu Mann gehend zu vertheilen. Jedem eine. Ist die Schachtel leer, dann ist das Hundert Obdachloser voll. Jedem eine, und es langt jeder dieser armen Teufel nach der Hellerzigarette... gierig viele, wie wenn ihnen ein auserlesener Genuß geboten würde. Aus den «Fuchslöchern» heraus kriechen sie um dieser einen Zigarette willen. Die Wärme des Ringofens beginnt mich bereits zu plagen. Mein Lodenmantel legt sich schwer auf die Schultern, und ich sehne mich schon nach Abkühlung. Mein Sehnen findet im rechten Flügel des Ofens ein Ende. Hier fröstelt es mich. Dieser Theil des Ofens ist zu weit entfernt von dem Herd der Wärme, als daß diese bis hieher dringen könnte. Dennoch liegen auch hier einige «Bettgeher»: der eine auf einem Sandhaufen, der andere auf dem Staubteppich des Bodens: beide mit aufgezogenen Knien, zusammengekauert und den zerfetzten Rock übergeworfen als Schutz und Decke. Wohin sie in ihrem Rausch gestolpert waren, dort blieben sie liegen. Jeder hat seinen «Taxameter», die Blechschale für die Klostersuppe, neben sich liegen, «Hanselspritzer», sagt einer meiner Begleiter. Ja, «Hanselspritzer», das sind sie, diese beiden Menschenklumpen, «Hanselspritzer», jene auf der tiefsten Stufe stehenden Alkoholiker, die sich nicht anders den Genuß eines Rausches beschaffen können, als indem sie mit ihren Blechschalen von Wirtshaus zu Wirtshaus gehen und aus den vor den Eingängen oder in den Fluren stehenden leeren Fässern den letzten Bierrest, den «Hansel», in ihre Schalen schütten. Diese Schale Bier ist ihr Lebensgenuß oder doch ihr Mittel, im Rausch das Elend zu vergessen und im Staub des Ringofens von dem weichen Pfühl zu träumen, auf dem auch sie vielleicht einmal gelegen. Diese beiden muß ich von der mechanischen Zählung ausschließen. Da versagt mein Apparat. Ich rüttle sie. Sie rühren sich aber nicht...

Auch ohne sie bin ich mit dem ersten Hundert bald fertig, und ehe ich am Ende dieses Flügels bin, habe ich von meiner Reserve schon 30 Stück weggegeben. Also hundertdreißig Obdachlose in diesem einen Unterschlupf allein?! Wie viele sind dann drüben am Wienerberg? Wie viele in Oberlaa, wie viele schlafen bei den Gärtnern in Simmering, in Erdberg, in der Brigittenau, wie viele in Breitensee und im Hernalser Ziegelwerk an der Grenze des Draschefeldes, wie viele endlich unter den unbenützten Stadtbahnbögen der Gürtelstraße entlang, die die inneren Stadtbezirke wie ein Ring umspannt, wie viele suchen und finden in den «Sandg’stetten», auf Lagerplätzen, in verlassenen Fischer- und Bauhütten Unterschlupf? Tausende von Elendsbürgern stehen wie aus der Erde gestampft vor mir, Tausende! Einige Regimenter Ausgeschlossener und Ausgestoßener! Wie, wenn sich dieser Elendshaufen einmal der auch in ihm schlummernden Kräfte bewußt wird? Was, wenn eine Epidemie diese Stadt heimsucht? Müssen sie nicht die todtbringenden Keime aus ihren Höhlen und Schlupfwinkeln in alle Gassen tragen? Und wenn beides nicht ist, wenn nur die Thatsache bleibt, daß die Millionenstadt einige Tausend Menschen in ihren Mauern hat, die Nacht um Nacht nicht wissen, wohin sie ihr Haupt legen sollen, wenn «nur» diese Thatsache bleibt, könnt ihr dann noch ruhig schlafen, ihr Väter und Verwalter dieser Stadt? Muß euch, sofern ihr noch Gewissen, sofern ihr noch Gefühl für Menschenwürde habt, muß euch da nicht das Grauen überkommen? Legt euch nur eine Nacht lang zwei Ziegelsteine unter den Kopf, zwei harte, eckige, rissige Ziegelsteine, und versucht dann zu schlafen auf diesem «Kissen» – in euer Hirn wird dann der Gedanke fahren, den euer Herz, euer Menschenempfinden nicht gebären konnte. Legt euch nur auf zwei harte, eckige, rissige Steine...

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Der Ringofen als Asyl unheilbarer Greise. Im rechten Flügel ganz hinten, ist ein Maurergerüst errichtet, ein «Trapez». Ueber einige meterhohe Böcke sind Bretter gelegt. Auf diesen stehend, bessern die Maurer untertags das Gewölbe aus. Nachtsüber ist auch das «Trapez» eine menschliche Liegerstatt. An dieses Gerüst gelehnt, erwartet uns ein Silberhaariger. «Den müass’n S’ Ihna anschau’n Herr Winter, den sein Fuaß... Zeig’ ’n her Brünner Franzl, dein Fuaß!» Der Alte, dessen Patriarchengesicht ein Einsiedlerbart umrahmt, bückt sich mühsam. Aechzend zieht er das Beinkleid des rechten Fußes hinauf. Schmierige Fetzen verhüllen das Bein vom Knöchel an bis gegen die Kniescheibe. Er löst den Verband. Eine gelbe, eiternde Wunde von der Größe einer Hand wird sichtbar. «Entsetzlich! Und mit dieser Wunde bleiben Sie hier? Warum suchen Sie kein Spital auf?» – «Weil s’ mi net nehma than. Sie sag’n, das is unheilbar, und i soll nach Korneuburg gehen.» Unheilbar! Und darum ist der Ringofen oben am Berge dein Asyl? Armer Alter! Weil du unheilbar bist, mußt du hier in Schmutz und Staub verrecken, elender zugrunde gehen als das Thier im Walde, dem seinesgleichen doch Hilfe bringt, dem seinesgleichen die Wunden leckt, und du, altes Menschenthier, bist erbarmungslos ausgestoßen! «Gebts nur Acht, daß kaner an mein’ Fuaß ankummts!» Damit humpelt der Alte ganz rückwärts in den Menschenstall. «Da leg’ di her!» sagt einer meiner Garde, «da kummt d’r kaner an.» Aechzend legt sich der Greis...

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Auf Wache! Es treibt mich hinaus. Zu viel ist in der letzten halben Stunde auf mich eingestürmt. Draußen in der Kühle der Nacht ordne ich mir die Eindrücke, während wir in der offenen Trockenhütte, die gegenüber dem «Störloch» des Ringofens liegt, spazieren gehen. So sind wir wenigstens unter Dach. Das anfangs so schöne Wetter hat sich gründlich geändert. Nebel ist eingefallen und nun beginnt das unangenehme naßkalte feine Regnen, das die Wiener mit dem Ausdruck «Nebelreißen» bezeichnen. Immer dichter lagert sich der Nebel über dem Berg. Die Lichter da drüben in Simmering senden nur umflorte Strahlenbündel aus, die wie rothgelb leuchtende Augen im Antlitz der Nacht sitzen. Pölzer und ich gehen die Posten kontroliren. Der Italiener ist ein braver Wachkommandant, ihm gesellt sich noch der «Burengeneral» bei, der, angethan mit einem russischen Phantasiekostüm, sich hieher nur verirrt zu haben scheint. Dennoch ist auch er bodenständig. Er ist ein «Praterbursch» und seine Uniform mit der Tellerhaube dankt er seinem letzten «Engagement» in einer Praterbude als «Rekommandeur», das heißt als Mensch, der durch sein «Herrreinspaziert! Herrreinspaziert, meine Herrschaften!» wohl schon manchen Praterbesucher in gelinde Verzweiflung versetzt haben mag. Er ist aber ein alter Haudegen, und das genirt ihn nicht, was die anderen von ihm gedacht haben mögen. Heute ist auch er ein Ringbewohner und hält treue Kameradschaft. Wir begleiten ihn auf einer Postenrunde und kehren dann wieder in den Ziegelofen zurück. Die naße Kälte hat uns bis aufs Bein ausgefroren, und auch wir suchen nun dankbar die Wärme.

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Eine Vorlesung im Ringofen. Im Ring bietet sich uns ein eigenartiges Bild dar. In der Mitte des linken Flügels staut sich ein Haufen Elendsgestalten, gespenstisch beleuchtet von dem Schein einer Kerze, die Einer in der Mitte hält. Mäuschenstill ist alles. Nur aus der Mitte des Haufens schlägt eine Stimme an mein Ohr: Die eintönige Stimme eines ungeübten Vorlesers. Der Schall trägt bekannte Sätze an mein Ohr: «In der ‹Volkswacht› und ‹Arbeiter-Zeitung› haben Sie alle Tage fast Artikel, die von der Arbeitslosigkeit erzählen. Wann sie ’s schwarz auf Weiß sieht, wird sie es schon glauben...» – «Das ist ja mein Artikel...», sage ich zu Freund Pölzer. Wir treten näher. Ein hagerer Proletarier steht in der Mitte des Haufens und liest aus der «Arbeiter-Zeitung» den Artikel über meinen ersten Besuch im Ringofen vor. Eine Sekunde lang überkommt es mich wie Stolz, dann aber löst sich ein Gefühl reiner Freude aus, und in diesem Gefühl lange ich nach dem Blatt: «Gebts her, Kinder, i wer’ euch weiter vorlesen, wann’s euch recht is!» – «Bravo! Bravo! Und schon stehe ich am Platz des Vorlesers und lese und lese, arbeite die Pointen heraus und die feinen Dialektunterschiede, die man schwer schreiben, die aber der Zunge des Erdberger Kindes geläufig sind. Gespannt lauscht die Elendsschaar. Ich bin überglücklich und lese und lese, trotzdem mir kein Pult zur Verfügung steht, kein anderes Licht als die flackernde Helle der Kerze, deren Rauch mir ebenso in die Nase steigt wie der widrige Geruch von Insektenpulver. Ich lese und bin glücklich in dieser Schaar so viel Verständniß zu finden. Selbst dem «Schamster-Diener-Karl» bin ich nicht gram, trotzdem er jede Pointe und jede Kraftstelle mit seinem Leibsprüchl: «Schamster-Diener» als Zwischenruf begleitet. Und da ich fertig bin, ernte ich die einfache Anerkennung einfacher Menschen – einige Händedrücke.

Die Vorlesung im Ringofen wird zeitlebens zu meinen schönsten Erinnerungen zählen.

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Die Polizei und die Obdachlosigkeit. Die Polizei ist der Obdachlosigkeit gegenüber machtlos. Sie kann keine Asyle bauen, sie kann nur zur – Beruhigung der Satten die Hungrigen und Obdachlosen von Zeit zu Zeit beunruhigen. Aber auch unter den Polizisten gibt es ja fühlende Menschen, denen das Elend dieser Schaaren nicht ganz gleichgiltig ist. Der alte Inspektor zum Beispiel, der gewöhnlich die Streifungen im «Simmeringer Ring» kommandirt, wird von den Obdachlosen als humaner Mann geschildert, der jede überflüssige Härte vermeidet. Von einem anderen Inspektor wird mir eine gar merkwürdige Geschichte erzählt. Er ist an der Wiener Grenze bei Inzersdorf stationiert. Auch dort ist ja das «Daheim» einiger hundert Obdachloser. Einer von diesen erzählt mir, daß heuer im November, da die Nachtfröste immer grimmiger wurden und den Obdachlosen dennoch die warmen Ringöfen verschlossen blieben, ein Polizist es war, der sich der frierenden Gesellschaft annahm. Die Werksleitung hatte den Auftrag gegeben, alle «Ringe» zu vermauern. Da erwirkte der dort stationirte Inspektor, daß wenigstens einer geöffnet bleibe. Dieser eine, der «Sechzehner Ring», ist seither dort der Unterschlupf der Obdachlosen.

So sucht ein untergeordneter Polizeibeamter in seinem Kreis sozial helfend einzugreifen, wo die dazu Berufenen, die Verwaltung dieser Stadt, ihre Pflicht gröblich vernachlässigen.

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Die Polizei kommt nicht zu uns! Wieder pendeln wir eine Stunde lang – so lang schien es mir wenigstens – in der Trockenhütte auf und ab. Immer kühler, immer unfreundlicher wird die Nacht. Posten um Posten wird abgelöst. Die armen Teufel stehen umsonst. Von der Polizei ist keine Spur. Die Sachkundigen haben die Hoffnung schon längst aufgegeben. «Jetzt kummt s’ nimmer,» sagt auch der Burengeneral, und der brave «Italiener» stößt in das gleiche Horn. Ich überlege. Wie wär’s wenn ich eine Abordnung aus dem Ringofen der Polizei vorführen würde? Rasch ist der Plan fertig. Kommst du nicht zu uns, kommen wir zu dir und verlangen Abhilfe. Der Italiener ist dagegen: «Es san eh’ scho’ zwa Partei’n. Da werden s’ gar mißtrauisch werden. Thuan S’ das net!» – «Ja, lieber Freund, jede G’schicht’ muß an Anfang hab’n, aber a a End’. Das is a halbe G’schicht bisher. Ich werde auf der Polizei angeben, wie viel Obdachlose heroben sind, und werde verlangen, daß dem Ministerium des Innern, der Statthalterei und dem Magistrat diese Anzeige mit der Aufforderung, Abhilfe zu schaffen, amtlich übergeben wird, ich wer’ verlangen, daß die Kommune Obdachlosenasyle bauen soll und daß die Polizei allen Blättern mittheilen laßt, wie viele Obdachlose sie auf ihren Streifungen findet. Wenn der Skandal einmal offenkundig ist, dann müssen die Herren im Rathhaus bau’n, ob sie g’rad woll’n oder net.» Dies leuchtet auch dem Warner ein; immerhin mahnt er mich nochmals zur Vorsicht.

Vorerst zählen wir nochmals die Schläfer ab. Hundertvierzig Mann ruhen in dem Ringofen! Diese Riesenziffer bestärkt mich in meinem Plan, und bald habe ich die Häupter um mich zum «Kriegsrath» versammelt. Nach einigem Für und Wider sind sie mit meinem Plan einverstanden und akzeptiren zwei seit Oktober arbeitslose Metallarbeiter, zwei Opfer der Krise, die sich beide mit langjährigen und schönen Zeugnissen ausweisen können, als meine Begleiter.

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Wir gehen zur Polizei! Einige Freunde geben uns das Geleite, und dann wandern wir – vier Mann hoch – allein fort. Das Kommissariat Simmering befindet sich etwa zwanzig Minuten vom Ringofen entfernt, in der Dorfgasse. Dorthin gehen wir. Der wachhabende Wachmann führt uns sofort zum Kommissär hinauf, der seine Nachtruhe in dem Verschlag neben der Amtsstube aufgeben muß. Ich bringe meine Anzeige vor. Der Kommissär will nicht recht anbeißen. Er wittert hinter dieser Demonstration für die Menschlichkeit eine politische Demonstration. Da werden wir zum Polizeibezirksleiter, Polizeirath Rathay, gerufen, der nach Anhörung meiner Anzeige die Aufnahme eines Protokolls verfügt. Was wir oben besprochen hatten, kommt ins Protokoll, und dazu eine gedrängte Schilderung des Elends der Obdachlosen. Unter das «Vorgelesen und gefertigt» setzen Pölzer und ich unsere Namen.

Der Kommissär befragt dann noch die beiden Obdachlosen um ihr Schicksal und erfährt aus ihrem Munde, wie tapfer sie sich bisher durchgeschlagen haben, und wie doch alles nichts nützte. Was sie nicht selber sagen, sagt ihre Kleidung. Der eine, ein hochstämmiger junger Mährer von Schlesiens Grenze, ein Schlosser, hat nur mehr sein Hemd am Leib und darüber einen dünnen Sommerrock. Alles andere hat er schon – gegessen. Und der andere, der am Mittag bei der Weihnachtsbetheilung in der Wärmestube ein Hemd erbeten hatte, um sich vor dem Ungeziefer schützen zu können, hatte ein weißes Piquetgilet, das vor ihm ein Selcher von doppeltem Leibesumfang getragen haben mußte, erhalten. Welcher bürgerliche «Wohlthäter» kann es diesem armen Teufel verdenken, daß er dieses Gilet sofort an einen Friseur um 40 Heller verkaufte? Dafür bekam er wenigstens etwas in den Leib, wenn schon nichts an den Leib. Auch diese Geschichte erfährt der Kommissär, der bestätigend resumirt: «Ja, es ist schrecklich heuer... Die Krise – und der Schnee fehlt halt.»

Der Herr Bürgermeister hat das Wort!

 

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3) In Branntweinschänken gangbare Bezeichnung für eine Flasche Fusel von zirka 4 Zentiliter Inhalt. Preis 9 kr. zurück

 

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